Perspektive

Die Hinrichtung von Sonya Massey: Polizeigewalt in den USA geht unvermindert weiter

In den frühen Morgenstunden des 6. Juli wurde Sonya Massey, eine 36-jährige schwarze Frau, in ihrem Haus in Springfield, Illinois, von der Polizei erschossen. Das belegen Bodycam-Aufnahmen, die am Montag veröffentlicht wurden. Der brutale Mord hat in der Bevölkerung Schock und Wut ausgelöst. Erneut fordern viele ein Ende des Polizeiterrors in den USA.

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Massey hatte die Polizei angerufen, um einen mutmaßlichen Eindringling zu melden, der sich vor ihrem Haus aufhielt. Sie hoffte, dass die Polizisten ihr helfen und die Gegend absichern würden. Wie das Video zeigt, betraten stattdessen zwei Polizisten ihr Haus und ermordeten sie kaltblütig. Nach einer kurzen Interaktion gab der stellvertretende Sheriff von Sangamon County, Sean Grayson, die Schüsse ab.

Massey war unbewaffnet und verhielt sich während des gesamten Vorgangs ruhig. Als sie auf Anweisung der Polizei einen Topf mit kochendem Wasser von ihrem Herd nahm, sagte sie „Ich werde Sie im Namen Jesu rügen“. Damit reagierte sie auf die Aussage des Polizisten Grayson, das Wasser würde angeblich eine Bedrohung darstellen, was sie als Scherz verstand. Doch Grayson reagierte aggressiv und erklärte, er werde in ihr „verdammtes Gesicht“ schießen.

Massey entschuldigte sich und kauerte hinter ihrem Küchentisch, als der Polizist dreimal auf sie einschoss, davon einmal ins Gesicht. Während sie sterbend auf dem Küchenboden lag, wies Grayson seinen Kollegen an, sich nicht um Erste Hilfe zu kümmern, da er einen Kopfschuss abgegeben habe. Der noch immer nicht identifizierte Hilfssheriff leistete schließlich Hilfe und Massey wurde in ein Krankenhaus gebracht, wo sie für tot erklärt wurde.

Masseys ehemaliger Lebensgefährte und Vater eines ihrer Kinder berichtet, dass die Polizei ihm zunächst sagte, ein Nachbar habe sie getötet, während sie dem Personal im Krankenhaus erklärt habe, sie habe Selbstmord begangen. Audioaufnahmen, die der Guardian erhalten hat, bestätigen, dass eine Person – wahrscheinlich einer der beteiligten Polizisten – einem Mitarbeiter des Rettungsdiensts fälschlicherweise sagte, Massey habe sich die Wunden „selbst zugefügt“.

Grayson wurde von der lokalen Polizeibehörde entlassen und am 17. Juli von einem Geschworenengericht in fünf Punkten angeklagt: dreimal wegen Mordes ersten Grades, einmal wegen schwerer Körperverletzung mit einer Schusswaffe und einmal wegen Amtsmissbrauchs. Er sitzt derzeit im Gefängnis von Sangamon County und wartet auf seinen Prozess. Ob auch gegen seinen Kollegen Anklage erhoben wird, ist noch nicht bekannt.

Die Bodycam-Aufnahme der Polizei von Illinois zeigt, wie der Polizist Sean Grayson am 6. Juli 2024 auf Sonya Massey zielt, die den Notruf gewählt hatte [AP Photo/Illinois State Police]

Die Staatsanwaltschaft erhebt nur äußerst selten Anklage gegen einen Polizisten, der einen Mord begangen hat. Etwa 98 Prozent werden nie strafrechtlich belangt. Viele kommen davon, ohne dass es auch nur eine Disziplinarmaßnahme durch die Dienststellen gibt. Die herrschende Klasse ist extrem nervös und befürchtet, dass der Mord an Massey eine erneute Protestwelle auslösen könnte – und das inmitten einer schweren politischen Krise in Amerika weniger als vier Monate vor den Wahlen im November. Vor vier Jahren hatte der Polizeimord an George Floyd in Minneapolis zu landesweiten Protesten und einer Massenbewegung gegen Polizeigewalt und soziale Ungleichheit geführt.

Während der knapp vierjährigen Amtszeit der Demokraten unter Präsident Joe Biden hat die Polizeigewalt nicht abgenommen. Dass Kamala Harris als erste schwarze Frau mit asiatischem Hintergrund Vizepräsidentin wurde, sollte Illusionen unter den Teilnehmern der Floyd-Proteste schüren. Doch die Finanzmittel für die Militarisierung der Polizei wurden sogar noch erhöht.

Laut Mapping Police Violence wurden in den USA in diesem Jahr bis zum 9. Juli mindestens 722 Menschen getötet, also im Schnitt fast vier am Tag. In den letzten zehn Jahren waren es pro Jahr mehr als 1.000 Polizeiopfer, mit steigender Tendenz. 2024 könnte das tödlichste Jahr aller Zeiten werden.

Kamala Harris, die voraussichtliche Präsidentschaftskandidatin der Demokraten nach Bidens Rücktritt, reagierte auf das Video von Masseys Ermordung mit Heuchelei. Sie äußerte ihr Mitgefühl für Masseys Familie und begrüßte die Anklage gegen Grayson. Die Demokraten promoten Harris als „Top-Cop“ in Kalifornien, wo sie sechs Jahre lang Staatsanwältin in der Bay Area und dann Generalstaatsanwältin war. Diese Erfahrung wird jetzt als wichtigste Qualifikation im Wahlkampf gegen Donald Trump dargestellt, der im Mai wegen 34 Straftaten verurteilt wurde.

Harris erklärte:

Unsere Gedanken sind auch bei den Menschen in unserem Land, deren Hilferufe oft mit Argwohn, Misstrauen und sogar Gewalt beantwortet werden. Die beunruhigenden Aufnahmen, die gestern veröffentlicht wurden, bestätigen, was wir von den Erfahrungen so vieler Menschen wissen – wir haben noch viel zu tun, um sicherzustellen, dass unser Justizsystem seinem Namen alle Ehre macht.

Biden sagte:

Wenn Amerikaner um Hilfe rufen, sollten sie unabhängig davon, wer sie sind oder wo sie leben, nicht um ihr Leben fürchten müssen. Der Tod von Sonya durch einen eintreffenden Beamten erinnert uns daran, dass schwarze Amerikaner allzu oft um ihre Sicherheit fürchten müssen, und zwar auf eine Art und Weise, die viele andere nicht kennen.

Solche Aussagen sind nichts als hohle Heuchelei. Biden hatte ein laues Reformpaket, den „George Floyd Justice in Policing Act“, mit Harris ausgearbeitet, als sie noch im Senat saß. Doch es ging bisher nicht durch den Kongress. Gleichzeitig flossen Milliarden in die Polizei, die ursprünglich für die Coronahilfe vorgesehen waren. Die Biden-Regierung hat in Zusammenarbeit mit lokalen Polizeikräften die Studentenproteste gegen den israelischen Völkermord im Gazastreifen gewaltsam niederschlagen lassen. Mehr als 3.100 Studenten und andere Demonstranten wurden seit April an den Universitäten in den USA festgenommen.

Nach dem Attentat auf Trump hatte Biden die absurde Bemerkung gemacht, in Amerika gebe es „keinen Platz für diese Art von Gewalt oder überhaupt für irgendeine Gewalt“. Der Präsidentschaftskandidat der Socialist Equality Party in den USA, Joe Kishore, kommentierte hingegen auf X/Twitter:

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Wie der Polizeimord an Sonya Massey in Illinois einmal mehr zeigt, ist der amerikanische Staat von Gewalt durchdrungen. Jedes Jahr tötet die Polizei weit über 1.000 Menschen unter dem einen oder anderen Vorwand. Die Vereinigten Staaten halten als einziges der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder an der barbarischen Todesstrafe fest.

Die Staatsgewalt im eigenen Land ist untrennbar mit der Rolle des amerikanischen Imperialismus als Hauptaggressor in der ganzen Welt verbunden. Von den Irakkriegen bis zum Völkermord in Gaza – die Opferzahl der Kriege, die von den USA in den letzten 30 Jahren geführt und unterstützt wurden, geht in die zweistellige Millionenhöhe.

In dieser Woche werden Biden und Harris mit dem Massenmörder und Kriegsverbrecher Benjamin Netanjahu zusammentreffen, der am Mittwoch auf einer gemeinsamen Sitzung des Kongresses eine Rede hält. Trotz ihrer Krokodilstränen für Sonya Massey werden sie dem israelischen Faschisten versichern, dass die US-Regierung den Völkermord und die ethnische Säuberung in Gaza weiterhin unterstützt.

Die Komplizenschaft der herrschenden Klasse der USA bei dem Massaker an wehrlosen Zivilisten geht auch mit immer brutalerer staatlicher Gewalt gegen die Arbeiterklasse im eigenen Land einher. Der Polizeiterror ist mit der Dominanz der Oligarchie im amerikanischen Kapitalismus verknüpft. Hier leben mehr Milliardäre als in jedem anderen Land, während gleichzeitig Massenarmut und ein Ausmaß an sozialer Ungleichheit herrschen wie seit über einem Jahrhundert nicht mehr.

Biden und die Demokraten versuchen, die Polizeigewalt in erster Linie als ein rassistisches Problem darzustellen und Identitätspolitik zu betreiben, um die Arbeiterklasse zu spalten. Doch in Wirklichkeit handelt es sich um ein soziales Phänomen, das überwiegend die Arbeiterklasse, die Armen und die Schwächsten der Gesellschaft betrifft, unabhängig von ihrer Hautfarbe oder ethnischen Zugehörigkeit. Obwohl Afroamerikaner überproportional häufig getötet werden, sind die meisten Opfer jedes Jahr weiß.

Die Frage, woher die Polizeigewalt kommt und wie sie gestoppt werden kann, ist eine Klassenfrage. Die Demokraten und Republikaner verbreiten den Mythos, dass die Polizei existiere, um die gesamte Bevölkerung zu „schützen“, und es nur ein paar Probleme gebe, die mit mehr Ausbildung und Finanzierung gelöst werden könnten. Aber tatsächlich handelt es sich bei der Polizei um bewaffnete Kräfte, die geschaffen wurden, um Ungleichheit durchzusetzen und die Eigentumsinteressen der herrschenden Klasse zu schützen. Die Polizei agiert wie Verbrecherbanden und Todesschwadronen im Auftrag des kapitalistischen Staats, deren Ziel der innere Feind ist: die Arbeiterklasse.

Die endlose Welle von Mord und Totschlag kann nicht durch angebliche Reformen beendet werden, sondern nur durch die Abschaffung der Polizei. Das erfordert eine politische Mobilisierung der Arbeiterklasse, um das kapitalistische System zu stürzen und für eine sozialistische Gesellschaft zu kämpfen, in der keine soziale Ungleichheit herrscht.

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