Russisches Gericht verurteilt Mitglieder von marxistischem Zirkel zu drakonischen Haftstrafen

Ein Mitarbeiter des russischen Föderalen Vollzugsdienstes auf Patrouille um den Justizpalast in Jekaterinburg [AP Photo/Dmitri Lovetsky]

Ein russisches Militärbezirksgericht in Jekaterinburg hat fünf Mitglieder eines marxistischen Zirkels in Ufa zu drakonischen Haftstrafen zwischen 16 und 21 Jahren in Gefängnissen und Hochsicherheits-Strafkolonien verurteilt, weil sie angeblich vorhatten, die russische Regierung mit terroristischen Mitteln zu stürzen. Der Fall stellt eine deutliche Verschärfung der Maßnahmen gegen demokratische Rechte in Russland dar, außerdem der Versuche, den Marxismus und jede linke Opposition gegen das Putin-Regime zu diffamieren.  

Die Angeklagten wurden für schuldig befunden, eine terroristische Vereinigung gegründet oder sich daran beteiligt zu haben, eine gewaltsame Machtübernahme geplant zu haben, Waffen und Sprengstoff entwendet sowie Terrorismus öffentlich gerechtfertigt oder propagiert zu haben.

Bei den fünf Angeklagten handelte es sich um Dmitri Tschuwilin, ein ehemaliger Abgeordneter der stalinistischen Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, seinen Berater Rinat Burkejew, den Rentner Juri Efimow, den Arzt Alexei Dmitrijew und Pawel Marisol, ein ehemaliges Mitglied des staatlichen Sicherheitsdienstes. Die beiden Letzteren hatten zuvor als Freiwillige im ostukrainischen Donbas gedient, wo nach dem prowestlichen Putsch in Kiew im Februar 2014 ein Bürgerkrieg zwischen von Russland unterstützen Separatisten und der Nato-unterstützten ukrainischen Armee tobte.

Laut der Staatsanwaltschaft trafen sich die Angeklagten nicht nur zu wöchentlichen Diskussionen marxistischer Texte im örtlichen Stalin-Museum, sondern veranstalteten auch Schießübungen und hatten konkrete Pläne, Militärgebäude in Ufa anzugreifen, um Waffen und Sprengstoff zu erbeuten. Ihr angebliches Ziel war die Errichtung einer Diktatur der Sowjetmacht. Die Staatsanwaltschaft behauptet, die Gruppe sei seit 2016 aktiv gewesen. Verhaftet wurden sie am 25. März 2022, etwas mehr als einen Monat nach Beginn des Einmarsches der Putin-Regierung in die Ukraine.

Alle Angeklagten wiesen die Anschuldigungen zurück. Die Staatsanwaltschaft stützte sich hauptsächlich auf die Aussage eines ehemaligen Gruppenmitglieds, eines gebürtigen Ukrainers, der für den russischen Geheimdienst FSB gearbeitet hat. Die Angeklagten behaupten, das Verfahren gegen sie sei konstruiert, um „russische kommunistische Ideen zu zerstören“. Sie leugneten die Beteiligung an einer Terrororganisation und bezeichneten ihr ganzes Gerede als „betrunkenes Geschwätz“. Nach Urteilsverkündung riefen sie im Gerichtssaal „Faschisten!“ Alle behaupteten, sie seien gefoltert und anderen Formen von Zwang ausgesetzt worden.

Die Verbindungen dieser Personen zum russischen Staat und Militär sowie zur KPRF, einer rechten, im Staat verankerten Partei, werfen Fragen über die Natur dieser Gruppe auf und deuten auf Konflikte innerhalb des Staatsapparates hin, die möglicherweise eine Rolle in diesem Fall gespielt haben könnten. Die Berichterstattung in den Medien und die extremen Haftstrafen machen jedoch deutlich, dass der russische Staat diesen Fall vor allem dazu nutzen will, die linke Opposition gegen das Putin-Regime einzuschüchtern. 

Im Gerichtssaal und in der Berichterstattung der Medien wurde besonderes Gewicht darauf gelegt, dass die Angeklagten klassische marxistische Texte von Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Lenin, einem der Anführer der Russischen Revolution von 1917, gelesen haben. In der russischen Medienberichterstattung wurden die Angeklagten bewusst als „Marxisten“ bezeichnet, wodurch angesichts der Anklage der falsche Eindruck erweckt wurde, es gäbe einen Zusammenhang zwischen Marxismus und Terrorismus. 

In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Jugendgruppen und anderer Zirkel, die sich ausdrücklich dem Studium klassischer marxistischer Texte widmen, merklich angestiegen. Viele von ihnen – offenbar auch die in Ufa – waren maßgeblich vom Stalinismus geprägt, andere zeichneten sich jedoch durch ein Interesse an den Ideen Leo Trotzkis aus, des wichtigsten sozialistischen und internationalistischen Gegners Stalins. Die drakonischen Haftstrafen für die Mitglieder der Gruppe in Ufa zielten eindeutig darauf ab, Arbeiter und junge Menschen in diesen Zirkeln und – allgemeiner – alle, die an klassischem Marxismus und besonders am Trotzkismus interessiert sind, zu verleumden, zu kriminalisieren und einzuschüchtern.

Dazu gehört vor allem die Junge Garde der Bolschewiki-Leninisten (YGBL), eine trotzkistische Jugendgruppe mit Mitgliedern aus der gesamten ehemaligen Sowjetunion, die sich dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale zugewandt haben. Ihr Anführer, der ukrainische Trotzkist Bogdan Syrotjuk, wurde in der Ukraine wegen fingierter Anschuldigungen des „Staatsverrats“ verhaftet, weil die YGBL eine prinzipienfeste marxistische Haltung gegen den Krieg in der Ukraine eingenommen und für die Einheit der Arbeiter in Russland und der Ukraine gekämpft hat.

Die Bedeutung des Falls der Gruppe aus Ufa kann nur im breiteren politischen Kontext einer eskalierenden Zensur- und Geschichtsverfälschungs-Kampagne verstanden werden. Insbesondere im Verlauf des letzten Jahres hat das Putin-Regime systematisch die Medien- und Internetzensur ausgeweitet, den „Totengräber der Revolution“ Josef Stalin verherrlicht und die historische Erforschung des stalinistischen Terrors behindert, in dessen Verlauf Zehntausende Revolutionäre ermordet wurden.

Seit dem Frühjahr kommt es in vielen Regionen Russlands immer wieder zu Internetausfällen, die Menschen teilweise wochenlang vom Internet abschneiden. Viele der wichtigsten Social-Media-Plattformen, die die Menschen in Russland nutzen, um sich über internationale Entwicklungen und Diskussionen zu informieren und mit Menschen außerhalb Russlands kommunizieren – darunter YouTube und WhatsApp – wurden ganz oder teilweise blockiert. Wie die WSWS vor kurzem schilderte, werden russischen Arbeitern fast alle Informationen über die reaktionäre Politik der Trump-Regierung vorenthalten, die Wladimir Putin regelmäßig lobt, während er versucht, im Ukraine-Krieg mit dem US-Imperialismus ein Abkommen auszuhandeln.  

Während die russische Oligarchie jeglichen Zugang zu Informationen aus der Außenwelt zunehmend unterdrückt, intensiviert sie gleichzeitig ihre Kampagne zur Geschichtsfälschung und ihre Bemühungen, Josef Stalin zu rehabilitieren. Zeitgleich mit dem 108. Jahrestag der Oktoberrevolution veröffentlichte das russische Staatsfernsehen eine umfangreiche Serie mit dem Titel „Chroniken der Russischen Revolution“, die vor abscheulichsten und ungeheuerlichsten historischen Verleumdungen und Verfälschungen nur so strotzt. Der wichtigste Geldgeber und Produzent dahinter war Alischer Usmanow, einer der reichsten russischen Oligarchen mit einem geschätzten Vermögen von 14,4 Milliarden Dollar im Jahr 2023. 

Ein Überblick der Organisation Memorial, die sich hauptsächlich mit der Erforschung des Großen Terrors befasst und die im Dezember 2021 verboten wurde, verzeichnete einen nennenswerten Anstieg des Baus von Stalin-Denkmälern im Jahr 2025. Zwischen Januar und November 2025 wurden 17 neue Monumente und Gedenktafeln zu Ehren Stalins errichtet, mehr als im gesamten Jahr 2024. Laut Memorial waren die stalinistische KPRF, die bis heute den Großen Terror verteidigt und als „loyale Opposition“ des Putin-Regimes agiert, sowie Veteranen des Ukraine-Kriegs die treibende Kraft hinter vielen dieser Initiativen. 

Gleichzeitig ist der Kreml dazu übergegangen, die Möglichkeiten russischer und ausländischer Forscher, auf wichtige Informationen zur Geschichte der Kommunistischen Internationale und des Großen Terrors zuzugreifen, drastisch zu beschränken. So wurden die meisten Archivbestände über die Geschichte der Kommunistischen Internationale, darunter umfangreiches Material über die Geschichte der Arbeiterbewegung in Asien, Europa und Lateinamerika wieder als „Staatsgeheimnisse“ eingestuft und sind Forschern nicht mehr zugänglich. Der russische Staat hat zudem eine alte Regel wieder eingeführt, gemäß der persönliche Akten von Opfern des Großen Terrors nur mit ausdrücklicher Zustimmung eines Angehörigen eingesehen werden dürfen. Wenn es keine lebenden Angehörigen oder bekannten Angehörige mehr gibt, macht diese Regel den Zugang zu Archivmaterial nahezu unmöglich. 

All diese Maßnahmen beruhen vor allem auf der Angst des Kremls, dass – angesichts des Kriegs in der Ukraine und der zunehmenden sozialen Krise in Russland und der Welt – der Zugang zu Informationen über die Situation der Arbeiter im Ausland sowie die historische Wahrheit über die Verbrechen des Stalinismus gegen die Oktoberrevolution die Grundlage für ein Wiederaufleben der mächtigen internationalistischen marxistischen Traditionen der russischen Arbeiterklasse bilden wird.

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