David North
Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus

Kapitel III

Die Gründung der Vierten Internationale im September 1938 war der Höhepunkt in Trotzkis Leben als Marxist und proletarischer Revolutionär. Seit er 1933 nach der Niederlage der deutschen Arbeiterklasse gegen die Nazis zum ersten Mal zur Bildung einer neuen Arbeiterinternationale aufgerufen hatte, hatten alle folgenden Ereignisse seine Analyse, dass der Stalinismus die wichtigste und todbringendste Agentur des Imperialismus in der internationalen Arbeiterklasse war, bestätigt.

Kurz vor der ersten Runde der Moskauer Prozesse, die die systematische physische Vernichtung der gesamten Bolschewistengeneration aus der Führung der Oktoberrevolution von 1917 einläutete, erschien Trotzkis Buch »Verratene Revolution«. Mit diesem Buch legte er die wissenschaftlichen Grundlagen der Perspektiven der Weltrevolution, für die er kämpfte.

Er zeigte auf, dass es für die Verteidigung der durch die Oktoberrevolution geschaffenen gesellschaftlichen Eigentumsverhältnisse und für die Regeneration der UdSSR nur die Möglichkeit der politischen Revolution gab: ein bewaffneter Aufstand der sowjetischen Massen gegen die konterrevolutionäre Kremlbürokratie. Des Weiteren zeigte er auf, wie diese politische Revolution ihrerseits abhängig und untrennbar war von einer Wiederbelebung und einem Aufschwung der internationalen Kämpfe der Arbeiterklasse in den wichtigsten kapitalistischen Ländern und Kämpfe der unterdrückten kolonialen Massen gegen den Weltimperialismus.

Trotzki gründete seine Politik ausschließlich auf wissenschaftliche und prinzipielle Überlegungen. Die Gründung der Vierten Internationale entsprang einer historischen Notwendigkeit. Die zentristischen Kräfte, die sich gegen die Gründung der Vierten Internationale wandten, argumentierten dagegen auf der Grundlage rein subjektiver Erwägungen.

Die Zentristen behaupteten zwar beharrlich, in der Einschätzung des Stalinismus keinerlei Meinungsverschiedenheiten mit Trotzki zu haben, hielten die Gründung der Vierten Internationale aber dennoch für ein aussichtsloses Unterfangen. Sie führten an, die trotzkistische Bewegung sei zu klein und zu isoliert, um eine neue Internationale »auszurufen«, und vergaßen dabei geflissentlich, dass Lenins Stimme, als er in den Anfangsjahren des Ersten Weltkriegs zur Bildung der Dritten Internationale aufrief, unter den lärmenden chauvinistischen Proklamationen der Zweiten Internationale kaum wahrnehmbar war.

Die Zentristen warnten, die Zeit sei noch nicht »reif« für die Gründung der Vierten Internationale, eine neue Partei könne nur aus großen Ereignissen hervorgehen.

Trotzki antwortete:

Die Vierte Internationale ist bereits aus großen Ereignissen hervorgegangen: den größten Niederlagen des Proletariats in der Geschichte. Verursacht wurden diese Niederlagen durch die Entartung und den Verrat der alten Führung. Der Klassenkampf duldet keine Unterbrechung. Die Dritte Internationale ist nach der Zweiten für die Revolution tot. Es lebe die Vierte Internationale!

Aber ist es schon an der Zeit, sie zu proklamieren? – die Skeptiker geben sich nicht zufrieden. Die Vierte Internationale, antworten wir, braucht nicht ›proklamiert‹ zu werden. Sie besteht und kämpft. Ist sie schwach? Ja, ihre Reihen sind noch wenig zahlreich. Es sind bislang vorwiegend Kader. Aber diese Kader sind die einzigen Bürgen der Zukunft. Außer diesen Kadern gibt es auf unserem Planeten keine einzige revolutionäre Tendenz, die dieses Namens würdig wäre. Ist unsere Internationale zahlenmäßig auch noch schwach, so ist sie doch stark aufgrund ihrer Lehre, ihres Programms, ihrer Tradition und der unvergleichlichen Festigkeit ihrer Kader. Wer das heute nicht erkennt, der bleibe noch abseits. Morgen wird es deutlicher werden.[1]

Der Charakter der imperialistischen Epoche

Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Trotzki und seinen zentristischen Gegenspielern über die Gründung der Vierten Internationale gingen über die Frage des angemessenen Zeitpunkts hinaus. Den Differenzen lagen vielmehr entgegengesetzte Auffassungen über den Charakter der imperialistischen Epoche zugrunde.

Die Zentristen, die im Wesentlichen nur in Worten für die sozialistische Revolution eintraten und auf diese Weise ihren Glauben an die Allmacht der bestehenden Bürokratien in der Arbeiterbewegung zum Ausdruck brachten, betrachteten die Niederlagen der Arbeiterklasse in den 1920er und 1930er Jahren als eine Reihe zusammenhangloser Ereignisse. Wenn sie überhaupt eine Erklärung dafür suchten, führten sie diese Niederlagen auf eine Vielzahl ungünstiger objektiver Bedingungen zurück. Die Rolle der proletarischen Führung war für diese Zentristen nur ein Faktor von vielen. Hinter derart oberflächlichen Betrachtungen steckte, zumeist unausgesprochen, die verbitterte Einstellung, die Arbeiterklasse selbst sei die Ursache ihres Missgeschicks und einfach nicht fähig den Kapitalismus zu stürzen.

Im Gegensatz zu dieser subjektiven Perspektive, die direkt zu Verzweiflung und Kapitulation führte, analysierte Trotzki die gesamte historische Erfahrung der Arbeiterklasse seit Beginn der imperialistischen Epoche und gelangte zu folgender Schlussfolgerung: »Die politische Weltlage als Ganzes ist vor allem durch eine historische Krise der proletarischen Führung gekennzeichnet.«[2]

Diesen Absatz – den ersten Satz des »Übergangsprogramms« – kennen, das kann man getrost sagen, alle Mitglieder der Workers League und der Sektionen des Internationalen Komitees, mit Ausnahme vielleicht der Allerneuesten. Aber was auf den ersten Blick bekannt ist, ist darum noch nicht erkannt. Weil Trotzki sehr tiefe Gedanken ganz einfach und klar darlegt, ist ein unaufmerksamer Leser oft versucht, leichtfertig über Einsichten und Wahrheiten hinwegzugehen, die Trotzki in einem lebenslangen politischen Kampf und in unaufhörlicher theoretischer Arbeit gewonnen hat. Wenn man sich also über die Bedeutung des ersten Satzes des Übergangsprogramms Klarheit verschaffen will, der gleich zu Beginn die grundlegende Ursache für die Existenz der Vierten Internationale darlegt, dann muss man Trotzkis (und Lenins) Auffassungen über den »Charakter der Epoche« verstehen.

Dabei entsteht oft das Problem, dass man den »Charakter der Epoche« einfach als die Summe bestimmter historisch gegebener Widersprüche des kapitalistischen Weltsystems betrachtet, aus denen die Unvermeidbarkeit der sozialistischen Revolution abgeleitet wird. Aber auf diese Art und Weise betrachtet man die erwähnten Widersprüche als völlig getrennt von der revolutionären praktischen Tätigkeit der Arbeiterklasse und ihrer bewussten Führung. Diese Betrachtungsweise ist mechanisch und deswegen falsch.

Zum Zweck einer Analyse können »objektive« und »subjektive« Faktoren zwar in Gedanken isoliert und auseinandergehalten werden, aber in der tatsächlichen Entwicklung des Klassenkampfes stehen diese Faktoren in ständiger dialektischer Wechselwirkung.

Revolutionäre Führung

Das besondere Kennzeichen unserer Epoche – in der alle wirtschaftlichen Voraussetzungen für die sozialistische Revolution schon längst reif sind – ist die außerordentliche, d. h. entscheidende Rolle der revolutionären Führung. Die soziale Revolution ist eine objektive Notwendigkeit: Der Konflikt zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, zwischen dem bürgerlichen Nationalstaat und dem Weltmarkt, setzt das gesamte Gefüge der kapitalistischen Gesellschaft extremen Spannungen aus. Aber die unvermeidliche Explosion, in denen sich diese ständig zunehmenden Spannungen entladen werden, kann nur dann zur sozialistischen Revolution werden, wenn die revolutionäre Partei auf der Grundlage der marxistischen Theorie bewusst in diese Entwicklung eingreift.

Der Aufbau einer solchen bewussten Führung, fähig, den Sturm auf die kapitalistische Gesellschaft zu organisieren und zu führen, verläuft jedoch nicht geradlinig parallel zur Entwicklung der objektiven Widersprüche des Weltimperialismus. Leider muss man feststellen, dass die Führung des Proletariats mit der Verschärfung der kapitalistischen Krise nicht automatisch besser wird. Die Beziehung zwischen Partei und Klasse ist die komplexeste und widersprüchlichste aller gesellschaftlichen Erscheinungen – nicht nur, weil die Arbeiterklasse aus zahlreichen unterschiedlichen Schichten besteht, die sich politisch nicht gleichmäßig entwickeln, sondern weil auch die Bourgeoisie selbst ständig und unermüdlich in diesen Prozess eingreift. Die Bourgeoisie scheut keine Ausgaben, um die Masse der Ausgebeuteten in ihren ideologischen Fesseln zu halten, und versucht in jedem Moment, die politische Entwicklung der revolutionären Vorhut zu beeinflussen oder sogar direkt zu kontrollieren.

Die systematische und wissenschaftliche Erforschung dieser sehr komplexen Beziehung zwischen Partei und Klasse, die Entwicklung spezieller theoretischer, politischer und organisatorischer Kampfformen gegen die Vorherrschaft der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung, begann eigentlich erst mit der Entstehung des Bolschewismus um die Wende zum 20. Jahrhundert in Russland.

Unter dem Druck des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale stand Lenin vor der zwingenden Notwendigkeit, die historischen und gesellschaftlichen Wurzeln des Opportunismus zu verstehen und die Lehren seines fünfzehnjährigen Kampfes gegen den Opportunismus in Russland auf die Weltarena auszudehnen.

Lenin stellte 1916 fest, dass der Kapitalismus zum Imperialismus geworden war, zum höchsten Stadium des Kapitalismus am Vorabend der sozialistischen Revolution. Lenin entwickelte einen sehr konkreten Begriff des Imperialismus (»Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, dass sie Monopole schafft… Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital,… Kapitalexport im Unterschied vom Warenexport... es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände – die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet...«), aber er beschränkte sich nicht auf die Erläuterung der wirtschaftlichen Merkmale dieses neuen historischen Stadiums. Er analysierte die Bedeutung der neuen Epoche im Zusammenhang mit der Entwicklung der internationalen Arbeiterbewegung und dem weltweiten Kampf der Unterdrückten.

Lenin zeigte, dass der Imperialismus gleichbedeutend war mit der Korruption der offiziellen Führungen der Arbeiterklasse (d. h. der Zweiten Internationale und der Gewerkschaftsbürokratien in den Vereinigten Staaten von Amerika) und deren Verwandlung in offene Agenten der Bourgeoisie. Dies schuf die Notwendigkeit, die Dritte (Kommunistische) Internationale zu gründen.

Entsprechend der vom Imperialismus geschaffenen veränderten Klassenbeziehungen – den rastlosen Versuchen der Bourgeoisie, die Führung der Arbeiterklasse zu untergraben; dem Abwandern der Zweiten Internationale in das Lager des Imperialismus – wurde die Kommunistische Internationale unter dem Banner des rücksichtslosen und kompromisslosen ideologischen und politischen Kampfes gegen alle Formen des Opportunismus gegründet. Im Gegensatz zu den Parteien der Zweiten Internationale, die die Existenz eines rechten Flügels nicht nur tolerierten, sondern zuließen, dass dieser Flügel wuchs und schließlich die ganze Organisation unter Kontrolle bekam, waren die neuen Parteien der Kommunistischen Internationale gezwungen, nicht nachzulassen in ihrem Kampf gegen jegliche opportunistische Strömung, die ihr Haupt erhob.

In der Kommunistischen Internationale (Komintern) sollte es keinen Platz geben für eine offizielle opportunistische Fraktion. Dies war beinhaltet in den 21 Bedingungen für die Mitgliedschaft in der Dritten Internationale, die auf deren zweitem Kongress im Juli-August 1920 beschlossen wurden.

Die Forderung nach einem Krieg gegen den Opportunismus, die in den Statuten der Komintern niedergelegt ist, entsprang der reichhaltigen historischen Erfahrung des Weltkriegs und dem Verrat an der Arbeiterklasse, den die Zweite Internationale verübt hatte. Trotzkis eigene große politische Entwicklung zwischen 1914 und 1917, in der er sich von den letzten Überresten des linken Zentrismus befreite und sich endgültig in einen revolutionären Führer verwandelte, den Lenin den besten Bolschewiken nennen sollte – diese Entwicklung fand unter dem Einfluss des Krieges statt. Kein anderer Revolutionär außer Lenin verfertigte eine annähernd gründliche Analyse des Zusammenbruchs der Zweiten Internationale.

Wie Lenin, aber unabhängig von ihm, behandelte Trotzki das Anwachsen des Opportunismus als objektive gesellschaftliche Erscheinung. Er setzte den Opportunismus in Beziehung zur historischen Herausbildung mächtiger kapitalistischer Nationalstaaten während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die dort entstandenen Arbeiterbewegungen passten sich diesen Staaten an. Wie überall in Trotzkis Schriften bildet eine breite und gründliche Kenntnis der historischen Prozesse den Inhalt seiner theoretischen Analyse.

Die Entwicklung der Arbeiterbewegung in England, Frankreich und Deutschland, erklärte Trotzki, musste notwendigerweise mit der ökonomischen und politischen Erstarkung der kapitalistischen Staaten in Europa verbunden sein. Das historische Heranreifen dieser mächtigen Staaten lieferte die Grundlage für die Entwicklung nationaler Arbeiterbewegungen und, jahrzehntelang, für den »sozialistischen« Opportunismus.

In seiner Untersuchung der Geschichte der größten Partei der Zweiten Internationale, der ehrwürdigen deutschen Sozialdemokratie, enthüllte Trotzki die gesellschaftliche und politische Mechanik, die sowohl ihren Erfolg als auch ihre unwiderrufliche Schande bestimmte.

Theoretisch marschierte die Bewegung des deutschen Proletariats unter der Fahne des Marxismus. Doch in seiner Abhängigkeit von den Bedingungen der Epoche wurde der Marxismus für das deutsche Proletariat nicht zur algebraischen Formel der Revolution, wie er es in der Epoche seiner Schöpfung war, sondern zur theoretischen Methode der Anpassung an den mit dem preußischen Helm bekrönten nationalkapitalistischen Staat …

Unmittelbar an die Entwicklung der nationalen Industrie angelehnt, ihren Erfolgen auf dem nationalen und Weltmarkt angepasst, die Bewegung der Preise für Rohmaterialien und Fertigfabrikate kontrollierend, bildeten sich die mächtigen zentralisierten Berufsverbände Deutschlands. Dem Wahlrecht angepasst, örtlich den Wahlkreisen angeschmiegt, ihre Fühler in den städtischen und ländlichen Gemeinden ausstreckend, errichtete sie das einzigartige Gebäude der politischen Organisation des deutschen Proletariats, mit ihrer vielverzweigten bürokratischen Hierarchie, einer Million zahlender Mitglieder, vier Millionen Wählern, 91 Tageszeitungen und 65 Parteidruckereien. Diese ganze vielseitige Tätigkeit von unermesslicher historischer Bedeutung war praktisch durch und durch erfüllt vom Geist des Possibilismus.

In viereinhalb Jahrzehnten hat die Geschichte dem deutschen Proletariat nicht eine einzige Gelegenheit geboten, mit stürmischem Vorstoß ein Hindernis zu stürzen, in revolutionärem Anlauf irgendeine feindliche Position zu erobern. Infolge der wechselseitigen Beziehungen der sozialen Kräfte war es gezwungen, Hindernisse zu umgehen oder sich ihnen anzupassen. In dieser Praxis war der Marxismus als Denkmethode ein wertvolles Werkzeug politischer Orientierung. Aber er konnte nicht den possibilistischen Charakter der Klassenbewegung ändern, die ihrem Wesen nach in dieser Epoche in England, Frankreich und Deutschland gleichartig war …

Der Marxismus war natürlich nicht etwas Zufälliges oder Bedeutungsloses in der deutschen Arbeiterbewegung. Aber es wäre völlig unbegründet, aus der offiziellen marxistischen Ideologie der Partei auf ihren sozialrevolutionären Charakter zu schließen.

Die Ideologie ist ein wichtiger Faktor der Politik, aber nicht ein bestimmender; ihre Rolle ist eine politisch dienende. Jener tiefe Widerspruch, in dem sich die erwachende revolutionäre Klasse in ihrem Verhältnis zu dem feudal-reaktionären Staate befand, bedurfte einer unversöhnlichen Ideologie, welche die ganze Bewegung unter das Banner sozialrevolutionärer Ziele brachte. Da die historischen Bedingungen ihr eine possibilistische Taktik aufdrängten, so fand die Unversöhnlichkeit der proletarischen Klasse ihren Ausdruck in den revolutionären Formeln des Marxismus. Dialektisch hat der Marxismus den Widerspruch zwischen Reform und Revolution mit vollem Erfolg versöhnt. Doch die Dialektik der historischen Entwicklung ist etwas weit Schwerfälligeres als die Dialektik des theoretischen Denkens. Die Tatsache, dass die in ihren Tendenzen revolutionäre Klasse gezwungen war, jahrzehntelang sich dem monarchistischen Polizeistaat anzupassen, der auf der mächtigen kapitalistischen Entwicklung ruhte, wobei in dieser Anpassung sich eine Millionenorganisation bildete und die die gesamte Bewegung leitende Arbeiterbürokratie erzogen wurde – diese Tatsache hört nicht auf zu existieren und verliert nicht ihre schwerwiegende Bedeutung dadurch, dass der Marxismus den sozialrevolutionären Charakter der künftigen Entwicklung vorweggenommen hat. Nur ein naiver Ideologismus konnte diese Vorausnahme der politischen Wirklichkeit der deutschen Arbeiterbewegung gleichstellen.[3]

In der deutschen Sozialdemokratie wurde der Revisionismus nur auf dem Gebiet der Theorie niedergeschlagen. Auf dem Gebiet der Praxis schlug er Wurzeln und gedieh. »Der Parlamentarier, Gewerkschaftler und Genossenschaftler fuhren fort zu leben und zu wirken in der Atmosphäre allseitigen Possibilismus, praktischer Spezialisierung und nationaler Beschränktheit.«[4]

Trotzki machte besonders auf die politische Psychologie des Opportunismus aufmerksam:

Aus Mangel an revolutionären Aktionen, wie auch realer reformistischer Möglichkeiten, ging die ganze Energie auf automatischen organisatorischen Aufbau: neue Partei- und Gewerkschaftsmitglieder, neue Zeitungen, neue Abonnenten. Im Laufe der Jahrzehnte zu einer Politik des possibilistischen Verharrens verurteilt, schuf die Partei den Organisationskult als Selbstzweck. Wohl nie hat der Geist organisatorischer Trägheit in der deutschen Sozialdemokratie so unbedingt geherrscht wie in den letzten Jahren, die der großen Katastrophe unmittelbar vorausgingen.[5]

Das Anwachsen des Opportunismus war also organisch verbunden mit den ökonomischen und politischen Bedingungen in Europa vor 1914, einer Epoche der »Allmählichkeit«, der Stabilität, der Illusionen in die historische Lebensfähigkeit des Kapitalismus und der bürgerlichen Demokratie. Es war eine Epoche, in der der Fortschritt der Arbeiterbewegung in Jahrzehnten gemessen wurde und in der die Aufgaben der Arbeiterführer sich auf die vergleichsweise einfache Pflicht zu beschränken schienen, die Bewegung geduldig den bekannten Weg der gewerkschaftlichen Verhandlungen, Parlamentsdebatten und Feiertagsversammlungen entlang zu führen.

All diese althergebrachten Taktiken und eingefleischten Routinearbeiten wurden gesprengt durch den Ausbruch der imperialistischen Widersprüche, deren verborgenes Heranreifen praktisch kein einziger Führer der Zweiten Internationale wahrgenommen hatte.

Die jahrzehntelang »siegesgekrönte Taktik« führte mit dem plötzlichen Kriegsausbruch im August 1914 zu einer politischen Katastrophe von historisch beispiellosem Ausmaß. Innerhalb weniger Stunden enthüllte sich das durch und durch reaktionäre Antlitz der Männer, die sich jahrzehntelang als Revolutionäre ausgegeben hatten. Trotz der antimilitaristischen und antiimperialistischen Resolutionen, die die Zweite Internationale auf ihren Kongressen in Stuttgart 1907 und in Basel 1912 verabschiedet hatte, ließen sich alle bedeutenden Sektionen der Internationale von der chauvinistischen Welle mitreißen und unterwarfen sich der Bourgeoisie ihrer jeweiligen Länder.

Kurz nach der österreichischen Kriegserklärung an Serbien bewies Victor Adler, der Führer der österreichischen Sozialdemokratie, dass die Führer der Zweiten Internationale kein politisches Rückgrat hatten. In einer Rede vor Vertretern der Arbeiterinternationale in Brüssel, die zusammengekommen waren, um die unmittelbare Kriegsgefahr für ganz Europa zu besprechen, erklärte Adler:

Wir haben den Krieg schon. Wir haben bis jetzt gegen den Krieg gekämpft, so gut wir konnten. Die Arbeiterschaft hat gegen die Kriegstreibereien das Äußerste getan. Aber erwartet von uns keine Aktion mehr. Wir sind im Kriegszustand. Unsere Presse ist unterdrückt. Wir haben den Ausnahmezustand und das Kriegsrecht im Hintergrund. – Ich bin nicht da, um Reden in einer Volksversammlung zu halten, sondern um euch die Wahrheit zu berichten, dass eine Aktion hier, wo Hunderttausende bereits auf dem Weg zur Grenze sind und zu Hause das Kriegsrecht waltet, unmöglich ist.[6]

Diese Gesinnung beherrschte die gesamte Internationale und führte dazu, dass jede Sektion den Kriegskrediten für die imperialistische Schlächterei zustimmte. Theoretisch unvorbereitet und politisch verstört durch die plötzliche Wende in der politischen Entwicklung wechselten die Führer der Sozialdemokratie unweigerlich in das Lager des Klassenfeindes über.

Der Fehler der Revisionisten«, schrieb Trotzki, »lag nicht darin, dass sie den seinem Wesen nach reformistischen Charakter der Parteipolitik in der verflossenen Epoche konstatierten, sondern darin, dass sie den Reformismus theoretisch verewigen wollten, als die einzige Methode des proletarischen Klassenkampfes. Auf diesem Wege gerieten die Revisionisten in Widerspruch zu den objektiven Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung, welche durch Verschärfung der Klassenwidersprüche zur sozialen Revolution führen muss, als den einzigen Weg zur Emanzipation des Proletariats.[7]

Dieser historische Verrat seitens der Sozialdemokratie bestätigte die tiefgreifende revolutionäre Voraussicht, mit der Lenin sein ganzes Leben lang gegen alle Formen des Opportunismus gekämpft hatte. Russland war das einzige Land, in dem der Kampf gegen den Opportunismus, der mit dem Zweiten Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) 1903 begann, bis zur Spaltung geführt wurde. Lenin vervollständigte den organisatorischen Bruch mit den Menschewiki auf dem Prager Kongress 1912, wo alle Opportunisten offiziell aus der SDAPR ausgeschlossen wurden. Lenin unterschied sich von allen anderen Führern darin, dass er nicht bereit war, den Opportunismus als eine legitime Strömung innerhalb der marxistischen Bewegung zu behandeln.

In der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands existierten opportunistische Praxis und theoretische Verteidigung des Marxismus durch Führer wie Kautsky friedlich nebeneinander. Man muss allerdings einräumen, dass der Kampf auf dem Gebiet der Theorie nicht übermäßig heftig geführt wurde. Erst auf Drängen Plechanows hin raffte sich Kautsky auf, gegen Bernstein anzugehen, der alle grundlegenden Aussagen des Marxismus zurückgewiesen hatte. Plechanows Forderung, Bernstein aus der deutschen Partei auszuschließen, wurde abgelehnt.

Dieser sachte Umgang mit dem Revisionismus hatte handfeste politische Wurzeln. Ein hartnäckiger, lebendiger Kampf gegen seine Theorien hätte unvermeidlich zu einer Konfrontation mit dem Opportunismus in der Praxis geführt; d. h. mit den Gewerkschaftsbürokraten und Parlamentariern, die in der Partei über beträchtlichen Einfluss und Macht verfügten. Ein derartiger Kampf hätte die Widersprüche innerhalb der deutschen Sozialdemokratie schon lange vor dem Ausbruch des Krieges 1914 sichtbar werden lassen.

Eben hierin lag die politische Bedeutung von Lenins Kampf gegen Revisionismus und Opportunismus. Dieselben organischen Prozesse, welche die sozialdemokratischen Parteien in Westeuropa von innen her zerfraßen, drückten sich auch – wenn auch in anderen Formen – in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands aus. Hier bildeten sie den Inhalt des Menschewismus. Der Grund, warum diese organischen Tendenzen, die den Revisionismus förderten, die russische Sozialdemokratie trotzdem nicht überwältigten, liegt in Lenins Kampf gegen alle Formen des Opportunismus, der das bürgerliche Bewusstsein in der Arbeiterklasse verstärkt bzw. ausdrückt.

In seiner ideologischen, politischen und organisatorischen Entwicklung erwies sich der Bolschewismus demnach insgesamt als der bewusste Ausdruck der historischen Aufgaben der Arbeiterklasse in der neuen, imperialistischen, von Kriegen und Revolutionen geprägten Epoche.

Im Kampf gegen alle Spielarten der bürgerlichen Ideologie in der Arbeiterbewegung und durch die kompromisslose Verwirklichung der politischen und organisatorischen Schlussfolgerungen aus diesen Kämpfen schuf der Bolschewismus eine vollendete historische Form für die revolutionäre Rolle des Proletariats.

Das erkannte auch Trotzki nach dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale. Denn bei allen tiefen Einsichten in die Ursprünge des Opportunismus in der europäischen Arbeiterbewegung hatte er in »Der Krieg und die Internationale« die grundlegende Frage noch nicht beantwortet: Mit welchen Mitteln sollen die organischen Tendenzen zum Opportunismus, die von dem Druck des Imperialismus auf die Arbeiterbewegung ausgehen, und die systematische Korruption der bestehenden Führungen in den Arbeiterorganisationen bekämpft werden? Der Bolschewismus lieferte die theoretische und praktische Antwort auf diese Frage.

Trotzki schrieb später darüber:

Nach und nach korrigierte ich meine Ansichten über das Verhältnis von Partei und Klasse und von revolutionärer Aktion und proletarischer Organisation. Unter dem Eindruck des sozialpatriotischen Betrugs des internationalen Menschewismus gelangte ich Schritt für Schritt zur Einsicht in die Notwendigkeit nicht nur des ideologischen Kampfes gegen den Menschewismus (die ich schon früher besaß – obwohl, um genau zu sein, mit ungenügendem Nachdruck), sondern auch des kompromisslosen organisatorischen Bruchs mit ihm. Dieses Umdenken vollzog sich nicht von einem Tag zum anderen. In meinen Artikeln und Reden während des Krieges wird man Zögern und auch Rückschritte finden. Lenin hatte völlig recht, jeglichen Anflug von Zentrismus meinerseits anzugreifen, herauszustellen und sogar absichtlich aufzubauschen. Betrachtet man jedoch die Periode des Krieges im Zusammenhang, so wird deutlich, dass die furchtbare Demütigung des Sozialismus zu Kriegsbeginn für mich den eigentlichen Wendepunkt vom Zentrismus zum Bolschewismus darstellte – in allen Fragen ohne Ausnahme. Und in dem Maße, wie ich mich der bolschewistischen Konzeption des Verhältnisses von Klasse und Partei, Theorie und Politik, Politik und Organisation annäherte, wurde auch meine generelle revolutionäre Haltung gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft mit lebendigerem und realistischerem Inhalt angefüllt.

Von dem Augenblick an, als ich die absolute Notwendigkeit eines Kampfes bis zum Äußersten gegen die Vaterlandsverteidiger erkannt hatte, wurde mir Lenins Haltung in vollem Umfang deutlich. Was mir als »Sektierertum«, »Zersetzung« usw. erschienen war, erkannte ich nun als reinigenden und unvergleichlich weitsichtigen Kampf für die revolutionäre Unabhängigkeit der proletarischen Partei. Nicht nur Lenins politische Methoden und organisatorische Praktiken, sondern seine ganze politische und menschliche Persönlichkeit erschienen mir in neuem Licht, in einem bolschewistischen, d. h. wahrhaft leninistischen Licht. Erst als Bolschewik kann man Lenin verstehen und in seiner Bedeutung erkennen.[8]

Der Beginn der imperialistischen Epoche, der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der rapide Zerfall der Zweiten Internationale legten zum ersten Mal eine historische Führungskrise in der Arbeiterklasse bloß. Auf der Suche nach einer revolutionären Antwort auf diese Krise gelangte Trotzki zu einem Verständnis der politischen und historischen Bedeutung des Bolschewismus, wie es außer ihm nur Lenin selbst erreicht hatte. Aus diesem Grund trat Trotzki 1917 der Bolschewistischen Partei bei, gelangte sofort in die ersten Reihen ihres Generalstabs und organisierte im Oktober als Vorsitzender des Militärischen Revolutionskomitees den bewaffneten Aufstand und die Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse.


[1]

Leo Trotzki, Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 131–132.

[2]

Ebd., S. 83 (Hervorhebung hinzugefügt).

[3]

Leo Trotzki, »Der Krieg und die Internationale«, in: Europa im Krieg, Essen 1998, S. 438, 439, 440–441.

[4]

Ebd., S. 441.

[5]

Ebd., S. 443.

[6]

Paul Frölich, Rosa Luxemburg: Gedanke und Tat, Berlin 1990, S. 256.

[7]

Leo Trotzki, »Der Krieg und die Internationale«, in: ebd., S. 441.

[8]

Leo Trotzki, »Unsere Meinungsverschiedenheiten«, in: Ulf Wolter (Hrsg.), Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923–1928, Bd. 3 (1925–1926), Berlin 1976, S. 26.