David North
Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus

Kapitel IV

Auf jedem der ersten vier Kongresse der Kommunistischen Internationale – die stattfanden, als Lenin noch lebte und sich am politischen Geschehen beteiligte – betonte Trotzki die entscheidende Rolle der revolutionären marxistischen Führung in der Vorbereitung der sozialistischen Revolution und der Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse. Dies sei die wichtigste historische Lehre der Oktoberrevolution von 1917 und zugleich ein grundlegendes Merkmal der imperialistischen Epoche.

Aufgrund der konkreten historischen Erfahrung der Arbeiterklasse in Russland und international arbeitete Trotzki die Auffassung aus, dass das Schicksal der sozialistischen Revolution auf Jahre und sogar Jahrzehnte hinaus von Entscheidungen abhängen kann, die die Führung einer marxistischen Partei innerhalb weniger Tage fällt.

In diesem Zusammenhang bekam der Begriff der Kaderausbildung und der Rolle der Internationale einen neuen geschichtlichen Inhalt. In direktem Gegensatz zu den Ansichten der Zweiten Internationale – von dieser nicht offen ausgesprochen, aber in all ihrer theoretischen und praktischen Arbeit enthalten – richtete sich die Kommunistische Internationale nach dem Grundsatz, dass man sich nicht auf die zwangsläufige Entwicklung abstrakt verstandener objektiver Kräfte und gesellschaftlicher Widersprüche verlassen darf, wenn die sozialistische Revolution tatsächlich siegen soll.

Die Führer der revolutionären Parteien der Komintern (dem Namen unter dem die Kommunistische Internationale bekannt war) mussten begreifen, dass ihre subjektive Praxis ein objektives Glied von entscheidender Bedeutung in der Kette der Ereignisse war, die zum Sturz des Kapitalismus führten.

Wenn man diese Auffassung konsequent auf ihre logischen und ganz konkreten Schlussfolgerungen hin überdachte, dann bedeutete sie, dass auf einer bestimmten, von Marxisten zu erkennenden Entwicklungsstufe der revolutionären Krise in verschiedenen Ländern die Frage des bewaffneten Aufstands in den führenden Komitees der kommunistischen Parteien konkret auf der Tagesordnung erscheinen würde. Dann müsste für den Sturz des kapitalistischen Staates ein Datum festgelegt und ein Aktionsplan ausgearbeitet werden.

Die historische Aufgabe der Komintern bestand darin, in ihren Sektionen international einen Kader auszubilden, der dieser Aufgabe gewachsen sein würde. Von diesem Standpunkt aus bezeichnete Trotzki die Kommunistische Internationale als »Schule revolutionärer Strategie«. Diese Schlussfolgerungen, mit denen Lenin übereinstimmte, entsprangen Trotzkis gründlichem Verständnis über den Charakter der imperialistischen Epoche und die Aufgaben, die sich daraus ergeben.

Wie alle großen Meister der dialektisch-materialistischen Methode fasste Trotzki in seiner theoretischen Arbeit die lebendige Erfahrung des Klassenkampfes zusammen und reflektierte sie wissenschaftlich durch die Begriffe des historischen Materialismus. Er untersuchte jede bedeutende Bewegung der Massen und bemühte sich, in jeder neuen Form des Klassenkampfes die darin wirkenden dialektischen Gesetze zu entdecken, die die Entwicklung der sozialistischen Revolution bestimmen. Trotzkis Methode war die Methode von Marx, von der Lenin schrieb, »er studiert – wie einen naturgeschichtlichen Prozess – die Geburt der neuen Gesellschaft aus der alten, studiert die Übergangsformen von der alten zur neuen. Er hält sich an die tatsächlichen Erfahrungen der proletarischen Massenbewegung und ist bemüht, aus ihr praktische Lehren zu ziehen.«[1]

Die politische Arbeit der Bolschewistischen Partei stand im Jahr 1917, von Lenins Ankunft in Petrograd im April bis zur Machteroberung im Oktober, unter dem Banner der sozialistischen Weltrevolution. Die Aprilkonferenz war für die Partei von gewaltiger Bedeutung, weil auf ihr die entscheidende Wendung (entgegen Stalins Position) von der Unterstützung der bürgerlichen provisorischen Regierung hin zur Vorbereitung auf die Machteroberung vollzogen wurde.

Auf dieser Konferenz sagte Lenin:

Dem russischen Proletariat wurde die große Ehre zuteil zu beginnen, es darf aber nicht vergessen, dass seine Bewegung und seine Revolution nur ein Teil der internationalen revolutionären proletarischen Bewegung sind, die, wie zum Beispiel in Deutschland, von Tag zu Tag stärker und stärker wird. Nur unter diesem Gesichtswinkel können wir unsere Aufgaben bestimmen.[2]

Im Jahr 1917 verfiel niemand auf den Gedanken, dass unabhängig vom Sturz des Kapitalismus in Westeuropa und auf der ganzen Welt in Russland der Sozialismus aufgebaut werden könnte. Grundlage aller strategischen Überlegungen innerhalb der Führung der Bolschewistischen Partei war die unwiderlegbare Auffassung, dass das Schicksal der russischen Revolution von den Ereignissen im Westen abhing. Aus diesem Grund legte man größten Wert auf die Gründung der Dritten Internationale, um die Weltrevolution zum Sieg zu führen.

Der revolutionäre Optimismus der bolschewistischen Führer war berechtigt. Für die Klassenwidersprüche, die sich während des imperialistischen Krieges angestaut hatten, wirkte der bolschewistische Sieg wie Dynamit.

Die Revolution in Deutschland

Im November 1918 brach in Deutschland die Revolution aus. Der Kaiser musste fliehen, die Sozialdemokraten kamen an die Macht, der Krieg wurde beendet. Im März 1919 wurde in Ungarn die Räterepublik ausgerufen. Im Laufe desselben Jahres erschütterte ein großer Stahlstreik die Vereinigten Staaten. Im September 1920 fand eine riesige Bewegung der italienischen Arbeiterklasse ihren Höhepunkt in der Besetzung der Fabriken und Betriebe. Im Dezember 1920 wurde die Tschechoslowakei von Massenstreiks überrollt.

Obwohl die revolutionäre Bewegung besonders in Europa historisch einmalige Ausmaße annahm, war die Arbeiterklasse nirgendwo in der Lage, es dem Beispiel des sowjetischen Proletariats gleichzutun.

In Deutschland wurde der Aufstand der Spartakus-Bewegung unterdrückt und ihre Führer, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, am 15. Januar 1919 im Einvernehmen mit der sozialdemokratischen Regierung ermordet. Im März stürzte die Konterrevolution mit dem Segen der Zweiten Internationale die Münchener Räteregierung und exekutierte ihren Führer, Leviné. Die ungarische Sowjetrepublik unter der Führung von Béla Kun wurde innerhalb eines Monats gestürzt. In Italien kam die Bewegung der Arbeiter kurz vor der Machteroberung zum Stillstand. Die Faschisten starteten eine Gegenoffensive, die schließlich Mussolini an die Macht brachte.

Im Jahr 1919 sah sich die Bourgeoisie in allen wichtigen europäischen Ländern unmittelbar vor dem Sturz. Ende 1920, als die revolutionäre Welle zurückging, gewann die Bourgeoisie zunehmend ihr Selbstbewusstsein zurück. Auf der Grundlage von Niederlagen der Arbeiterklasse begann eine Periode politischer und wirtschaftlicher Stabilisierung.

Obwohl diese Entwicklung unmittelbar tragische Konsequenzen hatte, war sie doch von enormem erzieherischen Wert für die Kommunistische Internationale. Sie bestätigte von der negativen Seite – das heißt, durch Fehlschläge und Enttäuschungen – die wesentliche historische Bedeutung des Bolschewismus als unerlässliche Voraussetzung für den Sieg der sozialistischen Revolution; sie vertiefte das theoretische Verständnis der Komintern über die Dialektik der imperialistischen Epoche.

Im Juli 1921 hielt Trotzki eine abschließende Rede auf dem dritten Kongress der Kommunistischen Internationale vor der Parteimitgliedschaft der Moskauer Organisation:

Manche Genossen stellen sich die Sache allzu einfach vor, soweit vom Sieg des Proletariats, die Rede ist. Wir haben jetzt in Europa, ja im Weltausmaß eine Situation, da wir vom marxistischen Standpunkt mit absoluter Bestimmtheit sagen können, dass die bürgerliche Ordnung sich restlos erschöpft hat. Die Produktivkräfte können sich im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft nicht weiter entwickeln …

Doch bedeutet das denn, dass der Untergang der Bourgeoisie automatisch und mechanisch besiegelt ist? Mitnichten. Die Bourgeoisie ist eine lebendige Klasse, die auf einer bestimmten wirtschaftlichen Produktionslage aufgewachsen ist. Diese Klasse ist nicht das passive Produkt der ökonomischen Entwicklung, sondern eine lebendige, wirkende, aktive historische Kraft. Diese Klasse hat sich überlebt, d. h. sie wurde zum schrecklichsten Hemmschuh der historischen Entwicklung. Aber dies bedeutet keineswegs, dass diese Klasse dem historischen Selbstmord zuneige, dass sie bereit sei zu sagen: ›Da die wissenschaftliche Theorie der historischen Entwicklung mich als reaktionär erkannt hat, so trete ich von der Weltbühne ab.‹ Davon kann natürlich nicht die Rede sein. Andererseits genügt es wiederum keineswegs, dass die Kommunistische Partei erkenne, die bürgerliche Klasse sei verurteilt und müsse beseitigt werden, damit der Sieg des Proletariats dadurch schon gesichert sei. O nein, die Bourgeoisie muss noch besiegt und gestürzt werden …

Selbst wenn die Bourgeoisie in einen völligen Gegensatz zu den Bedürfnissen der historischen Entwicklung geraten ist, bleibt sie immer noch die mächtigste Klasse. Noch mehr, man kann sagen, dass die Bourgeoisie in politischer Hinsicht erst in dem Moment ihre höchste Macht, die größte Konzentration an Kräften und Mitteln, an politischen und militärischen Mitteln, an Betrug, Vergewaltigung und Provokation, d. h. die höchste Blüte ihrer Klassenstrategie erreicht, wo ihr der soziale Untergang am unmittelbarsten droht …

Vom oberflächlichen Standpunkt aus gesehen könnte man hier einen gewissen Widerspruch entdecken; wir haben die Bourgeoisie vom Gericht des Marxismus, d. h. vom Gericht der wissenschaftlichen Erkenntnis des historischen Prozesses, als überlebt anerkennen sehen, aber zugleich zeigt sie eine gewaltige Vitalität. In Wirklichkeit ist da kein Widerspruch enthalten. Es ist eben das, was man im Marxismus Dialektik nennt …

Die Periode, in der sich Europa und die ganze Welt befindet, ist einerseits eine Zeit des Verfalls der Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft aber andererseits die Zeit der höchsten Blüte der konterrevolutionären Strategie der Bourgeoisie. Das muss man klar und deutlich erkennen. Noch niemals hatte die konterrevolutionäre Strategie, d. h. die Kunst des kombinierten Kampfes gegen das Proletariat mit allen Methoden, angefangen mit der süßesten Professoren- oder Pfaffenpredigt bis zur Erschießung der Streikenden mit Maschinengewehren, eine solche Höhe erreicht wie jetzt.[3]

Die in höchstem Maße bewusste Antwort der Weltbourgeoisie auf die Oktoberrevolution fand ihren brutalsten Ausdruck in der Ermordung von Luxemburg und Liebknecht. Die eine Lehre, die die herrschenden Klassen aller kapitalistischen Länder aus dem Sieg der Oktoberrevolution zogen, lautete, dass aus heranreifenden sozialen Revolutionen hervorgehende Führer und die vielversprechendsten Kader rechtzeitig vor kommenden Oktobern ausgelöscht werden mussten. Provokationen, Infiltrationen, Sabotage, Mord: Diese Methoden wurden nach 1917 zum Standardrepertoire der Weltbourgeoisie.

Die politische Schlussfolgerung, die Trotzki vor 61 Jahren aus dieser Analyse zog, hat nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt: »Die Aufgabe der Arbeiterklasse, der europäischen sowie der internationalen, besteht darin, der restlos durchdachten Strategie der konterrevolutionären Bourgeoisie eine ebenso restlos durchdachte Strategie des Proletariats entgegenzustellen.«[4]

Etatismus

Zwei Merkmale, die mit dem Verfall der Produktivkräfte und dem zunehmend krankhaften ökonomischem Schmarotzerdasein des Imperialismus verbunden sind, hob Trotzki besonders hervor: den Etatismus und die Fäulnis der bürgerlichen Demokratie.

In dem Manifest des ersten Kongresses der Komintern schrieb Trotzki:

Das Finanzkapital, das die Menschheit in den Abgrund des Krieges geworfen, hat selbst im Lauf des Krieges katastrophale Veränderungen erlitten. Die Abhängigkeit des Papiergeldes von der materiellen Grundlage der Produktion war vollends gestört. Immer mehr seine Bedeutung als Mittel und Regulator des kapitalistischen Warenumlaufs verlierend, verwandelte sich das Papiergeld zum Mittel der Requisition, des Raubes, überhaupt der militärisch-wirtschaftlichen Vergewaltigung. Die völlige Ausartung des Papiergeldes spiegelt die allgemeine Todeskrise des kapitalistischen Warentausches wider. Wenn der freie Wettbewerb als Regulator der Produktion und der Verteilung in den Hauptgebieten der Wirtschaft von dem System der Trusts und Monopole noch in den dem Kriege vorangegangenen Jahrzehnten verdrängt wurde, so erwies sich durch den Gang des Krieges die regulierende Rolle den Händen der ökonomischen Vereinigungen entrissen und direkt der militärischen Staatsmacht ausgeliefert. Die Verteilung der Rohstoffe, die Ausnutzung des Petroleums von Baku oder Rumänien, der Donezkohle, des ukrainischen Getreides, das Schicksal der deutschen Lokomotiven, Eisenbahnwagen, Automobile, die Versorgung des hungernden Europa mit Brot und Fleisch – all diese Grundfragen des wirtschaftlichen Lebens der Welt werden nicht durch den freien Wettbewerb, nicht durch Kombinationen nationaler und internationaler Trusts und Konsortien geregelt, sondern durch direkte Anwendung von militärischer Gewalt im Interesse ihrer weiteren Erhaltung. Hat die völlige Unterordnung der Staatsmacht unter die Gewalt des Finanzkapitals die Menschheit zur imperialistischen Schlachtbank geführt, so hat das Finanzkapital durch diese Massenabschlachtung nicht nur den Staat, sondern auch sich selbst vollends militarisiert und ist nicht mehr fähig, seine wesentlichen ökonomischen Funktionen anders als mittels Blut und Eisen zu erfüllen …

Die Verstaatlichung des wirtschaftlichen Lebens, gegen welche der kapitalistische Liberalismus sich so sträubte, ist zur Tatsache geworden. Nicht nur zum freien Wettbewerb, sondern auch zur Herrschaft der Trusts, Syndikate und anderer wirtschaftlicher Ungetüme gibt es keine Rückkehr. Die Frage besteht einzig darin, wer künftig der Träger der verstaatlichten Produktion sein wird: der imperialistische Staat oder der Staat des siegreichen Proletariats?

Mit anderen Worten: Soll die gesamte werktätige Menschheit zum leibeigenen Frondiener einer siegesgekrönten Weltclique werden, die unter dem Namen des Völkerbundes mit Hilfe eines ›internationalen‹ Heeres und einer ›internationalen‹ Flotte hier plündert und würgt, dort einen Brocken zuwirft, überall jedoch das Proletariat in Fesseln schlägt mit dem einzigen Ziel, die eigene Herrschaft zu erhalten – oder wird die Arbeiterklasse Europas und der fortgeschrittenen Länder der anderen Weltteile selbst die zerrüttete und zerstörte Volkswirtschaft in die Hand nehmen, um deren Wiederaufbau auf sozialistischer Grundlage sicherzustellen.[5]

Überflüssig scheint der Hinweis, dass diese Analyse sich außerordentlich gut auf die Gegebenheiten des heutigen Imperialismus anwenden lässt. Es genügt, darauf aufmerksam zu machen, dass dieses Phänomen im Vergleich zu den heutigen monströsen Dimensionen der imperialistischen Verstaatlichung im Jahr 1919 erst im Larvenstadium steckte. Trotzkis Beschreibung der Finanz- und politischen Welt des Imperialismus könnte man beinahe für eine Zusammenfassung der letzten zehn Jahre halten.

Der Kapitalismus wurde im Verlauf des Krieges von Grund auf umgebildet. Die planmäßige Auspressung des Mehrwertes im Produktionsprozess – die Grundlage der Profitwirtschaft – scheint eine zu wenig lockende Beschäftigung für die Herren Bourgeois zu sein, die sich daran gewöhnt haben, im Verlauf von ein paar Tagen ihr Kapital durch Spekulation, internationale Räuberei zu verdoppeln und zu verzehnfachen.

Der Bourgeois hat einige Vorurteile, die ihm hinderlich waren, abgestreift und einige Fertigkeiten erworben, die er nicht hatte. Der Krieg lehrte ihn die Hungerblockade gegen ganze Länder, das Luftbombardement und die Niederbrennung von Städten und Dörfern, die zweckmäßige Verbreitung von Cholerabazillen, die Versendung von Dynamit in Diplomatenkoffern, die Fälschung von Kreditscheinen der Gegner, die Bestechung, Spionage und Schmuggelei in einem früher nie dagewesenen Maßstab. Die Methoden der Kriegführung blieben auch nach Friedensschluss für den Handel bestehen. Die Großhandelsoperationen fließen gegenwärtig mit der Tätigkeit des Staates zusammen, der als Welträuberbande auftritt, die mit allen Gewaltmitteln ausgerüstet ist.[6]

Trotzkis Reden und Artikel, die er für die ersten vier Kongresse der Komintern erarbeitet hatte, sind Meisterwerke der politischen Literatur des Marxismus. Als Beispiele für die lebendige Anwendung der historisch-materialistischen Methode stehen sie Marx’ historischer Ansprache im Mai 1871 über den Bürgerkrieg in Frankreich in nichts nach. Solche Arbeiten veralten nicht. Wichtig ist aber, dass Trotzki zu unserer Epoche gehört; und seine Schriften sind und bleiben unersetzlich und unverzichtbar, und zwar nicht nur als theoretische und politische Grundlagen einer marxistischen Strategie der Weltrevolution, sondern auch für ein besseres Verständnis der Tagesereignisse des modernen politischen Lebens.

Der Marxismus in der imperialistischen Epoche

Es geht nicht darum, dass wir uns vor Trotzkis Genie verneigen. Als wesentlich betrachten wir den historischen Inhalt seiner und Lenins Arbeiten, die ein Ausdruck der Entwicklung des Marxismus in der imperialistischen Epoche sind.

Grundlegende Bedeutung kommt der Spaltung mit der Zweiten Internationale zu. Die Bolschewiki erklärten nicht nur ihrer Politik, sondern auch ihrer Philosophie den Krieg. Deren Untersuchung anhand der Methode ihres führenden Theoretikers, Kautsky, förderte zutage, dass die historische Kapitulation der Zweiten Internationale vor dem Imperialismus mit einer Vulgarisierung und Revision des Marxismus verbunden war.

Die gesamte bolschewistische – einzige wahre – Auffassung des Marxismus stand in unversöhnlichem Gegensatz zu der Art und Weise, wie Kautsky und andere Theoretiker der Zweiten Internationale den Marxismus zu einer scholastischen Methode herabwürdigten, die der passiven Kommentierung historischer Ereignisse diente. Obwohl diese Methode formal mit dem Marxismus gleichgesetzt wurde, war sie das genaue Gegenteil seines revolutionären Wesens. Trotzki schrieb dazu:

Kautsky ist der Begründer und der vollendetste Vertreter der österreichischen Fälschung des Marxismus. Während die wirkliche Lehre von Marx die theoretische Formel der Aktion, des Angriffs, der Entwicklung der revolutionären Energie, der vollendeten Führung des Klassenschlages ist, verwandelte sich die österreichische Schule in die Akademie der Passivität und des Ausweichens, wurde vulgär-historisch und konservativ, d. h. reduzierte ihre Aufgabe darauf, die Erscheinungen zu erklären und zu rechtfertigen, statt sie auf die Aktion und auf die Niederwerfung zu richten, sie erniedrigte sich bis zur Rolle der Dienerin der laufenden Bedürfnisse des parlamentarischen und gewerkschaftlichem Opportunismus, setzte an Stelle der Dialektik gaukelhafte Spitzfindigkeit und verwandelte sich letzten Endes trotz des großen Tamtams des vorschriftsmäßigen revolutionären Phrasenschwalles in die sicherste Stütze des kapitalistischen Staates mitsamt der sich über diesen erhebenden Throne und Altare.[7]

Charakteristisch für die führenden Theoretiker der Zweiten Internationale und das »Missgeschick« solcher Denker wie Plechanow und Kautsky war die »Unfähigkeit… die Dialektik auf die Bildertheorie, auf den Prozess und die Entwicklung der Erkenntnis anzuwenden.«[8]

Dieses »Missgeschick« durchdrang die theoretische Arbeit und das politische Leben der Führer der Zweiten Internationale in Westeuropa. Sie akzeptierten zwar die formalen Schlussfolgerungen der materialistischen Geschichtsauffassung, trennten aber die Untersuchung ihrer wissenschaftlichen Begriffe von deren philosophischer Verankerung in der dialektisch-materialistischen Erkenntnistheorie. Den Gebrauch historisch-materialistischer Begriffe – wie Staat, Klasse, Produktionsverhältnisse, Imperialismus, verwiesen sie in die Schranken der Anwendung bestimmter fester Formeln und Definitionen, die auswendig gelernt wurden.

Gesellschaftliche Praxis

Diese Methode ist das Gegenteil von Marxismus, der die historische Entwicklung aller Kategorien und Begriffe nicht als Produkte des Denkens oder Erzeugnisse eines »absoluten Geistes« betrachtet, sondern als Widerspiegelung der objektiven Merkmale und Beziehungen von Natur und Gesellschaft im Denken des gesellschaftlichen Menschen. Diese Reflexionen entstehen, wie Marx bewies, nicht im Laufe passiver Betrachtungen, sondern als Ergebnis der objektiven gesellschaftlichen Praxis in der historisch bestimmten Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur.

Nachdem er den rationalen Kern der Hegelschen Dialektik aus ihrer idealistischen Form herausgeschält hatte, war Marx dadurch, dass er die gesellschaftliche Praxis in den Mittelpunkt seiner Erkenntnistheorie stellte, zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie in der Lage, die Beziehung zwischen Materie und Denken, zwischen Objekt und Subjekt und zwischen Praxis und Theorie wissenschaftlich festzustellen.

Der Mensch erkennt die Welt im gesellschaftlichen Prozess ihrer Veränderung. Die Formen seines Denkens werden hervorgebracht und bedingt durch das Wachstum der Produktivkräfte und die gesellschaftlichen Beziehungen, die auf dieser Grundlage entstehen. Die Erkenntnis des Menschen über die Gesetze von Natur und Gesellschaft, die wissenschaftlich gesehen ein historisch-gesellschaftlicher Prozess ist, kann nicht reduziert werden auf eine einseitige (vom Objekt zum Subjekt), passive, nur widerspiegelnde Reflexion der Natur im menschlichen Denken.

Erkenntnis und Praxis sind eine Einheit von Gegensätzen, die sich in Übereinstimmung mit den dialektischen Gesetzen des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, der Grundlage für den ganzen reichhaltigen ideologischen und politischen Überbau, gegenseitig beeinflussen und formen.

Der passive und betrachtende »Marxismus« der Zweiten Internationale war in Wirklichkeit gar kein Marxismus. Es handelte sich vielmehr um ein Wiederaufleben des alten, mechanischen Materialismus, den Marx in seinen Thesen über Feuerbach kritisiert und überwunden hatte:

Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den feuerbachschen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv … Er [Feuerbach] begreift daher nicht die Bedeutung der »revolutionären«, der »praktisch-kritischen« Tätigkeit.[9]

In seiner Autobiografie »Mein Leben« erinnert sich Trotzki an den tiefen politischen Graben, den er schon vor 1914 zwischen sich und den Führern der Zweiten Internationale wahrnahm. Über den österreichischen sozialdemokratischen Führer Karl Renner (später Kanzler von Österreich und zu guter Letzt, bevor er passenderweise in biblischem Alter starb, unerschütterlicher Bündnispartner der USA) bemerkte Trotzki, dass er »von der revolutionären Dialektik ebenso weit entfernt war wie der konservativste der ägyptischen Pharaonen«.[10]

Dies war keine beiläufige Bemerkung. Trotzki erkannte den Zusammenhang zwischen der Passivität der sozialdemokratischen Führer, ihrer Unfähigkeit zu entschlossenem revolutionären Handeln, ihrem Misstrauen gegenüber den Massen, ihrem impliziten Glauben an die Dauerhaftigkeit des kapitalistischen Systems einerseits und ihrer Gleichgültigkeit gegenüber der Dialektik, der Triebfeder des revolutionären Marxismus, andererseits. Man sollte festhalten, dass Renner, Autor der »Theorie der kapitalistischen Ökonomie«, ein treuer Kantianer war und die dialektische Methode angriff, die Marx im »Kapital« verwendet hatte.

Die Denkmethode, der Renner anhing, war schon lange zuvor von Hegel kritisiert worden, der den grundlegenden Mangel der kantschen Philosophie und des alten, mechanischen Materialismus erkannte:

Der bisherige Begriff der Logik beruht auf der im gewöhnlichen Bewusstsein ein für alle Mal vorausgesetzten Trennung des Inhalts der Erkenntnis und der Form derselben … Es wird … vorausgesetzt, dass der Stoff des Erkennens als eine fertige Welt außerhalb des Denkens an und für sich vorhanden, dass das Denken für sich leer sei, als eine Form äußerlich zu jener Materie hinzutrete, sich damit erfülle, erst daran einen Inhalt gewinne und dadurch ein reales Erkennen werde.[11]

In normale Sprache übersetzt richtet sich Hegel gegen die mechanische Auffassung, die oft fälschlicherweise für Materialismus gehalten wird, aber die aktive Rolle des menschlichen Denkens in der angewandten Praxis, in der Erkenntnis der äußeren Welt unterschlägt.

Die Entdeckung der aktiven Seite der Erkenntnis zählte Marx zu den Errungenschaften des Idealismus, insbesondere Hegels. Aber sie wurde nur in abstrakter Form entdeckt. Das heißt, die einzige Tätigkeit, die Hegel anerkannte, war die Tätigkeit des reinen Geistes, verkörpert in den logischen Kategorien und Begriffen. Die praktische Tätigkeit des Menschen fasste er lediglich als Ausfluss dieser Geistesaktivität auf.

Die »tätige Seite« der Erkenntnis, die aus der gesellschaftlichen Praxis der Menschen im Klassenkampf hervorgeht und diese anleitet, wird, wenn sie materialistisch überarbeitet worden ist (»Hegel auf die Füße gestellt«), zu der wissenschaftlichen Methode, mit der die Welt analysiert und revolutionär verändert werden kann.

»Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern[12] Diese Schlussfolgerung, die Marx in seiner elften These über Feuerbach zieht, bedeutet nicht, wie akademische Fälscher gelegentlich behaupten, eine Zurückweisung philosophischer Arbeit und eine schlichte Empfehlung zu praktischen Aktionen. Sie ist vielmehr eine präzise, theoretisch durchdachte Zusammenfassung der wesentlichen Beziehung zwischen Erkenntnis und revolutionärer Praxis, ohne die eine wissenschaftliche Erkenntnis der objektiven Welt des Klassenkampfs nicht möglich ist.

Diese Frage mag auf den ersten Blick nebensächlich erscheinen, ist es aber nicht. Ihre »praktische« Bedeutung zeigte sich sehr bald in all den Kämpfen innerhalb der Bolschewistischen Partei im Jahr 1917, als Lenin gegen eine enorme Opposition darum kämpfte, die Partei auf die Machteroberung hin zu orientieren. Seinen Höhepunkt erreichte dieser politische Kampf im Oktober 1917, als Sinowjew und Kamenew, die engsten Mitarbeiter Lenins im Exil, sich offen gegen Sturz der bürgerlichen Regierung stellten.

In »Die Lehren des Oktobers« zitiert Trotzki ihre Argumente gegen einen Aufstand unter bolschewistischer Führung:

Jeder, der über den bewaffneten Aufstand reden will … ist verpflichtet, jede Möglichkeit nüchtern zu erwägen, und wir halten es für unsere Pflicht zu sagen, dass der gegenwärtige Moment der allergefährlichste ist im Unterschätzen des Feindes und im Überschätzen der eigenen Kräfte. Die Macht des Feindes ist größer, als es uns erscheint. Petrograd entscheidet, und hier gerade haben die Feinde des Proletariats bedeutende Kräfte: fünftausend Junker, die vorzüglich ausgerüstet und organisiert sind und die, dank ihrer Klasseneinstellung, den Kampf nicht scheuen, ferner den Stab, die Stoßtruppen, dann die Kosaken und einen bedeutenden Teil der Garnison, welche im Umkreis von Petrograd liegt. Außerdem werden die Gegner versuchen und zwar mit Hilfe des Zentral-Exekutivkomitees, von der Front Truppen heranzuführen.[13]

Obiger Absatz ist ein Musterbeispiel für die Unfähigkeit, »die Bedeutung der ›revolutionären, praktisch-kritischen‹ Tätigkeit« zu verstehen. Die Einschätzung von Sinowjew und Kamenew stützte sich auf eine völlig einseitige, passive und mechanische Betrachtung der kämpfenden Kräfte. Die zahlenmäßige Stärke des Feindes wurde zusammengezählt. Auf der Grundlage eines formalen Vergleichs erschien die Position des Proletariats hoffnungslos.

Zwei Wochen vor unserem unblutigen Sieg in Petrograd – wir hätten ihn auch schon zwei Wochen eher haben können – sahen die erfahrenen Politiker unserer Partei die Junker gegen uns, die sich zu schlagen wünschten und zu schlagen verstanden und die Stoßtruppe und die Kosaken und den größten Teil der Garnison und die Artillerie, die uns einschloss, und die heranrückenden Fronttruppen. In Wahrheit war nichts vorhanden, aber gar nichts …

Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie die geschichtliche Darstellung gelautet hätte, wenn im Zentralkomitee die Strömung gesiegt hätte, die den Kampf ablehnte. Die offiziösen Geschichtsschreiber hätten dem Leser überwältigende statistische Angaben über die Zahl der Junker, der Stoßtruppen, der Artillerie und der Korps, die von der Front heranrückten, gemacht und diese Kräfte als weit erschreckender hingestellt, als sie in Wirklichkeit waren. Das ist die Lehre, die man in das Bewusstsein jedes Revolutionärs eingravieren müsste![14]

Die Lehren des Oktobers

Die »Lehren des Oktobers« arbeitete Trotzki in die strategische revolutionäre Arbeit der Kommunistischen Internationale mit ein. Praktisch alle seine großen Beiträge zur Ausbildung ihrer Kader befassen sich mit den grundlegenden und zusammenhängenden Themen der entscheidenden Rolle der revolutionären Führung und der Unverzichtbarkeit der dialektischen Methode. Diese Kaderausbildung wurde wegen der wachsenden Bürokratie und ihrer Fehlorientierung fallengelassen und mit der Zerstörung der Kommunistischen Internationale endgültig aufgegeben.

Trotzdem bleiben Trotzkis Beiträge erhalten als eine Schatzkammer der revolutionären Erfahrung, des Wissens und der Erkenntnis, die für die Ausbildung eines Kaders heute notwendig sind.

Der Marxismus lehrt, dass Klassenbeziehungen im Produktionsprozess entstehen und einem bestimmten Niveau der Produktivkräfte entsprechen. Ferner, dass alle Formen der Ideologie und vor allem die Politik Klassenbeziehungen entsprechen. Doch heißt das ganz und gar nicht, dass zwischen der Politik, den Klassengruppierungen und der Produktion einfache, mechanische Beziehungen walten, die sich nach der elementaren Arithmetik berechnen lassen. Im Gegenteil, die Wechselbeziehungen sind äußerst kompliziert. Man kann den Entwicklungsgang eines Landes, einschließlich seiner revolutionären Entwicklung, nur dann dialektisch interpretieren, wenn man von der Aktion, Reaktion und Interaktion aller materiellen und Überbaufaktoren im Landes- und Weltmaßstab ausgeht, nicht indem man auf oberflächliche Gegenüberstellungen oder formale Analogien rekurriert.[15]

Unter der Führung von Lenin und Trotzki wurde die dialektische Methode, die für Kautsky und die Mehrheit der sozialdemokratischen Führer ein »toter Hund« gewesen war, wiederbelebt, bereichert und auf ihren rechtmäßigen Platz in der Kommunistischen Internationale gehoben – als methodische Grundlage der Wissenschaft der marxistischen Strategie, politischen Perspektive und revolutionären Aktion.

In einer Epoche der Bürgerkriege, abrupter Veränderungen der politischen Situation, die über Nacht eintreten können, täglicher Verschiebungen in den internationalen Klassenbeziehungen, plötzlicher Veränderungen auf dem politischen Schlachtfeld von links nach rechts und von rechts nach links, hat sich allein die dialektische Methode als den historischen Aufgaben des Proletariats angemessen erwiesen.

Marx hätte gesagt: die Dialektik ist keine Lanze für akademische Debatten, sondern eine Waffe im Klassenkampf. Sie ist keine Leidenschaft des Kopfes, sondern der Kopf der revolutionären Leidenschaft. In diesem Geist erzieht das Internationale Komitee der Vierten Internationale heute die Kader der trotzkistischen Weltbewegung.


[1]

Wladimir I. Lenin, »Staat und Revolution«, in: Werke, Bd. 25, Berlin 1960, S. 438.

[2]

Wladimir I. Lenin, »Eröffnungsrede. VII. Gesamtrussische Konferenz der SDAPR«, in: Werke, Bd. 24, Berlin 1959, S. 215.

[3]

Leo Trotzki, »Die Schule der revolutionären Strategie«, in: Die neue Etappe, Hamburg 1921, S. 54, 55, 56, 57.

[4]

Ebd., S. 58.

[5]

Leo Trotzki, »Manifest der Kommunistischen Internationale an das Proletariat der ganzen Welt«, in: Die Kommunistische Internationale, Manifeste, Leitsätze, Thesen und Resolutionen. 1. und 2. Weltkongress 1919/1920, Bd. 1, Köln 1984, S. 27, 28.

[6]

Leo Trotzki, »Manifest des II. Kongresses der Kommunistischen Internationale«, in: ebd., S. 242–243.

[7]

Leo Trotzki, Terrorismus und Kommunismus, Köln 1970, S. 147.

[8]

Wladimir I. Lenin, »Zur Frage der Dialektik«, in: Werke, Bd. 38, ebd., S. 344 .

[9]

Karl Marx, »Thesen über Feuerbach«, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1969, S. 5.

[10]

Leo Trotzki, Mein Leben, Berlin 1990, S. 190.

[11]

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, Berlin 2013, S. 24–25.

[12]

Karl Marx, »Thesen über Feuerbach«, in: ebd., S. 7 (Hervorhebung hinzugefügt).

[13]

Leo Trotzki, »Die Lehren des Oktobers«, in: Oktoberrevolution 1917, Dortmund 1978, S. 50.

[14]

Ebd., S. 52.

[15]

Leo Trotzki, »Über den Fortschritt der proletarischen Revolution«, in: Denkzettel, Wien 2010, S. 141.