Eine politische Bilanz des Lokführerstreiks

Vor acht Monaten, Anfang August 2007, stimmten knapp 96 Prozent von 12.000 an der Urabstimmung beteiligten Lokführer und Zugbegleiter für Streik. Bereits einen Monat zuvor hatten die in der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) organisierten Lokführer in einem befristeten Warnstreik das gesamte Schienennetz blockiert und den Bahnverkehr für mehrere Stunden zum Erliegen gebracht.

Nachdem die DGB-Gewerkschaften seit Jahren Lohn- und Sozialabbau mitgetragen, jeden ernsthaften Arbeitskampf verhindert und Streiks auf unwirksame Nadelstiche und symbolische Aktionen reduziert hatten, wirkte der Warnstreik der Lokführer wie ein Paukenschlag. Trotz Zugausfällen, langen Wartezeiten und stundenlangen Verspätungen stieß der Kampf der Lokführer auf große Sympathie in der Bevölkerung.

Seit der Bahnreform von 1994 war die Belegschaft auf 185.000 halbiert worden. Die Löhne waren in den letzten beiden Jahren trotz ständig wachsender Arbeitsbelastung durch komplizierte Schichtdienste und reduzierte Ruhezeiten um 10 Prozent gesunken. Die GDL-Forderung nach 31 Prozent Lohnerhöhung und Reduzierung der Wochenarbeitszeit in einem Tarifvertrag, der nicht nur für die Lokführer, sondern für das gesamte Fahrpersonal, einschließlich Zugbegleiter und Service-Personal gelten sollte, fand große Unterstützung. Viele Arbeiter sahen darin den Beginn einer Offensive gegen die seit Jahren anhaltende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und permanent wachsende Einkommensverluste, die sie ständig am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Auf der anderen Seite bildete die Regierung, unterstützt von allen etablierten Parteien einschließlich der Linkspartei, gemeinsam mit dem DGB und einem großen Teil der Medien eine Abwehrfront. Sie sahen in dem Kampf der Lokführer den Beginn einer Rebellion gegen die zentrale Achse der Politik des Sozialabbaus, die seit Schröders Einführung der Agenda 2010 ständig verschärft wird. Zwar bremste die Regierung den Bahnvorstand, der anfangs die Zerschlagung der Lokführergewerkschaft GDL anstrebte, erhöhte aber mit Hilfe des DGB und der größten Bahngewerkschaft Transnet systematische den Druck, um die Lokführer in die Knie zu zwingen.

Unter diesen Bedingungen gab die GDL schrittweise ihre Forderungen auf und kapitulierte auf Raten.

Nur einen Monat nach der Urabstimmung akzeptierte sie einen Schlichterspruch und gab die Forderung nach einem "Fahrpersonaltarifvertrag" auf. Sie beschränkte sich damit auf die Interessenvertretung der Lokführer und grenzte alle übrigen Berufsgruppen des Fahrpersonals aus, die unter vergleichbar schwierigen Arbeitsbedingungen wie die Lokführer und noch schlechteren Löhnen zu leiden haben.

Zum Jahresende ließ die GDL dann die Forderung nach 31 Prozent Lohnerhöhung fallen und signalisierte ihre Bereitschaft, sich auf Lohnerhöhungen zu beschränken, die nicht wesentlich über den Abschluss von Transnet hinausgehen. Und im März unterschrieb die GDL-Spitze einen Tarifvertrag, der nichts mehr von den ursprünglichen Forderungen beinhaltet und sich - wie von den Schlichtern ursprünglich gefordert - "nahtlos" ins Tarifgefüge der Bahn einfügt.

Gegenwärtig bemüht sich der GDL-Vorstand, den Tarifabschluss gegenüber den Mitgliedern schönzureden und in den eigenen Reihen gegen erheblichen Widerstand durchzusetzen. Dabei betont er, dass die Hauptforderung nach einem "eigenständigen Tarifvertrag" erreicht worden sei. Doch diese Forderung nach Eigenständigkeit war von Anfang an doppeldeutig.

Die GDL-Mitglieder verbanden damit den Ausbruch aus der Tarifgemeinschaft mit den beiden gelben Bahngewerkschaften Transnet und GDBA, die mit dem Bahnvorstand und der Bundesregierung Hand in Hand arbeiten. Mit der Drohung, anderenfalls aus der GDL auszutreten, hatte eine Mehrheit der Mitglieder 2002 den Bruch der Tarifgemeinschaft gefordert und durchgesetzt. Das war direkt mit dem Kampf gegen die ständigen Abgruppierungsverträge verbunden.

Eine Eigenständigkeit der GDL unter Bedingungen der freiwilligen Anerkennung der Tarifgemeinschaft war dagegen nie im Sinne der Mitglieder, sondern richtet sich gegen sie. Für den GDL-Vorstand bedeutete Eigenständigkeit vor allem Anerkennung als rechtmäßiger Verhandlungspartner und damit die Absicherung seines Funktionärsapparats. Die hat sich die GDL nun erkauft, indem sie die ursprünglichen Forderungen aufgegeben hat und den Abschluss gegen den Widerstand in den eigenen Reihen durchsetzt.

Notwendigkeit einer sozialistischen Perspektive und Partei

Der Kampf der Lokführer beinhaltet wichtige politische Erfahrungen und Lehren. Vor allem macht er deutlich, dass es nicht möglich ist, gegen die ständige Lohnsenkung und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen anzukämpfen, indem man die Gewerkschaft in der Hoffnung wechselt, eine kleinere Organisation lasse sich eher und leichter durch die Mitgliedschaft kontrollieren und steuern.

Die Militanz und Kampfbereitschaft vieler Lokführer hat eine große Anziehungskraft auf andere Arbeiter ausgeübt. In den Bezirksverwaltungen der GDL stapeln sich auch jetzt noch die Anträge auf Mitgliedschaft. Doch die GDL-Funktionäre sind angesichts dieses Zulaufs nicht nur überrascht, unvorbereitet und überfordert. Sie verbringen viele Stunden damit, Beitrittswilligen zu erklären, dass sie nichts für sie tun könnten, wenn sie keine Lokführer seien oder in weiterem Sinne dem Fahrpersonal zugeordnet werden können.

Diese organisatorische Beschränktheit der GDL-Funktionäre hängt direkt mit ihren politischen Standpunkten zusammen. Als Vertretung einer Berufsgruppe, die durch einen Streik von relativ wenigen Arbeitern großen Druck erzeugen kann, hatten die GDL-Führer gehofft, mehr Zugeständnisse erreichen zu können als andere Gewerkschaften, ohne das kapitalistische System in Frage zu stellen. Doch diese Haltung unterschätzt völlig das Ausmaß der wirtschaftlich Krise und die Entschlossenheit der Herrschenden, ihr System und ihre Privilegien zu verteidigen.

Hinter Bahnchef Mehdorn und seinen Vorstandskollegen stand und steht die gesamte Elite in Wirtschaft und Politik. Sie ist entschlossen, ihr Gesellschaftsmodell, in dessen Mittelpunkt die Jagd nach Profit und die persönliche Bereicherung stehen, der gesamten Bevölkerung aufzuzwingen. In allen gesellschaftlichen Bereichen soll ungebremster Wettbewerb herrschen. Wenige Tage nachdem die GDL ihre Unterschrift unter den Tarifabschluss gesetzt hatte, kündigten Bahnchef Mehdorn und Verkehrsminister Tiefensee (SPD) zügige Schritte zur Privatisierung der Bahn an.

Ein gut funktionierendes und modernes Transportunternehmen, das jahrzehntelang mit Steuermitteln aufgebaut wurde, soll privatisiert und in einen globalen Logistikkonzern verwandelt werden, mit dem einzigen Ziel, die Aktionäre zu bereichern. Ein Unternehmensvorstand, der seine eigenen Bezüge in einem einzigen Jahr um 70 Prozent erhöht hat und ein Jahresgehalt von 20 Millionen Euro unter acht Vorstandsmitgliedern aufteilt, behauptet, für menschenwürdige Löhne und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten sei kein Geld vorhanden.

Mit der Verschärfung der internationalen Finanzkrise hat sich die Situation dramatisch zugespitzt. Nach jüngsten Berechnungen belaufen sich die Verluste der internationalen Banken durch die US-Hypothekenkrise auf etwa 600 Milliarden Euro. Alleine 200 Milliarden Euro müssen Schätzungen zufolge deutsche Banken abschreiben.

Nicht einer der Spekulanten und halbkriminellen Glücksritter, die in den vergangenen Jahren Hunderte von Millionen in die eigene Tasche gewirtschaftet haben, wird zur Rechenschaft gezogen und muss seine Spekulationsgewinne zurückzahlen. Stattdessen werden die Verluste durch weitere Sparprogramme und Kürzungen der Bevölkerung aufgebürdet. Bereits jetzt wurden mehreren Banken staatliche Beihilfen im Umfang von über 15 Milliarden Euro zugesichert (IKB 7,2 Mrd.; WestLB 3,8 Mrd.; SachsenLB 2,8 Mrd; BayernLB 2,4 Mrd. Euro).

Angesichts dieser Situation verwandeln sich die gewerkschaftlichen Konzepte der Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung in Komplizenschaft gegen die Beschäftigten und die Bevölkerung. Die GDL bildet dabei keine Ausnahme.

Der Tarifabschluss löst kein einziges Problem der Lokführer und ihrer Familien. Er beendet nicht die Auseinandersetzung, sondern bildet den Auftakt. Die Lokführer und alle anderen Teile der Arbeiterklasse stehen vor großen Klassenkämpfen und müssen sich darauf vorbereiten. Das erfordert vor allem einen bewussten politischen Bruch mit den beschränkten Konzeptionen der Gewerkschaften. Wer heute noch behauptet, die Profitinteressen der Konzerne und Banken und die Bedürfnisse der großen Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung könnten harmonisiert und partnerschaftlich geregelt werden, ist entweder ein Narr oder ein bewusster Lügner.

Nur im offenen politischen Kampf gegen das kapitalistische System, das die Profitinteressen der Wirtschaft höher stellt als die Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung, kann verhindert werden, dass eine privilegierte Elite die Gesellschaft ausplündert und ruiniert. Die Produktion im allgemeinen und derart wichtige Unternehmen wie die Bahn AG müssen der Kontrolle der Finanzaristokratie entrissen und in den Dienst der Gesellschaft als ganzer gestellt werden.

Darin besteht die Bedeutung einer sozialistischen Perspektive und Partei.

Ein Schwerpunkt des Streiks lag in den ostdeutschen Bundesländern, und dort ist auch die Enttäuschung über den faulen Kompromiss und das endlose Lavieren der GDL-Führung am größten. Gerade dort, in den Bundesländern der früheren DDR, ist es wichtig, sich mit einer wirklich sozialistischen Perspektive auseinander zu setzen.

Knapp zwanzig Jahre sind seit dem Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung vergangen. Damals wurde die große Lüge des zwanzigsten Jahrhunderts, das stalinistische Regime sei mit Sozialismus gleichzusetzen, noch einmal mit großem Aufwand verbreitet. Sie diente als ideologischer Kitt der kapitalistischen Restauration und ebnete der Wiedereinführung kapitalistischer Ausbeutung unter dem Deckmantel von Freiheit und Demokratie den Weg. Die Auswirkungen sind bekannt.

Es ist notwendig, politisch Bilanz zu ziehen und sich mit dem Programm der Partei für Soziale Gleichheit (PSG) auseinander zu setzen, die schon während der Wende für eine sozialistische Perspektive gegen Kapitalismus und Stalinismus gekämpft hat.

Siehe auch:
GDL gibt politischem Druck nach und würgt Lokführerstreik ab: Eine kritische Bewertung der Tarifeinigung
(15.März 2008)
Die Streikbewegung im Öffentlichen Dienst erfordert eine neue politische Perspektive
( 8. März 2008)
GDL beugt sich dem Tarifkartell und der Großen Koalition
( 17.Januar 2008)
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