Historische und internationale Grundlagen der Socialist Equality Party (Großbritannien)

Dieses Dokument über die Historischen und Internationalen Grundlagen der Socialist Equality Party (Großbritannien) wurde auf dem Gründungskongress der Socialist Equality Party (SEP) in Manchester vom 22. bis 25. Oktober 2010 einstimmig verabschiedet. Es untersucht die wichtigsten politischen Erfahrungen der britischen Arbeiterklasse und konzentriert sich insbesondere auf die Nachkriegsgeschichte der trotzkistischen Bewegung.

 

Es wird in elf Teilen auf der WSWS veröffentlicht.

Teil 1
Teil 2 | Teil 3 | Teil 4 | Teil 5 | Teil 6 | Teil 7 | Teil 8 | Teil 9 | Teil 10 | Teil 11

Prinzipien der Socialist Equality Party

1. Die Socialist Equality Party (SEP) ist die britische Sektion der Vierten Internationale, der Weltpartei der sozialistischen Revolution, die 1938 von Leo Trotzki gegründet wurde und heute vom Internationalen Komitee geführt wird. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) repräsentiert die Kontinuität des Kampfs von Marx, Engels, Lenin und Trotzki für den Aufbau einer unabhängigen revolutionären Partei der Arbeiterklasse mit dem Ziel, das kapitalistische Profitsystem zu stürzen. Dieses Erbe wird in den Historischen und internationalen Grundlagen der Socialist Equality Party (USA) von 2008 umrissen und stellt die programmatische Grundlage für die Arbeit der SEP in Großbritannien dar.

2. Der Aufbau einer revolutionären Bewegung ist nur auf der Grundlage einer internationalistischen Perspektive möglich. Leo Trotzki betonte 1928:

“In unserer Epoche, welche die Epoche des Imperialismus, d.h. der Weltwirtschaft und der Weltpolitik unter der Herrschaft des Finanzkapitals ist, vermag keine einzige Kommunistische Partei ihr Programm lediglich oder vorwiegend aus den Bedingungen und Entwicklungstendenzen ihres eigenen Landes abzuleiten. (…) In der gegenwärtigen Epoche muss und kann die nationale Orientierung des Proletariats in noch viel größerem Maße als in der vergangenen nur aus der internationalen Orientierung hervorgehen und nicht umgekehrt. Darin besteht der grundlegende und ursächliche Unterschied zwischen der Kommunistischen Internationale und allen Abarten des nationalen Sozialismus.“1

3. Diese Worte, die Trotzki mitten im Zusammenbruch des Weltkapitalismus in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts schrieb, gewinnen heute sogar noch größere Bedeutung. Mit dem Finanzcrash von 2008 hat die Systemkrise des Kapitalismus eine neue Stufe erreicht. Die milliardenschweren Rettungspakete, die das globale Finanzsystem retten sollten, haben nationale Wirtschaften an den Rand des Bankrotts getrieben. Die herrschende Klasse nutzt diese Krise für einen Angriff auf die gesellschaftliche Position der Arbeiterklasse. Ihr Ziel besteht nicht nur darin, die Last der Bankenrettungen auf die arbeitende Bevölkerung abzuwälzen. In Großbritannien und ganz Europa beabsichtigen die herrschenden Eliten, jeden verbleibenden Rest des Sozialstaats, der nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt wurde, zu beseitigen, und ein Niveau an Ausbeutung einzuführen, wie man es bisher nur von faschistischen Diktaturen oder Militärdiktaturen kannte.

4. Im Zentrum der Krise stehen die USA. Der amerikanische Kapitalismus befindet sich in einem fortgeschrittenen Stadium des Zerfalls. Sein Niedergang als führende Weltmacht ist der Faktor, der die internationale Politik am stärksten destabilisiert, denn die USA versuchen, ihren Verlust an Wirtschaftsmacht durch Militarismus und koloniale Eroberungskriege zu kompensieren. Die Globalisierung des Wirtschaftslebens bedeutet, dass kein Land vor dem kommenden Sturm gefeit ist. Einmal mehr bestätigt sich der grundlegende Widerspruch im Herzen des kapitalistischen Systems zwischen globaler Produktion und der Aufteilung der Welt in antagonistische Nationalstaaten auf der Grundlage des Privateigentums. Alle Behauptungen, China könne die USA als Motor der Weltwirtschaft ersetzen, haben sich als falsch erwiesen. Die gegenseitige Abhängigkeit facht nur das Wachstum interimperialistischer Antagonismen zwischen den USA, China und den europäischen Mächten an. Sie werden zu Handelskriegen und schließlich zu militärischen Auseinandersetzungen führen.

5. Der Angriff auf den Lebensstandard von Milliarden Menschen führt dazu, dass der Klassenkampf als entscheidende Triebkraft der Weltgeschichte wieder auflebt. Gleichzeitig hat die Globalisierung riesige neue Bataillone an Arbeitern hervorgebracht, die einem gemeinsamen Feind gegenüberstehen und durch Produktionsprozesse über nationale Grenzen hinweg zusammengeschweißt werden. Ihre Kämpfe müssen bewusst vereint und auf die Eroberung der politischen Macht ausgerichtet werden. Der Staatsapparat der herrschenden Klasse muss gestürzt und durch eine Arbeiterregierung ersetzt werden, die das Wirtschaftsleben auf sozialistischer Grundlage neu organisiert.

6. Die Perspektive des proletarischen Internationalismus bedeutet nicht nur, auf die Solidarität zwischen Arbeitern in verschiedenen Ländern zu setzen. Sie muss organisatorische Form annehmen, indem die Vierte Internationale als revolutionäre Führung der Arbeiterklasse aufgebaut wird. Keine nationale Organisation kann eine revolutionäre Orientierung entwickeln oder aufrechterhalten. Das ist nur durch die ständige Zusammenarbeit mit internationalen Gesinnungsgenossen möglich. Alle Tendenzen, die dieses strategische Konzept zurückweisen und sich dabei auf nationale Unabhängigkeit und Aktionsfreiheit berufen, nehmen sich damit nur selbst die „Freiheit“, vor ihrer nationalen Bourgeoisie und dem Weltimperialismus zu kapitulieren.

7. Die Socialist Equality Party ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen Kampfs für den Aufbau einer sozialistischen und internationalistischen Partei in Großbritannien. Wer ihre Geschichte untersuchen will, muss sich mit der langen politischen Karriere von Gerry Healy beschäftigen, der wichtigsten Person, welche die britische Arbeiterbewegung hervorgebracht hat. Healy war ein gewaltiger Redner und ein begabter und energischer Organisator. Was ihn jedoch besonders auszeichnete und von all seinen Zeitgenossen unterschied, war seine Entschlossenheit, für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von den stalinistischen und sozialdemokratischen Apparaten zu kämpfen. Dies tat er unter den ungünstigen Bedingungen, mit denen die trotzkistische Bewegung während der Nachkriegsjahre konfrontiert war.

8. Dass Gerry Healy und die Bewegung, die er führte, später degenerierten, schmälert nicht die Bedeutung seines über zwanzigjährigen prinzipiellen Kampfs. Vielmehr stellt dieser eine wesentliche Grundlage der Arbeit der heutigen Socialist Equality Party dar. Während so viele andere die revolutionäre Perspektive über Bord warfen, spielte Healy jahrelang eine entscheidende Rolle im Kampf gegen den pablistischen Opportunismus, der die Vierte Internationale zu liquidieren drohte. Es war diese Standhaftigkeit, welche die Kontinuität des Trotzkismus bewahrte. Diese Kontinuität hat nichts damit zu tun, dass er ein „unfehlbarer Führer“ oder Apostel gewesen wäre. Wie in der Geschichte überhaupt, gab es auch in der trotzkistischen Bewegung Konflikte, scharfe Brüche und sogar Spaltungen. Es ist eine Geschichte voller Kämpfe. Aber dieser komplexe Prozess ist notwendig, damit die Arbeiterklasse sich ihrer revolutionären Kraft bewusst wird. Um eine neue Generation von Sozialisten hervorzubringen, muss sie die Geschichte studieren.

Reform und Revolution in Großbritannien

9. Großbritannien ist ein Land mit langer demokratischer Tradition, die bis auf die Magna Charta zurückreicht, mit einer mächtigen Kultur und Literatur von Weltrang. Als Herrscherin über das erste imperialistische Land der Welt übte die britische Bourgeoisie eine wahrhaft globale Vorherrschaft aus, welche die der heutigen USA noch in den Schatten stellt. Der gewaltige Wohlstand des „Empire, in dem die Sonne nie untergeht“, förderte gewisse negative Eigenschaften der Arbeiterklasse. Zum Beispiel verstärkte er die Zuversicht in parlamentarische Reformen, den Respekt vor der bestehenden Ordnung und ein gewisses Maß an nationaler Engstirnigkeit.

10. Großbritanniens vorherrschende Stellung fand ihren Ausdruck in einer “Arbeiteraristokratie”, die in der Arbeiterklasse eine besonders privilegierte Stellung einnahm, beispielhaft verkörpert von der Gewerkschaftsführung. Diese predigte die Tugenden der Klassenzusammenarbeit und unversöhnliche Feindschaft gegenüber dem Marxismus und der Revolution. Diese Eigenschaften prägten letztendlich den Charakter der 1906 von den Gewerkschaften gegründeten Labourpartei, einer bürgerlichen Arbeiterpartei, die sich auf die Massenorganisationen der Arbeiter stützte, sich aber der Verteidigung des Kapitalismus verschrieb.

11. Dennoch wäre es falsch, den Blick ausschließlich auf die konservativen Tendenzen in der britischen Geschichte und Arbeiterklasse zu richten. Wer dies tut, will vor allem sein eigenes politisches Programm rechtfertigen. Großbritannien ist auch ein Land abrupter politischer und gesellschaftlicher Wendungen. Die Bourgeoisie kam nach einem Bürgerkrieg an die Macht, an dessen Ende die Hinrichtung des Königs stand. In Großbritannien entstand der Kapitalismus, „von Kopf bis Fuß vor Blut und Schmutz triefend“, wie Marx es ausdrückte. Ungeheure Ungleichheit und großes soziales Elend wurden durch jede erdenkliche Form von Klassenjustiz und Unterdrückung durchgesetzt. Der Widerstand dagegen fand seinen revolutionären Ausdruck in der großen Bewegung der Chartisten für das allgemeine Wahlrecht. Diese lange Geschichte hat die Arbeiterklasse mit einer starken Klassenidentität erfüllt, einem tiefen Gewerkschaftsbewusstsein, das sie zu hartnäckigen und oft heldenhaften Aktionen befähigt hat, einem mächtigen Sinn für demokratische Rechte und einer Verpflichtung zu sozialer Gerechtigkeit und den Prinzipien der Gleichheit.

12. Trotzki betonte, dass die Arbeiterklasse im Chartismus „nicht nur ihre Vergangenheit, sondern auch ihre Zukunft“ sehen müsse:

„Das Zeitalter des Chartismus ist deshalb unsterblich, weil es in der Spanne eines Jahrzehntes in zusammengedrängter und schematischer Form die ganze Skala des proletarischen Kampfes, von Petitionen an das Parlament bis zu bewaffneten Aufständen, durchläuft. (…) Wie die Chartisten die sentimentalen Prediger der „moralischen Aktion“ rücksichtslos beiseite schoben und die Massen unter dem Banner der Revolution sammelten, wird auch dem englischen Proletariat zur Aufgabe gemacht, die Reformisten, Demokraten und Pazifisten aus ihrer Mitte herauszuwerfen und sich unter der Fahne des revolutionären Umsturzes zu sammeln.“2

13. Trotzkis schrieb diese Worte, als er begann, gegen die stalinistische Degeneration Kommunistischen Parteien, die der Dritten Internationale angeschlossenen waren, zu kämpfen. Die Erfüllung der revolutionären Perspektive, würde von denen abhängen, die sich dieser Sache verschrieben. Von diesem Punkt an war die Entwicklung des Sozialismus in Großbritannien unauflösbar mit Trotzkis Kampf zur Verteidigung des revolutionären Marxismus verbunden.

Die Theorie der Permanenten Revolution und der Oktober 1917

14. Wegweisende Perspektive der Russischen Revolution vom Oktober 1917 war Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution. Trotzki zog die Lehren aus der Niederlage der Russischen Revolution von 1905, in der die Arbeiterklasse die führende Rolle im Kampf gegen den Zarismus gespielt hatte. Bis dahin hatten die Parteien der Sozialistischen Internationale Revolutionen als nationale Ereignisse betrachtet, deren Ausgang durch innere sozio-ökonomische Faktoren bestimmt wurde. Sie gingen davon aus, dass die sozialistische Revolution in den fortgeschrittenen europäischen Ländern beginnen würde, wohingegen die weniger entwickelten wie Russland notwendigerweise vor der sozialistischen Revolution eine längere Periode kapitalistischer und bürgerlich-demokratischer Entwicklung durchmachen würden. Die Aufgabe marxistischer Parteien wurde darin gesehen, den von der nationalen Bourgeoisie angeführten revolutionären Kampf für die Schaffung einer demokratischen Republik zu unterstützen und voranzutreiben.

15. Die Revolution von 1905 zeigte die Unfähigkeit der Bourgeoisie, eine solche Rolle zu erfüllen. Sie war in eine globale, von Weltmächten beherrsche Wirtschaftsordnung integriert und ihr unterworfen. Sie wurde eingeengt durch ihre Feindschaft gegenüber dem Proletariat, das sich wegen des Eindringens des Kapitals in die größeren Städte zur dynamischsten Klasse in der russischen Gesellschaft entwickelt hatte. Im Gegensatz zu den Menschewisten argumentierten Lenin und die Bolschewisten, die politische Schwäche der Bourgeoisie bedeute, dass die Revolution von der Arbeiterklasse angeführt werden und diese im Bündnis mit den ländlichen Massen eine „demokratische Diktatur der Arbeiterklasse und der Bauernschaft“ errichten würde. Lenins Formulierung vermittelte der demokratischen Revolution einen radikalen Charakter, implizierte die Vernichtung aller Überbleibsel feudaler Beziehungen und ein Ende der autokratischen Herrschaft. Aber sie definierte weder den gesellschaftlichen Charakter der Revolution, noch den des Staates, den sie erschaffen sollte.

16. Trotzkis Einschätzung des Wesens und der Aufgaben der revolutionären Bewegung ließen ihn zum herausragenden Strategen nicht nur der Russischen Revolution, sondern der sozialistischen Weltrevolution aufsteigen. Für ihn wurde das Wesen der Russischen Revolution eher durch internationale als durch nationale Bedingungen bestimmt. Einmal an der Macht, würde die Arbeiterklasse gezwungen sein, Maßnahmen mit sozialistischem Charakter durchzuführen. Denen, die behaupteten, sozialistische Ziele könnten nicht innerhalb des wirtschaftlich rückständigen Russlands verwirklicht werden, hielt er entgegen, dass sie durch die Ausdehnung der Revolution auf die europäische und schließlich die Weltarena ermöglicht würden.

”Indem der Kapitalismus allen Ländern seine Wirtschafts- und Verkehrsweise aufdrängt, hat er die ganze Welt in einen einzigen ökonomischen und politischen Organismus verwandelt. (…) Das verleiht den sich entwickelnden Ereignissen von Anfang an einen internationalen Charakter und eröffnet eine große Perspektive: Die politische Emanzipation, geleitet von der Arbeiterklasse Russlands, hebt diese ihre Führerin auf eine in der Geschichte bisher unbekannte Höhe, legt kolossale Kräfte und Mittel in ihre Hand, lässt sie die weltweite Vernichtung des Kapitalismus beginnen, für die die Geschichte alle objektiven Voraussetzungen geschaffen hat.“3

17. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914 bestätigte diese Einschätzung. Der Krieg war das Ergebnis des Aufbrechens unüberwindbarer Widersprüche im Herzen des kapitalistischen Systems – zwischen den Nationalstaaten und der Weltwirtschaft. Der historische Verrat an der Arbeiterklasse durch die Parteien der Zweiten Internationale, die den Krieg unterstützten, bestätigte die überragende Bedeutung von Lenins Kampf gegen den Opportunismus in der russischen sozialdemokratischen Bewegung. Der Absturz der Zweiten Internationale in Sozialchauvinismus und Landesverteidigung konnte nicht durch den Hinweis auf das Fehlverhalten individueller Führer erklärt werden. Vielmehr hatten dieselben Prozesse, die den Krieg ausgelöst hatten, auch zur Korruption der höheren Schichten in der Arbeiterbewegung geführt. Die Plünderung der Ressourcen der Kolonien hatte den imperialistischen Mächten die materiellen Mittel an die Hand gegeben, mit denen sie eine Arbeiteraristokratie nähren konnte, die die gesellschaftliche Grundlage für den Opportunismus lieferte. Letztendlich fand dies seinen Ausdruck in der offenen Zurückweisung des proletarischen Internationalismus und der Allianz der sozialdemokratischen Führer mit ihren „eigenen“ Bourgeoisien. Trotzki erklärte später:

“Am 4. August 1914 hatte den nationalen Programmen unwiderruflich die letzte Stunde geschlagen. Die revolutionäre Partei des Proletariats kann sich nur auf ein internationales Programm stützen, welches dem Charakter der gegenwärtigen Epoche, der Epoche des Höhepunkts und Zusammenbruchs des Kapitalismus, entspricht. Ein internationales kommunistisches Programm ist auf keinen Fall eine Summe nationaler Programme oder eine Zusammenstellung derer gemeinsamen Züge. Ein internationales Programm muss unmittelbar aus der Analyse der Bedingungen und Tendenzen der Weltwirtschaft und des politischen Weltsystems als Ganzem hervorgehen, mit all ihren Verbindungen und Widersprüchen, das heißt mit der gegenseitigen, antagonistischen Abhängigkeit ihrer einzelnen Teile.“4

18. Nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 kehrte Lenin aus dem Exil nach Russland zurück und gab seine Aprilthesen heraus, die das vorherige bolschewistische Programm der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft praktisch zurückwiesen. Indem er die Arbeiterklasse aufforderte, sich der provisorischen bürgerlichen Regierung zu widersetzen und durch die Räte die Macht zu übernehmen, übernahm Lenin in allen wesentlichen Teilen Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution. Dies traf auf den erbitterten Widerstand vieler „alter Bolschewisten“, einschließlich Josef Stalins, Grigori Sinowjews und Leo Kamenjews, die sich wie die Menschewiken für eine kritische Unterstützung der provisorischen Regierung und – in Stalins Fall – sogar für den Krieg aussprachen.

19. Am 25. Oktober 1917 übernahm die Arbeiterklasse in Russland die Macht. Für Lenin und Trotzki stellte die Revolution den Beginn einer revolutionären Umwälzung der Welt dar, in der der Sieg der Arbeiterklasse in Europa – vor allem in Deutschland – die notwendigen wirtschaftlichen und technologischen Ressourcen für die Entwicklung des Sozialismus liefern würde. Die Gründung der Sowjetmacht auf einem Sechstel der Erdoberfläche lieferte einen mächtigen Impuls für revolutionäre Kämpfe in einer Anzahl von Ländern und 1919 wurde die Dritte (Kommunistische) Internationale gegründet.

20. Die Russische Revolution hätte ohne den weit verbreiteten Widerstand der internationalen Arbeiterklasse gegen eine Intervention der imperialistischen Mächte nicht überlebt – dazu gehörte auch die „Hände weg von Russland!“- Bewegung in Großbritannien. Aber nirgendwo außerhalb Russlands waren vor diesen Ereignissen Parteien des bolschewistischen Typs aufgebaut worden. Ohne sie waren die sozialdemokratischen Parteien in der Lage, die revolutionären Kämpfe, die in Deutschland und anderswo ausbrachen, abzuwürgen. Die daraus folgende Isolierung der Sowjetunion führte zur Degeneration des Staats- und Parteiapparats. Mit einer durch den Bürgerkrieg ruinierten Wirtschaft waren die Bolschewisten gezwungen, die Neue Ökonomische Politik einzuführen und bedeutende Zugeständnisse an die kapitalistischen Schichten in Stadt und Land zu machen. Das Ergebnis war die Stärkung konservativer gesellschaftlicher Kräfte auf dem Land, die ihren Ausdruck in einer wuchernden Staats- und Parteibürokratie fand, die über die verallgemeinerte Knappheit und Bedürftigkeit herrschte. Die Niederlage der Revolution in Deutschland 1923 lieferte den direkten Anstoß für die Verschmelzung dieser konservativen Stimmungen zu einer politischen Kampagne gegen Trotzki als dem konsequentesten Vertreter des revolutionären Flügels der Partei.

Der Stalinismus und die Degeneration der Dritten Internationale

21. Stalin ging als wichtigster Vertreter aus dieser bürokratischen Kaste hervor und vertrat die Theorie vom “Sozialismus in einem Land”, die dazu aufrief, den Sozialismus innerhalb der Grenzen der Sowjetunion zu verwirklichen. Von da an sollte sich der Kampf Trotzkis und der Linken Opposition – die 1923 gegründet wurde, um die Politik der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion zu reformieren und für eine korrekte Linie in der Kommunistischen Internationale zu kämpfen - um zwei sich unversöhnlich gegenüberstehende Konzeptionen des Sozialismus drehen. Trotzki erklärte:

“Der Abschluss einer sozialistischen Revolution ist im nationalen Rahmen undenkbar. (…) Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinn des Wortes zu einer permanenten Revolution: Sie findet ihren Abschluss nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten.“5

22. Die Arena für die ersten strategischen Konflikte zwischen der Linken Opposition und der Stalin-Fraktion war Großbritannien. Das Land war aus dem Ersten Weltkrieg erheblich geschwächt hervorgegangen, und die bolschewistische Revolution zog die fortgeschrittenen Arbeiter an. Die Labourpartei versuchte, ihren Einfluss zu bekämpfen, indem sie den Paragraphen 4 in ihr Parteiprogramm aufnahm und versprach, die beherrschenden Wirtschaftsunternehmen in gesellschaftlichen Besitz zu überführen. Aber die Bedingungen für die Gründung der Kommunistischen Partei Großbritanniens (CPGB) waren 1920 geschaffen. Vor dem Hintergrund eskalierender Klassenkämpfe wuchs der Einfluss der CPGB und erreichte seinen Höhepunkt in der Bildung der Nationalen Minderheitsbewegung, die 1924 ein Viertel aller Gewerkschaftsmitglieder umfasste. Trotzki verfolgte die Entwicklungen im Zentrum des Weltimperialismus mit großer Aufmerksamkeit. Er schrieb:

“Das Schicksal Englands nach dem Kriege verdient ein besonderes Interesse. Die starke Änderung seiner Weltlage konnte nicht ohne Einfluss auf das innere Kräfteverhältnis des Landes bleiben. Es war ganz klar: wenn es Europa, zusammen mit England, auch gelingen sollte, nach einer kürzeren oder längeren Periode ein gewisses soziales Gleichgewicht wiederzuerlangen, so konnte England zu einem solchen Gleichgewicht nur durch eine Reihe ernster Zusammenstöße und Erschütterungen kommen. Ich erachtete es als sehr wahrscheinlich, dass gerade in England ein Konflikt in der Kohleindustrie zum Generalstreik führen müsste. Daraus folgerte ich, dass sich unvermeidlich ein tiefer Gegensatz zwischen den alten Organisationen der Arbeiterklasse und ihren neuen historischen Aufgaben herausbilden müsse.“6

23. Der Generalstreik, der am 3. Mai 1926 begann, wurde durch die Aussperrung der Bergarbeiter provoziert. Er entwickelte sich zu einer praktisch zu einer Aufstandsbewegung, der sich vier der fünfeinhalb Millionen gewerkschaftlich organisierten Arbeiter anschlossen. Neun Tage lang bestand im Land eine Situation der Doppelherrschaft. Die politische Aufgabe der Sozialisten bestand darin, die Führer der Gewerkschaft und der Labour Party zu demaskieren, und insbesondere ihre „linken“ Vertreter als Eckpfeiler der kapitalistischen Herrschaft zu entlarven. Stattdessen sah die sowjetische Bürokratie, die die geringen Kräften der CPGB verachtete, die Gewerkschaften als brauchbareres Mittel zur Ausweitung des sowjetischen Einflusses und zur Führung des Klassenkampfes in Großbritannien. Trotzki erklärte:

„Die Schwächen der britischen Kommunistischen Partei jener Zeit machten es notwendig, sie so schnell wie möglich durch einen beeindruckenderen Faktor zu ersetzen. Genau da entstand die falsche Einschätzung der Tendenzen des britischen Gewerkschaftertums. Sinowjew ließ uns wissen, dass er damit rechnete, dass die Revolution ihren Auftakt nicht durch den schmalen Eingang der kommunistischen Partei, sondern durch die breiten Tore der Gewerkschaften finden werde. Der Kampf um die in den Gewerkschaften organisierten Massen durch die Kommunistische Partei wurde ersetzt durch die Hoffnung auf die schnellstmögliche Nutzung des fertigen Gewerkschaftsapparates zum Zwecke der Revolution.“7 (aus dem Englischen)

24. Die Parole der CPGB lautete: “Alle Macht dem Generalrat des TUC!“ Am 12. Mai blies der Generalrat des TUC den Streik unter tätiger Mithilfe der Linken ab und gab die Bergarbeiter der Rache der Bergwerksbesitzer preis. Das Scheitern des Generalstreiks war für die britische Arbeiterklasse eine große strategische Erfahrung. Ihr demoralisierender Effekt war über mehrere Generationen spürbar. Der Einfluss der CPGB, die mehr als zwei Drittel ihrer Mitglieder verlor, verringerte sich erheblich. Aber die Politik der stalinistischen Bürokratie führte international zu noch schlimmeren Rückschlägen, darunter zur Niederlage der chinesischen Revolution 1927 und, am schlimmsten von allem, zu den Ereignissen in Deutschland, wo die Kommunistische Partei es Hitler gestattete, im Januar 1933 ohne Gegenwehr an die Macht zu kommen. Dieser Verrat von welthistorischer Bedeutung wurde von den Parteien der (Dritten) Kommunistischen Internationale akzeptiert und zeigte an, dass sie für den Zweck der sozialistischen Revolution verloren waren. Die Wendung der führenden Schicht in Moskau hin zur Verteidigung der eigenen Privilegien fand nun direkt auf Kosten der Klasseninteressen des sowjetischen und des internationalen Proletariats statt. Trotzki schloss daraus, dass es notwendig war, die Perspektive der politischen Reorientierung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und ihrer Schwesterparteien aufzugeben und den Aufbau einer neuen, der Vierten Internationale zu beginnen.

25. Die Rückschläge, die die internationale Arbeiterklasse erlitt, stärkten die stalinistische Bürokratie weiter und fanden ihre Höhepunkte in Trotzkis Ausschluss aus der KPdSU 1927 und seiner Ausweisung aus der Sowjetunion 1929. Nichtsdestoweniger fand seine in die Tiefe gehende Kritik dieser Ereignisse innerhalb der CPGB ein Echo, gewann die Unterstützung der Balham-Gruppe, die ein Dutzend Mitglieder umfasste, unter ihnen Reg Groves und Harry Wicks. Die Gruppe arbeitete innerhalb der CPGB, und zwar unter der Führung von James P. Cannon und der amerikanischen Trotzkisten. Sie wurde 1932 aus der CPGB ausgeschlossen, als Communist League wieder gegründet und als offizielle Sektion der Linken Opposition akzeptiert.

Anmerkungen:

1.Leo Trotzki Die Dritte Internationale nach Lenin, Mehringverlag, 1993, S. 24-25

2 Leo Trotzki Wohin treibt England? Verlag Neuer Kurs, 1972, S. 107-108

3 Leo Trotzki Die Permanente Revolution, Mehringverlag, 1993, S. 239-240

4 Leo Trotzki Die Dritte Internationale nach Lenin, Mehringverlag, 1993, S. 24-25

5 Leo Trotzki Die Permanente Revolution, Mehringverlag, 1993, S. 185

6 Leo Trotzki Mein Leben, Fischer Verlag, 1974, S. 453

7 Leon Trotsky Trotsky’s writings on Britain, New Park Publications, 1974, Volume 2, S.241

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