Verdi wird bei den Angriffen auf die Beschäftigten im öffentlichen Dienst zukünftig noch enger mit der Bundesregierung, den Landesregierungen und den Kommunen zusammenarbeiten. Das bekräftigte der Kongress der Dienstleistungsgewerkschaft, der am Sonntag begann und heute zu Ende geht.
Unter dem Slogan „Stärke, Vielfalt, Zukunft“ bestätigten die über 1.000 Delegierten in Leipzig die bisherige Politik der Gewerkschaft und stärkten Frank Bsirske den Rücken, indem sie ihn erneut zum Vorsitzenden wählten.
Die ersten Punkte setzten am Sonntag Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann. Merkel verteidigte in ihrer Grußrede die Politik der letzten Jahre – die Kürzungspolitik in Deutschland und die brutale Sparpolitik gegenüber Griechenland. Sie wurde mit höflichem Applaus begrüßt und mit „starkem Beifall“, wie das Protokoll vermerkt, verabschiedet.
Hoffmann verteidigte als „Lehre aus der Weimarer Republik“ die „Einheitsgewerkschaft“ und die „Tarifeinheit“ – und damit das Tarifeinheitsgesetz, dass sich gegen kleinere Spartengewerkschaften außerhalb des DGB richtet und einen fundamentalen Eingriff ins Streikrecht bedeutet. Verdi, die aufgrund des geringen Organisationsgrads in einigen Bereichen selbst von dem Gesetz betroffen ist, bereitet angeblich eine Verfassungsklage dagegen vor. Doch Hoffmann erhielt von den Delegierten trotzdem Beifall.
Im Mittelpunkt des Interesses stand jedoch der Arbeitskampf im Erziehungs- und Sozialdienst. Gewöhnlich sorgen die Gewerkschaften dafür, dass ihre Kongresse nicht inmitten von Arbeitskämpfen stattfinden. In solchen Zeiten sehen sie sich nämlich gezwungen, aufgrund der Mobilisierung der Belegschaften zumindest in Worten Opposition gegenüber den Arbeitgebern zu heucheln, während sie gleichzeitig hinter verschlossenen Türen mit ihnen paktieren.
Auch diesmal wollte die Verdi-Spitze die Auseinandersetzung vor dem Kongress beenden. Ende Juni hatte sie das Schlichtungsergebnis im Kita-Streik zur Annahme empfohlen. Der Vorschlag der Schlichter, die Einkommen zwischen null und 4,5 Prozent zu erhöhen, hätte eine Reallohnsenkung zur Folge gehabt. Die lange Laufzeit von fünf Jahren hätte außerdem eine fünfjährige Friedenspflicht bedeutet. Trotz Bsirskes Bemühungen, den Schlichterspruch mit bürokratischen Tricks, Manövern und Drohungen durchzuboxen, lehnten ihn schließlich fast 70 Prozent der Verdi-Mitglieder ab.
Beobachter hatten erwartet, dass der Vorsitzende Bsirske durch dieses Misstrauensvotum geschwächt werde. Viele hielten sogar seine schon ausgemachte Wiederwahl nicht mehr für sicher. Doch der Kongress zeigte erneut, dass die in Reden viel beschworene „Basis“ innerhalb der Gewerkschaft nichts zu sagen hat.
Am Montag ging Bsirske auf den Konflikt im Sozial- und Erziehungsdienst ein. Verdi bereite sich auf die Fortsetzung des Streiks ab Mitte Oktober vor, behauptete er und kündigte eine „massive Eskalation des Konflikts“ an. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall. Vorbereitet werden wieder so genannte „Flexi-Streiks“. Damit sind vereinzelte regionale Streiktage gemeint, die erstens den Unmut der Eltern hervorrufen, weil sie unangekündigt durchgeführt werden, und zweitens die Streikenden voneinander isolieren.
Ob es überhaupt so weit kommt, ist zudem alles andere als sicher. Bsirske deutete an, dass er erneut einen Ausverkauf plant. „Allen“ sei klar, sagte er, dass sich „eine jahrzehntelang gewachsene Lohndiskriminierung nicht im Handstreich beseitigen“ lasse. An die öffentlichen Arbeitgeber gerichtet appellierte er: „Ohne einen Schritt aber, der für die Beschäftigten Verbesserung bringt, ist dieser Tarifkonflikt nicht beizulegen.“
Schon nächste Woche will sich Verdi erneut mit den öffentlichen Arbeitgebern treffen, um den Arbeitskampf zu beenden.
Bsirske stellte sich und seiner Gewerkschaft im „Kerngeschäft Tarifpolitik“ eine „positive Bilanz“ aus. Er verteidigte den Ausverkauf des Streiks an der Berliner Universitätsklinik Charité genauso wie des Streiks bei der Post. Dort hatten sich die Beschäftigten gegen die Ausgliederungen in eine firmeneigene Billigtochter gewehrt.
„Zwar konnte die Ausgründung nicht mehr rückgängig gemacht werden, aber durch den Streik wurde erreicht, die bei der Post AG beschäftigten Paketzusteller abzusichern“, rechtfertigte Bsirske den Ausverkauf. Wie bei jedem Kompromiss müsse gesehen werden, was überwiege: Erfolg oder Misserfolg. „Und hier überwiegt eindeutig der Erfolg der Streikenden.“ Das Protokoll vermerkt am Ende von Bsirskes Rede: „Starker, anhaltender Beifall.“
Nur einen Tag später wurde Bsirske dann mit 88,5 Prozent der Stimmen wieder zum Vorsitzenden gewählt. Der 63-Jährige führt Verdi nun zum fünften Mal, seit sie im Jahr 2001 durch den Zusammenschluss mehrerer Gewerkschaften gegründet wurde. Einen Gegenkandidaten gab es nicht. Das Ergebnis ist zwar das bisher schlechteste für Bsirske, aber angesichts der Bilanz von Ausverkäufen stärkt es ihm den Rücken.
Im Laufe der Debatten sei deutlich geworden, dass die etwas mehr als 900 Delegierten nicht auf größeren Krawall erpicht seien, berichtete die Süddeutsche Zeitung. „Mehrere Redner gaben zu erkennen, dass sie dem Vorstand dessen Zustimmung zum Schlichterspruch im Kita-Konflikt Ende Juni vorerst nicht übel nehmen.“
In seiner Grundsatzrede am Mittwoch kritisierte Bsirske dann pflichtgemäß die Politik seiner eingeladenen Gäste. Neben der Bundeskanzlerin trat auch Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) auf dem Kongress auf, die für das „Tarifeinheitsgesetz“ verantwortlich ist. Bsirske kritisierte die Erosion der Arbeits- und Lebensbedingungen, die weltweit wachsende soziale Ungleichheit usw. Die Delegierten feierten ihren Vorsitzenden mit stehenden Ovationen.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung ließ sich nicht täuschen. Sie kommentierte: Seine „Zwischentöne legen nahe, dass er sich derzeit in der als chaotisch-kämpferisch bekannten Gewerkschaft um einige wesentliche Akzentverschiebungen bemüht.“ Bsirske habe sich geradezu demonstrativ der Versuchung enthalten, den Saal zum Kochen zu bringen. „Im Gegenteil, das Schlüsselthema seiner Rede war eine nüchterne und selbstkritische Analyse notwendiger Veränderungen der eigenen Organisation.“
Das große ungelöste Problem sei, so Bsirske, „dass wir viele jung eingetretene Mitglieder nach nur wenigen Jahren wieder verlieren“. Der Anteil der Jugendlichen an den Verdi-Mitgliedern liege mit 5,6 Prozent drei Prozentpunkte unter dem Durchschnittswert im DGB. Das Durchschnittsalter der Verdi-Mitglieder sei seit 2002 um mehr als vier Jahre gestiegen und liege heute über 52 Jahren, bedauerte Bsirske.
Was Bsirske umtreibt, ist die Gefahr, dass jüngere Schichten von Arbeiterinnen und Arbeitern sich von Verdi und den Gewerkschaften abwenden und sich deren Kontrolle entziehen. Bsirske will Verdi erhalten, damit sie sozialen Widerstand einfängt und dem Status Quo unterordnet. Dafür werden ihre Funktionäre fürstlich belohnt. Die über 1000 Delegierten –zum Großteil hauptamtliche Funktionäre oder freigestellte Personal- und Betriebsräte – stellten sich hinter ihn.