Misstrauensvotum gegen Verdi

Schlichterspruch im Kita-Streik von siebzig Prozent abgelehnt

Im Tarifkampf der Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst haben die Mitglieder der Gewerkschaften den Schlichterspruch vom 22. Juni mit überwältigender Mehrheit abgelehnt. Bei Verdi stimmten über 69 Prozent und bei der GEW 68,8 Prozent der Mitglieder mit “Nein“, und auch beim Deutschen Beamtenbund dbb waren über sechzig Prozent dagegen.

Damit widerspricht die Mitgliedschaft klar dem Votum der Gewerkschaftsführung. Diese war von Anfang an entschlossen, den Arbeitskampf noch vor Herbstbeginn einzustellen. Sie arbeitet eng mit den öffentlichen Arbeitgebern zusammen und akzeptiert letztlich die Prämisse der Regierung, dass die arbeitende Bevölkerung die Kosten der Krise wird tragen müssen.

Am Samstag zeigte eine Streikdelegiertenkonferenz in Fulda einmal mehr, wie sehr es an der Basis brodelt. „Es gibt Ärger und Wut und totales Unverständnis, wie man nach so einem Arbeitskampf mit so einem Ergebnis aus der Schlichtung gehen kann“, zitierte die Frankfurter Rundschau eine Teilnehmerin der Konferenz in Fulda. Eine andere sagte dem Nachrichtensender Phoenix: „Die Zahlen, die in den Medien verbreitet werden, entsprechen gar nicht dem, was bei den Erzieherinnen ankommt. Es ist einfach zu wenig.“

Diese Teilnehmerin der Streikdelegiertenkonferenz deutete auch an, dass sich bei der Abstimmung in Wirklichkeit weit über achtzig Prozent gegen das Ergebnis ausgesprochen hätten. In der Tat gibt es an der Art und Weise, wie die Urabstimmung durchgeführt wurde, erhebliche Zweifel und Kritik.

Zunächst wurde die Abstimmung bis tief in die Urlaubszeit hinausgezögert. Danach wurden offenbar nicht alle Dienststellen erreicht und ein Teil der Mitglieder nur über Email aufgerufen, sie sollten sich in den Verdi-Geschäftsstellen melden. Hinzu kommt, dass möglicherweise bei der Auszählung Stimmen verhinderter Mitglieder als „Enthaltungen“ gewertet wurden und dadurch das Ergebnis verzerrt wurde. Man kann davon ausgehen, dass die Ablehnung in Wirklichkeit deutlich über 75 Prozent liegt.

Der Schlichterspruch, den die Gewerkschaftsmitglieder so klar zurückgewiesen haben, hatte den Charakter eines Knebelvertrages. Mit ihm hätten sich die Beschäftigten verpflichten, den Kampf um eine höhere Eingruppierung fünf Jahre lang, bis Juni 2020, nicht wieder aufzunehmen. Laut diesem Spruch würden die Erzieherinnen und Sozialarbeiter zwischen Null und 4,5 Prozent mehr verdienen, was praktisch einer Reallohnsenkung gleichkäme.

Die meisten Erzieherinnen würden gerade mal dreißig Euro mehr erhalten, und die Sozialarbeiter/innen und Sozialpädagogen/innen würden zum großen Teil vollständig leer ausgehen. Das Ergebnis würde sich direkt und indirekt auf Löhne und Gehälter von über einer halben Million Beschäftigten, nicht nur im öffentlichen Dienst, sondern auch bei freien und kirchlichen Trägern auswirken.

Am Dienstag erklärte die Bundestarifkommission der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi die Schlichtung für gescheitert, beschloss aber keine konkreten Arbeitskampfmaßnahmen. Am Donnerstag finden neue Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite statt. Verdi-Chef Bsirske kündigte für die Zeit nach der Sommerpause an, man werde „unkonventionelle Streikformen finden, die wir mit den Streikenden zusammen festlegen“.

Die GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) machte schon am Samstag deutlich, dass sie keinen neuen Streik will und das Abstimmungsergebnis rein bürokratisch auslegen möchte. „Das von der Satzung geforderte Quorum für eine Urabstimmung – mindestens 75 Prozent müssen für den Streik stimmen – wurde klar verfehlt“, heißt es auf der GEW-Website. Daneben steht der Vorschlag, jetzt für ein „Kita-Qualitätsgesetz“ zu kämpfen. Damit werden Hoffnungen in das Parlament geschürt, die ausschließlich dazu dienen, den Arbeitskampf abzuwürgen.

Die Arbeitgeber regierten wütend auf die Ablehnung des Schlichterspruchs. Thomas Böhle, Verhandlungsführer des VKA (Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände) sagte der Passauer Neuen Presse: „Ich sehe keine Luft nach oben … die Kassenlage ist schlecht“. Böhle ist Sozialdemokrat und verkörpert wie kaum ein anderer die Arroganz und Aggressivität der kommunalen Führungsschicht. Als er vor gut zehn Jahren die Leitung der kommunalen Arbeitgeberverbände übernahm, schrieb Die Welt über ihn: „Der Personalchef der Stadt München arbeitet, oder besser gesagt residiert in einem riesigen Erkerzimmer im dritten Stock des Münchner Rathauses, ausgestattet mit Stuckdecke, hellem Teppichboden und reichlich moderner Kunst...“

Sein Standardargument lautet, die Kassenlage sei schlecht, und für die sozialen Dienste sei kein Geld da. Das wirft die Frage auf, wer die Kassen geplündert hat und wofür die Steuergelder verwendet werden. Alleine in den vergangenen Wochen, während der Mitgliederbefragung, wurde von der Bundesregierung entschieden, weitere acht Milliarden Euro für militärische Aufrüstung auszugeben. Für den Aufbau der Armee und des Sicherheitsapparats stehen nahezu unbegrenzte Mittel zu Verfügung.

Verdi-Chef Frank Bsirske ist auf höchster politischer Ebene vernetzt und unterstützt diese Politik. Er hatte im Juni den Schlichterspruch mit ausgearbeitet und unterschrieben, sieht sich nun aber mit einer scharfen Ablehnung in der Mitgliedschaft konfrontiert und ist gezwungen, Kreide zu fressen.

Auf einer Pressekonferenz am Montag sagte er, die Abstimmung habe eine „beispiellos klare Mehrheit“ für Ablehnung erbracht. Auf den Versammlungen der Streikdelegierten sei es zu „äußerst agilen Diskussionen“ gekommen. „Ich kenne keinen Fall der letzten fünfzig Jahre mit einer vergleichbaren Ablehnung seitens der Mitglieder“, sagte Bsirske. Er nehme das Votum „als Handlungsauftrag ernst“ und empfehle jetzt, „die Schlichtung für gescheitert zu erklären“.

Bsirskes taktischer Rückzug dient nur dazu, Zeit zu gewinnen, um den Widerstand in den eigenen Reihen zu unterdrückten. Derselbe Bsirske hatte auf der Streikdelegiertenkonferenz vom 24. Juni in Frankfurt den Delegierten gedroht, wer den Streik fortsetze, werde am Ende alles verlieren und „verbrannte Erde“ und „zerrüttete Verhältnisse“ hinterlassen. Den miserablen Schlichtungsspruch hatte Bsirske begrüßt und als „Schritt in die richtige Richtung“ bezeichnet.

In der Pressekonferenz am Montag bestätigte Bsirske erneut, dass die Gewerkschaft im Juni aus freien Stücken die Schlichtung angerufen und den Streik abgewürgt hatte. Er sagte: „Angesichts der Alternative einer Fortführung des Streiks ist dann gemeinsam [mit der Arbeitgeberseite] die Schlichtung angerufen worden … Sie hat zu einer gemeinsamen, von beiden Schlichtern abgegebenen Empfehlung geführt … Wir haben das Ergebnis als einen Schritt in die richtige Richtung angesehen.“

Bsirske wies am Montag auf das zentrale Motiv, das sowohl die Arbeitgeberseite als auch die Gewerkschaft bewegt. Er sagte, die Haltung der Arbeitgeberseite sei „im Wesentlichen von der Sorge geprägt, es könnte überspringen auf andere Berufe, etwa im Kranken- oder Altenbereich, also auf soziale Berufe, die ebenfalls traditionell lohndiskriminiert sind. Aus meiner Sicht ist das der zentrale Grund für die Verweigerungshaltung.“

Verdi war Anfang Juni gerade in dem Moment freiwillig in die Schlichtung gegangen (und hatte der damit verbundenen Friedenspflicht zugestimmt), als sich abzeichnete, dass der Streik in der gesamten Bevölkerung wachsende Unterstützung erhielt, und als auch die Postler und die Charité-Mitarbeiter sich anschickten, in den Streik zu gehen.

Hauptsorge der Gewerkschaftsführung war es, die Kontrolle zu wahren und der Merkel-Regierung, den öffentlichen Arbeitgebern und der Kapitalseite den Rücken freizuhalten. Sie waren nicht nur mit großen Teilen des öffentlichen Dienstes in Deutschland, sondern auch mit dem Widerstand der Bevölkerung in Griechenland konfrontiert, die sich dann im Referendum vom 5. Juli klar gegen das Schäuble-Diktat der EU aussprachen.

Die Erzieher/innen und Sozialarbeiter/innen sind an einem entscheidenden Wendepunkt angekommen. Sie können den Arbeitskampf um Löhne und Arbeitsbedingungen nur ernsthaft weiterführen, wenn sie die Abstimmung gegen den Schlichterspruch zum Auftakt einer Rebellion machen, um die Kontrolle von Verdi zu durchbrechen und den Arbeitskampf in die eigenen Hände zu nehmen.

Gewerkschaftsführer wie Bsirske stehen auf der anderen Seite. Die DGB-Funktionärselite gehört zur reichen Oberschicht und vertritt völlig andere Interessen, als die betroffenen Heilpädagogen, Erzieherinnen und Sozialarbeiter. Frank Bsirske zum Beispiel hat ein Jahreseinkommen, das deutlich über einer halben Million Euro liegt und zum großen Teil aus mehreren Aufsichtsratsposten stammt. Er sitzt (oder saß) im Aufsichtsrat der Deutschen Bank, der Postbank, von IBM, Lufthansa und RWE und im Verwaltungsrat der Kreditanstalt für den Wiederaufbau.

Die Parteien, denen die Gewerkschaftsführer angehören, die SPD, die Grünen und die Linkspartei, sind gemeinsam mit der CDU für die chronische Finanzknappheit der Kommunen verantwortlich. Sie haben seit Jahren die Steuersenkungen für Reiche, die Schuldenbremse und auch die wachsende Umleitung öffentlicher Gelder auf die Kriegsvorbereitungen unterstützt.

Wie die World Socialist Web Site und die Partei für Soziale Gleichheit (PSG) immer betont haben, stehen Arbeiter und Angestellte in den Streiks der vergangenen Wochen und Monate – Kita-Streik, GDL-Streik, Postlerstreik und Streik bei der Charité – vor politischen Aufgaben. Es ist notwendig mit den beschränkten, nationalistischen Konzepten der Gewerkschaften zu brechen und einen gemeinsamen Kampf aller betroffenen Arbeiter in allen Betrieben und Verwaltungen zu organisieren, der auch die Arbeiter anderer Länder, die vor denselben Problemen stehen, einbezieht. Das erfordert eine internationale sozialistische Perspektive und eine neue revolutionäre Partei.

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