Heftige Turbulenzen an der Mailänder Börse haben im Januar den Blick auf Italiens tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise freigelegt. Gleichzeitig hat sich der Konflikt der italienischen Regierung mit der EU-Kommission verschärft. Premier Matteo Renzi (PD) reagiert darauf mit neuen, scharfen Angriffen auf die Arbeiterklasse.
Auf der ganzen Welt haben die Börsen zum Jahresbeginn 2016 einen deutlichen Abschwung erlebt. Davon war die Börse von Mailand besonders betroffen. Zwar litten alle europäischen Aktienmärkte unter dem schwachen chinesischen Wirtschaftswachstum und dem Rückgang der Erdölpreise, aber „abgesehen von Athen, war die Mailänder Börse … mit Abstand am schwersten betroffen“, wie die Neue Zürcher Zeitung am 21. Januar schrieb.
Mitte Januar stürzten die Aktienkurse mehrerer wichtiger Banken und Unternehmen steil ab. Die schlimmsten Verluste erlitten die Fiat-Aktien, die Bank UniCredit, die Bank Monte dei Paschi di Siena und die Carige-Bank.
Der Wert der Bank Monte dei Paschi di Siena (MPS), der ältesten Bank der Welt (gegründet 1472), wurde vorübergehend halbiert, und der Marktwert ihrer Aktie fiel auf nur noch fünfzig Cent. Die Bank musste vom Handel genommen werden. Am 24. Januar beschloss die Regierung, sie mit einer Garantie des Finanz- und Wirtschaftsministerium vor dem Konkurs zu retten.
Die MPS-Bank ist eine von sechs italienischen Banken, die offenbar größere Bestände an faulen Krediten halten. Bei einem Nettovermögen von zehn Milliarden Euro soll die Summe der faulen Kredite 24 Milliarden Euro betragen. Wie die Europäische Zentralbank in einer Datenerhebung zum Jahresende festgestellt hat, befinden sich in den Büchern der italienischen Banken faule Kredite über mindestens 200 Milliarden Euro.
Die Zahlen widerspiegeln die Schwäche der italienischen Wirtschaft nach über fünf Jahren Rezession. Siebzehn Prozent der Kredite, die die italienischen Banken heute halten, sind nach EU-Angaben ausfallgefährdet. Im Vergleich dazu sind es (nach Angaben der Royal Bank of Scotland) in Deutschland zwei Prozent und in Frankreich sieben Prozent.
Folgender Vergleich macht die Krisenhaftigkeit der italienischen Wirtschaft deutlich: Während vor sechs Jahren die kleinen und mittleren Unternehmen noch das Potential hatten, neunzig Prozent ihrer Bankkredite zurückzuzahlen, sind es heute gerade noch 72 Prozent.
Schon im November 2015 waren vier kleinere Banken in die Krise geraten: die Banca Popolare dell’Etruria in Arezzo, die Banca Marche in Ancona und zwei Sparkassen in Chieti und Ferrara. Die italienische Regierung sprang den notleidenden Kredithäusern nicht mit staatlichen Hilfspaketen bei, weil die EU eine Staatsfinanzierung maroder Banken inzwischen verbietet.
Die neue Wettbewerbsregelung der EU untersagt staatliche Hilfen mit dem Geld der Steuerzahler, wie sie nach der Börsenkrise von 2008 in fast allen europäischen Ländern zum Einsatz kamen. An die Stelle des „Bail-outs“ ist ein so genanntes „Bail-in“ getreten, was bedeutet, dass die Bankkunden mit ihren eigenen Einlagen für eine Krise ihrer Bank einstehen müssen.
Die neue EU-Regelung, die vorgeblich verhindern soll, dass Steuergelder zur Rettung maroder Banken eingesetzt werden, entpuppt sich zusehends als eine neue Falle für Kleinanleger und Sparer, darunter Tausende Rentner. Im Fall der vier betroffenen Sparkassen haben 12.500 Sparer ihre Ersparnisse verloren.
Die Bankiers nutzten eine Bestimmung der neuen EU-Regelung, der zufolge sie bei Schieflage ihrer Bank nicht nur Bankkunden mit über 100.000 Euro Einlage zur Haftung heranziehen können, sondern auch die Halter nachrangiger Finanzpapiere. Solche Schrottpapiere waren offenbar massenhaft an ahnungslose Kleinsparer verkauft worden.
Ende 2015, als die Bankkrise akut wurde, verloren viele dieser Anleger ihr ganzes Erspartes. Dramatische Schicksale waren die Folge: In Civitavecchia erhängte sich ein 68-jähriger Rentner, ein ehemaliger Angestellter des staatlichen Energiekonzerns ENEL, als er erfuhr, dass sich seine kompletten Ersparnisse bei der Banca Popolare dell’Etruria in Luft aufgelöst hatten. Dieser Fall und ähnlich gelagerte Fälle von hunderten betroffenen Sparern, vor allem Rentnern, lösten eine Protestwelle aus.
Schließlich legte die Regierung – im Hinblick auf die bevorstehenden Kommunalwahlen – einen „Solidaritätsfonds“ über einhundert Millionen Euro für die betroffenen Kleinsparer auf, womit jedoch bei weitem nicht alle Verluste abgedeckt werden. Mit solchen Aktionen verschärfte der Finanzminister aber den Konflikt mit der EU.
Seit Monaten schwelt ein erbitterter Streit zwischen der Regierung von Matteo Renzi (Demokraten) und der Europäischen Union. Unter Führung der deutschen Regierung zwingt die EU wirtschaftlich schwächeren Ländern wie Griechenland, Spanien und Italien seit Jahren einen brutalen Sparkurs auf.
Schon im Fall des Stahlwerks Ilva hatte die EU-Kommission Renzi beschuldigt, zu viele staatliche Hilfen erlaubt und dadurch den europäischen Wettbewerb verzerrt zu haben. In der Frage einer italienischen „Bad Bank“, die Italien seit langem einrichten will, damit die Banken ihre Problem-Darlehen auslagern können, reagierte die EU erst, als die Börsenkrise schon in vollem Gange war.
Am 26. Januar erlaubte die EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager schließlich der italienischen Regierung, eine „Bad Bank“ einzurichten. Der Vertrag, den Finanzminister Pier Carlo Padoan in Brüssel unterzeichnete, war jedoch mit so strengen Auflagen verbunden, dass er die Börsenpanik nicht beruhigen konnte. Bloomberg zitierte dazu einen Vertreter der Investoren: „Der Vertrag kann den Banken helfen, einen Teil ihrer zweifelhaften Außenstände loszuwerden, aber er wird das Problem nicht lösen, besonders nicht für die schwächsten Finanzhäuser, die ohne Zweifel frisches Kapital benötigen.“
Am Dienstag, den 2. Februar, gab die italienische Staatsbank eine Rekordanleihe über neun Milliarden Euro mit dreißigjähriger Laufzeit heraus. Dies sei „die bisher größte Ausgabe, die Italien gemacht hat, und die wichtigste mit dreißigjähriger Laufzeit, die ein europäischer Souverän je getätigt hat“, erklärte Frédéric Gabizon von HSBC. Doch schon zwei Tage später, am 4. Februar, sackte die Börse von Mailand erneut deutlich ab.
Das Staatsdefizit Italiens ist 2015 auf 132,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gestiegen, das sind weit über zwei Billionen Euro. Eine größere Staatsverschuldung hat nur Griechenland.
Unter dem Druck der Europäischen Union hat die Regierung Renzi deshalb die scharfen Sparmaßnahmen, die sie schon seit zwei Jahren durchführt, noch einmal massiv verschärft und weitgehende Kürzungen im öffentlichen Dienst eingeleitet. Ein neues Gesetz, das angeblich den Kampf gegen die „Fannulloni“, die Drückeberger im öffentlichen Dienst, aufnimmt, erleichtert dem Staat die ohnehin geplanten Entlassungen und Stellenstreichungen.
Schon die bisherigen Angriffe auf Rentner und Arbeiter haben die Polarisierung enorm verschärft und die sozialen Spannungen erhöht. Die massive Anhebung des Renteneintrittsalters hat Millionen Senioren in akute Altersarmut gestürzt. Die Liberalisierung des Arbeitsmarktes hat zwar die Arbeitslosenzahlen leicht gedrückt, aber zwei von drei neu geschaffenen Stellen sind befristete und prekäre Arbeitsplätze, Zeitverträge oder Billiglohnjobs.
Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei 11,6 Prozent und die der Jugendarbeitslosigkeit bei 38 Prozent. In Wirklichkeit ist die Arbeitslosigkeit aber viel höher, da über 36 Prozent der arbeitsfähigen Italiener aus der Statistik herausgefallen sind. Sie werden als „Inaktive“ gezählt, da sie sich im vorangegangenen Monat nicht aktiv und nachweislich um Arbeit beworben haben. Dies bedeutet für Jugendliche zwischen fünfzehn und 24 Jahren, dass eine viel größere Zahl von ihnen ohne Arbeit und Ausbildung ist.
Hinter den nackten Zahlen verbirgt sich eine Entwicklung von erheblicher sozialer Sprengkraft. Täglich kommt es zu Konflikten der Polizei mit obdachlosen Hausbesetzern oder Jugendlichen und Arbeitern, die um ihre Jobs und Zukunft kämpfen wollen, wie die Arbeiter von Ilva, die Anfang Januar kurzerhand das Rathaus von Genua besetzten. Die Zustände in Italien unterscheiden sich kaum mehr von denen in Griechenland.