Diese Woche in der Russischen Revolution

13.–19. November: Die Sowjetmacht dehnt sich auf ganz Russland aus

Nach der Machtübernahme vom Oktober in Petrograd wird die Sowjetmacht auf ganz Russland ausgedehnt. Inzwischen spitzt sich der Konflikt mit den „Gemäßigten“ in der bolschewistischen Führung zu. Sie vertreten die nationalistische Perspektive einer Koalitionsregierung mit Menschewiki und Sozialrevolutionären.

Russland, 13.–14. November (31. Okt.–1. Nov.): Bolschewiki siegen in einer russischen Stadt nach der andern

Leo Trotzki spricht zu Roten Garden, 1918

Ein Kosakenheer versucht am 13. November (31. Oktober nach alter, julianischer Zeitrechnung), in Petrograd einzudringen und die Sowjetmacht zu überwältigen. Die Kosaken unter General Krasnow stehen immer noch loyal zur Kerenski-Regierung. Auf einer Hügelkette etwa 15km südlich von Petrograd, bekannt als Pulkowo-Höhen, schließen Rote Garden und andere sowjetische Kräfte unter Trotzkis Führung die Verteidigungslinie. Krasnows Kosaken sind bereit, jeden Widerstand niederzureiten und in der Hauptstadt „rasch wieder Ordnung herzustellen“. Sie sind aber auf die kühne Verteidigung der Stadt nicht vorbereitet. Nach einer blutigen Schlacht löst sich die Kosakeneinheit auf und lässt ihren Tross auf dem Feld zurück.

In den Tagen nach der Oktoberrevolution in Petrograd wird im gesamten früheren Zarenreich die Sowjetmacht in einer Stadt nach der andern etabliert. Am 13. November übernimmt in Baku der Sowjet die Macht, und am 14. November in Taschkent. Bis zum Abend des 14. (1.) Novembers hat die Sowjetmacht die Städte Jaroslaw, Twer, Smolensk, Rjasan, Nischni Nowgorod, Kasan, Samara, Saratow, Rostow und Ufa erobert.

Virginia, 14. November: „Nacht des Terrors“ für inhaftierte amerikanische Suffragetten

Mahnwache von Frauenrechtlerinnen vor dem Weißen Haus, 1917

Weil sie eine Mahnwache für das Frauenstimmrecht vor dem Weißen Haus abgehalten haben, sind 33 Suffragetten im Arbeitshaus Occoquan im ländlichen Nord-Virginia eingesperrt. Dort werden sie in dieser Nacht brutal angegriffen. Auf direkte Anweisung der Gefängnisdirektorin W.H. Whittaker greifen mehrere Dutzend Schließerinnen die Frauen an, unter denen sich auch eine 73-Jährige befindet.

Gefängnisaufseherinnen schlagen, treten, würgen die Frauen und schleudern sie gegen Zellenwände und auf den Boden. Lucy Burns, eine Führerin der militanten Nationalen Frauenpartei (NWP), die mehrere Tage lang die Mahnwachen vor dem Weißen Haus organisiert hat, wird in Handschellen gelegt, und ihre Arme werden an die Gitterstäbe über ihrem Kopf angekettet. So muss sie bis zum nächsten Morgen aushalten.

Die unterschiedlichen Fraktionen der Frauenbewegung unterstützen die Teilnahme der USA an dem Großen Krieg. Einige gehen so weit, dass sie den Aufruf Wilsons an die Frauen unterstützen, ihre Forderungen bis nach Ende der Feindseligkeiten zurückzustellen. Die Sufragetten der NWP stellen im Gegensatz dazu allerdings die Heuchelei von Wilsons „Krieg für Demokratie“ in Europa heraus, denn in Amerika haben Frauen nicht einmal das Recht, ihre Stimme abzugeben.

Die brutale Behandlung der inhaftierten NWP-Mitglieder durch die Polizei und das Gefängnissystem ist die Rache für den Widerstand gegen Wilson und Bestandteil einer breiten Repressionskampagne, zu der auch die Zwangsernährung von hungerstreikenden Gefangenen gehört. Alice Paul, eine Führerin der NWP, wird in einem Gefängnis in Washington DC in Isolationshaft gehalten, wo sie mit rohen Eiern durch einen Ernährungstrichter zwangsernährt wird.

Die Praxis, die Arme von Gefangenen mit Handschellen hoch über ihrem Kopf zu fixieren, ist weit verbreitet. Der berüchtigste Fall, bei dem diese Technik angewandt wird, ist der Fall der Kriegsdienstverweigerer Joseph und Michael Hofer. Die beiden Brüder, Hussiten aus South Dakota, weigern sich bei der Aushebung, die Uniform zu tragen. Ein Kriegsgericht verurteilt sie zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit in Alcatraz. Bis Ende 1918 werden die Brüder immer wieder gefoltert, bis das US-Militär sie schließlich nach ihrer Überführung ins Fort Leavenworth (Kansas) ermordet.

Moskau, 15. (2.) November: Militärisches Revolutionskomitee proklamiert den Sieg

Dokument über die Machteroberung in Moskau, unterzeichnet von Nikolai Muralow

Nach Tagen heftiger Kämpfe kann das Militärische Revolutionskomitee von Moskau (bestehend aus vier Bolschewiki und drei Sozialrevolutionären) endlich den Sieg erklären. Nikolai Muralow, der den Aufstand der Roten Garden geleitet hat, wird zum Moskauer Stadtkommandanten ernannt.

Anders als in Petrograd hat sich der blutige Kampf in Moskau tagelang hingezogen. Er hat kurz nach der Machteroberung in Petrograd am 2. November (25. Oktober) begonnen. Den konterrevolutionären Kräften steckte die vernichtende und unerwartete Niederlage von Petrograd in den Knochen, und sie versuchten mit aller Macht zu verhindern, dass Moskau an die Bolschewiki fällt. Obwohl in der Minderheit, ist es den Junkern gelungen, bolschewistische Kräfte im Kreml tagelang einzukesseln. Nur mit Hilfe aus Petrograd, aus Iwanowo-Wosnessensk und von der baltischen Flotte gelingt es, die konterrevolutionären Kräfte zu besiegen.

Grund dafür, dass sich der Kampf so in die Länge zieht, ist nicht nur die geringere Konzentration der Arbeiterklasse und militanten Matrosen und Soldaten in der Moskauer Region und der verzweifelte Versuch der Konterrevolution, in dieser Stadt den bolschewistischen Aufstand zu verhindern. Auch die Unschlüssigkeit der bolschewistischen Führung selbst spielt eine Rolle. Muralow wird später in Berichten über den Moskauer Aufstand wiederholt den Wankelmut der Führung, sich selbst eingeschlossen, kritisieren.

Verantwortlich für die Koordination des Moskauer Aufstands ist das Mitglied des Zentralkomitees Viktor Nogin. Er gehört dem rechten Flügel an, der zunächst gegen die Erhebung in Petrograd auftrat und später die Bildung einer „Koalitionsregierung“ mit denselben Parteien befürwortet hat, die gerade besiegt worden waren. Diese Positionen drücken sich in Nogins unentschlossener Haltung zur Machteroberung in Moskau aus. Dort geht das Militärische Revolutionskomitee insgesamt schwächer und weniger entschieden vor als in Petrograd.

Paris, 15. November: Clemenceau wird Ministerpräsident Frankreichs

Karikatur von Robert Minor, in: The Liberator, 1920

Die Antwort der französischen herrschenden Klasse auf die bolschewistische Revolution ist die Ernennung von Georges Clemenceau zum Premierminister.

1906 hat Präsident Raymond Poincaré Clemenceau schon einmal zum Ministerpräsidenten ernannt. Für diese Position hatte er sich durch die Entsendung des Militärs als Innenminister gegen streikende Arbeiter qualifiziert. In den ersten Jahren des Großen Kriegs ohne Staatsamt, hat Clemenceau seine Zeitung ausgenutzt, um eine Kampagne gegen den „Boloismus“ zu führen, d.h. gegen Tendenzen in der herrschenden Klasse, denen er vorwirft, eine Verständigung mit Deutschland zu suchen.

Clemenceau ist Herausgeber einer Zeitung der Radikalsozialisten und glühender Patriot. Seine Ernennung kommt in einem Moment größter Gefahr für die französische Bourgeoisie. Die katastrophale Nivelle-Offensive vom Frühjahr 1917 hat schon wiederholt zu Meutereien in der Armee geführt. In den Städten breiten sich Streiks und Hungeraufstände gegen die Inflation aus. Als die italienische Armee sich in der Schlacht von Caporetto fast auflöst, droht der Zusammenbruch der Südfront der Alliierten. Darüber hinaus hat die Ostfront infolge der bolschewistischen Oktoberrevolution praktisch aufgehört zu existieren. Der Appell der Bolschewiki für Frieden und Sozialismus droht eine europaweite Revolution auszulösen.

Clemenceaus Ernennung entspricht der Reaktion des französischen Staats darauf: Krieg bis zum bitteren Ende gegen Deutschland und Unterdrückung der Arbeiterklasse. Trotzki wird sich in „Mein Leben“ an Clemenceaus besonderen Hass auf die Bolschewiki erinnern:

Gleich bei Beginn musste ich ganz unerwartet in diplomatische Verhandlungen mit dem – Eiffelturm treten. In den Tagen des Aufstandes waren wir nicht dazu gekommen, uns für das ausländische Radio zu interessieren. Jetzt aber, in meiner Eigenschaft als Volkskommissar des Auswärtigen, hatte ich zu verfolgen, wie sich die kapitalistische Welt zum Umsturz verhielt. Es ist unnötig zu sagen, dass keine Begrüßungen eintrafen … Wenn aber Berlin und Wien immerhin zwischen der Feindschaft gegen die Revolution und der Hoffnung auf einen vorteilhaften Frieden schwankten, so sandten alle anderen Länder, nicht nur die kriegführenden, sondern auch die neutralen, in verschiedenen Sprachen die Gefühle und Gedanken der von uns gestürzten herrschenden Klassen des alten Russland durch den Äther. In diesem Chor tat sich durch seine Raserei der Eiffelturm hervor, der in jenen Tagen auch russisch zu sprechen begann, damit offenbar direkte Wege zum Herzen des russischen Volkes suchend. Beim Verfolgen des Pariser Senders schien es mir manchmal, als säße auf der Spitze des Turms Clemenceau selbst. Ich hatte ihn als Journalisten genügend gekannt, um, wenn nicht seinen Stil, so doch wenigstens seinen Geist wiederzuerkennen. Der Hass überschlug sich in diesen Radiosendungen, die Wut erreichte die höchste Spannung, es schien manchmal, als wenn der Sender auf dem Eiffelturm ein Skorpion wäre, der sich mit dem Schwanz selbst in den Kopf stechen wollte.

Zu unserer Verfügung war die Radiostation Zarskoje Selo, und wir hatten keinen Grund zu schweigen. Während einiger Tage diktierte ich Antworten auf das Geschimpfe von Clemenceau. Meine Kenntnisse der politischen Geschichte Frankreichs reichten hin, um eine nicht zu schmeichelhafte Charakteristik der wichtigsten handelnden Personen zu geben und an manches Vergessene aus ihrer Biographie, mit Panama beginnend, zu erinnern. Einige Tage lang währte das heftige Duell zwischen den Türmen von Paris und Zarskoje Selo. Als neutrale Materie gab der Äther gewissenhaft die Argumente beider Parteien wieder. Und was geschah? Ich selbst hatte solche schnellen Resultate nicht erwartet. Paris änderte völlig den Ton: Es unterhielt sich in der Folge zwar feindselig, aber höflich. Ich aber habe später wiederholt mit Vergnügen mich dessen erinnert, wie ich meine diplomatische Tätigkeit damit begann, dass ich den Eiffelturm gute Manieren lehrte.

Petrograd, 15. (2.) November: Sowjetregierung proklamiert Deklaration der Rechte der Völker Russlands

Russische Publikation der Deklaration

Unter dem alten zaristischen System sind nationale Minderheiten als Bürger zweiter Klasse behandelt worden. Man hat sie gewaltsam in das russische Zarenreich gepresst und sie juristischen Beschränkungen und offizieller Diskriminierung unterworfen. In der „Deklaration der Rechte der Völker Russlands“, herausgegeben von der neuen Regierung am 15. (2.) November 1917, heißt es:

In der Epoche des Zarismus wurden die Völker systematisch gegeneinander gehetzt. Die Ergebnisse einer solchen Politik sind bekannt: Gemetzel und Pogrome einerseits und Knechtschaft der Völker andererseits. Solch eine schädliche Politik der Hetze wird und darf nicht mehr wiederkehren. An ihre Stelle muss die Politik eines freiwilligen und ehrlichen Bundes der Völker Russlands treten.

Die Deklaration besagt, dass die neue Regierung folgende Prinzipien respektieren wird:

1. Gleichheit und Souveränität der Völker Russlands.

2. Recht der Völker Russlands auf freie Selbstbestimmung, bis hin zu einer Loslösung und Bildung eines selbständigen Staates.

3. Aufhebung aller und jeglicher nationaler und nationalreligiöser Privilegien und Einschränkungen.

4. Freie Entfaltung nationaler Minderheiten und ethnographischer Gruppen, die das Gebiet Russlands bewohnen.

Zürich, 15.–17. November: Polizei- und Militäreinsatz gegen Antikriegsproteste

Willi Münzenberg

Im Zürcher Volkshaus ist eine Versammlung gegen den Krieg angekündigt. Es kommen so viele Besucher, dass die Versammlung ins Freie, auf den nebenan liegenden Helvetiaplatz verlegt wird. Als Sprecher ist der „aktive Pazifist“ Max Daetwyler angekündigt. Er hat 1914 den Fahneneid öffentlich verweigert und seither den „Weltfriedensbund“ gegen den Krieg aufgebaut. Sein Credo (das er jetzt vom Brunnen herab der Menge verkündet): Wenn bloß alle Munitionsarbeiter die Arbeit niederlegen, dann wird der Krieg von alleine aufhören.

Über tausend Teilnehmer singen die „Internationale“ und machen sich unter Daetwylers Führung auf den Weg zu den nächstgelegenen Munitionsfabriken. In Zürich arbeiten etwa 3000 Arbeiter in der Waffenproduktion. Die Menge besetzt zwei Fabriken, Scholer & Co. und Bamberger, Leroi & Co, und rasch legen die Munitionsarbeiter die Arbeit nieder.

Zwei Faktoren haben die Wut der Arbeiterklasse gesteigert: Die Versorgungslage ist infolge von Teuerung und Lebensmittel- und Kohleknappheit miserabel, während sich die Bourgeoisie an Kriegsgewinn und Wucher bereichert. Hinzu kommt, dass wenige Tage zuvor, am 9. November, das Volksrecht über den Sieg der Russischen Revolution und die Friedensdekrete der Bolschewiki berichtet hat.

Als sich am nächsten Tag wieder eine große Menge auf dem Helvetiaplatz versammelt, wird Daetwyler von etwa dreißig Polizisten vom Brunnen herabgezerrt und mit anderen zusammen weggeschleppt. Die Polizisten gehen mit blankem Säbel gegen die Arbeiter vor, die Widerstand leisten. Viele bleiben verletzt zurück.

Darauf kommt es am dritten Tag, dem 17. November, zur Eskalation. Immer mehr Arbeiterinnen und Arbeiter strömen zum Volkshaus. Während ein Teil der Menge vor das Gebäude der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) zieht, die am übelsten gegen Arbeiter hetzt, versammeln sich mehrere tausend, die die Gefangenen befreien wollen, vor der Kreiswache 4 und gehen mit einem Steinhagel gegen die Wache vor. Die Polizisten unternehmen einen Ausfall mit gezogenem Säbel und bringen dann Maschinengewehre in Stellung. Während die Menge eine Barrikade errichtet, stellen sich junge Arbeiterinnen todesmutig vor die Maschinengewehre. Die Kantonsregierung fordert militärische Verstärkung an.

Der Kommunist Willi Münzenberg, Leiter des Internationalen Jugendsekretariats, wird das Geschehen dieser Tage später in seiner Autobiographie („Die dritte Front“) als „Widerhall der Russischen Revolution in der Schweiz“ beschreiben. „Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz reagierte … erbärmlich schwach“, so Münzenberg. Obwohl er und andere junge Sozialisten versuchen, am 17. November zu deeskalieren und der Menge Führung zu geben, können sie nicht verhindern, dass vier Menschen erschossen werden: ein Holzarbeiter, eine Arbeiterin, ein 19-Jähriger und ein Polizist. Hunderte werden leicht- und fast vierzig schwer verletzt.

Noch in der Nacht verfügt der Bundesrat drei Bataillone in die Zürcher Innenstadt. Über hundert Personen werden verhaftet, darunter auch Münzenberg und mehrere Dutzend Mitglieder der Sozialistischen Jugendorganisation. Was Daetwyler angeht, so wird man ihn für geistig nicht zurechnungsfähig erklären und in die Psychiatrie Burghölzli einliefern.

Die Tatsache, dass die Initiative Pazifisten wie Daetwyler überlassen bleibt, weist auf das völlige Versagen der SP hin. Sie wird sich von den Ereignissen distanzieren und ihrer eigenen Jugendorganisation in Zürich „Disziplinlosigkeit“ vorwerfen. Robert Grimm, dessen eigenes Manöver geheimer diplomatischer Absprachen im Juni kläglich gescheitert ist, hat sich zu dem Zeitpunkt von Lenin und der Russischen Revolution schon offen abgewandt.

Helsinki, 16. November: Generalstreik und Ausdehnung von Arbeiterkontrolle auf fast ganz Finnland

Generalstreik in Helsinki, 1917

Getrieben von steigender Arbeitslosigkeit und Lebensmittelpreisen und inspiriert von der Machteroberung der Bolschewiki nehmen die Arbeiter am 14. November in Finnland einen Generalstreik auf.

Der Streik wird von einem revolutionären Zentralrat organisiert, den die Organisationen der finnischen Arbeiterbewegung zwei Tage nach der bolschewistischen Machteroberung in Petrograd gegründet haben.

Viele Arbeiter fordern, den Streik in einen Aufstand nach dem Muster der Bolschewiki in Petrograd zu verwandeln. Dem widersetzen sich die Sozialdemokratische Partei Finnlands (SDP), die der Zweiten Internationale angehört und mit Karl Kautsky zusammenarbeitet.

Schon seit der Februarevolution hat die Agitation für den Achtstundentag und für Verbesserungen der Arbeitsbedingungen unter den finnischen Arbeitern in Helsinki ständig zugenommen. Aber die SDP hat diese Bestrebungen ignoriert. Obwohl sie im Parlament die Mehrheit hat, strebt sie – entsprechend der Linie ihrer menschewistischen Verbündeten in Russland – einen Kompromiss mit den bürgerlichen Parteien an und sitzt gemeinsam mit ihnen in der Regierung („Senat“).

Im Juli haben die Menschewiki das finnische Parlament aufgelöst. Es hat auf Initiative der SDP versucht, sich durch Verabschiedung eines „Machtgesetzes“ zur souveränen Macht Finnlands (das bisher zum russischen Zarenreich gehörte) zu proklamieren. Kerenskis Provisorische Regierung in Petrograd hat Neuwahlen ausgeschrieben, und die bürgerliche Rechte hat sie gewonnen, wobei sie nicht vor Wahlbetrug und offener Gewaltanwendung gegen Arbeiter zurückschreckte.

Das hat zur Radikalisierung der finnischen Arbeiterklasse und zum aktuellen Generalstreik geführt. Unter dem Druck der Arbeiter hat das von der Bourgeoisie beherrschte Parlament tags zuvor für das Machtgesetz gestimmt und damit den Weg für die finnische Unabhängigkeitserklärung bereitet.

Auf Drängen der SDP wird der Streik am 20. November beendet. Das ermöglicht es der rechten Regierung von Pehr Svinhufvud, die Macht in ihren Händen zu konsolidieren. Sie gelangt damit für die kommenden Kämpfe in eine viel günstigere Position. Als die finnische Revolution Ende Januar 1918 endlich ausbricht, sind Svinhufvud und sein faschistischer Militärchef General Mannerheim in der Lage, deutsche Stoßtruppen und konterrevolutionäre Weiße Garden dagegen einzusetzen.

Leipzig, 16. November: Clara Zetkin begrüßt die Oktoberrevolution

In der Frauenbeilageder Leipziger Volkszeitung begrüßt Clara Zetkin vorbehaltlos „das Friedenswerk der russischen Revolution“. Clara Zetkin, 60 Jahre alt, gehört der revolutionären marxistischen Spartakusgruppe in der USPD an. Seit vielen Jahren mit Rosa Luxemburg und seit 1907 mit Lenin befreundet, steht sie in Deutschland seit 1914 an der Spitze der prinzipiellen sozialistischen Opposition gegen den Krieg. In Russland sieht sie jetzt voll Freude ihre Gesinnungsgenossen an der Macht:

„Der Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat hat zusammen mit dem Bauernrat und mit Unterstützung von Land- und Marinetruppen die vorläufige Koalitionsregierung gestürzt, die meisten Minister gefangengesetzt … und die ganze Regierungsgewalt in die Hände des Kongresses der Arbeiter- und Soldatenräte gelegt. Der Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat besteht in seiner übergroßen Mehrheit aus radikalen Sozialisten der Partei der Bolschewiki oder Maximalisten, die nie mit den bürgerlichen Linksparteien paktiert, sondern von Anfang an die Auffassung vertreten hat, die Existenz und das Werk der Revolution könne nur durch die Diktatur des Proletariats und die Übernahme der ganzen Regierungsgewalt durch die Arbeiter- und Soldatenräte sichergestellt werden.“

Der Erfolg der Revolution sei ermöglicht worden durch die konsequente Anwendung der revolutionären Prinzipien der Bolschewiki, die diesen die „Gefolgschaft großer Bevölkerungsmassen namentlich aus dem städtischen und industriellen Proletariat aber auch aus der Bauernschaft und dem Land- und Seeheer“ eingebracht habe. Die Vertreter der vorangegangenen Regierungen seien unfähig gewesen, „das Werk der Revolution fortzuführen …, denn sie waren in der Hauptsache Vertreter der besitzenden Klassen, vor deren Interessen sie respektvoll haltmachten …“

Aus demselben Grund hätten diese Regierungen auch keinen „raschen Friedensschluss“ zustande gebracht, keine Agrarreform oder irgendeine andere notwendige Reform.

(Quelle: Clara Zetkin, „Für die Sowjetmacht. Artikel, Reden und Briefe 1917–1933“, Frankfurt/M. 1977)

Petrograd, 17. (4.) November: Niederlage des „gemäßigten“ Flügels der bolschewistischen Führung

Trotzki, Lenin und Kamenew im Gespräch, 1920

Während sich Lenin und Trotzki vollauf mit der Verteidigung Petrograds gegen die Angriffe der Konterrevolution unter Kerenski und Krasnow beschäftigen, verhandelt der rechte Parteiflügel unter Kamenews Führung mit Menschewiki und Sozialrevolutionären. Diese treten für eine „rein sozialistische Regierung“ ein. Eine weitere Kraft, die Öl ins Feuer gießt, sind die konservativen Führer des Eisenbahnerverbands Wikschel. Sie drohen den Bolschewiki mit einem landesweiten Eisenbahnerstreik.

Der rechte Bolschewiki-Flügel unterstützt weiterhin die Schaffung einer breiten Koalitionsregierung, in der die bolschewistische als eine unter vielen Parteien teilnehmen würde und vielleicht sogar in der Minderheit wäre. Diese im Wesentlichen menschewistische Position hat im Verlauf des Jahres 1917 schon mehrmals ihr Haupt erhoben, so zum Beispiel im April, nach Lenins Rückkehr nach Russland, und im Oktober in Verbindung mit dem Vorparlament. Kamenew ist so auf einen Kompromiss mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären fixiert, dass er sogar bereit ist, die Früchte der Oktoberrevolution in Russland preiszugeben. Er ist sogar bereit, mit Menschewiki und Sozialrevolutionären über ihre Forderung eines Ausschlusses von Lenin und Trotzki aus der Regierung zu diskutieren.

Sobald Lenin und Trotzki realisieren, was für Diskussionen hinter ihrem Rücken geführt werden, bricht in der Führung eine Krise aus. An einer tumultuösen Versammlung des bolschewistischen Zentralkomitees argumentiert Lunatscharski, der für den rechten Flügel spricht, die Partei müsse „den Weg des geringsten Widerstands“ gehen, anstatt nach Lenins Vorschlag „jede Bastion mit dem Bajonett zu erstürmen“. Dagegen plädiert Wolodarski auf einer Sitzung des Zentralen Exekutivkomitees für Lenins Haltung: „Positionen, für die Hunderttausende Arbeiter, Bauern und Soldaten gekämpft haben, dürfen wir nicht preisgeben.“

Der Kampf tobt zwischen zwei Seiten, wovon auf der einen jene Parteiführer stehen, die ihre Aufgabe im Wesentlichen darin sehen, eine bürgerliche nationale Revolution innerhalb der Grenzen des früheren Zarenreichs durchzuführen. Auf der andern Seite stützen sich Lenin und Trotzki auf die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution. Wie der Historiker Alexander Rabinowitch bemerkt, konzentriert sich Trotzki darauf, „durch einen revolutionären Urknall in Russland siegreiche sozialistische Revolutionen in den fortgeschritteneren Ländern Europas auszulösen. Seine Ausführungen lassen erkennen, dass seine Vorstellungen über die russische Politik in der Tat fast vollständig von dieser übergeordneten Zielsetzung geprägt“ sind. (Alexander Rabinowitch, „Die Sowjetmacht. Das erste Jahr“, Essen 2010, S. 46)

Anders ausgedrückt hätte jeder Rückzug vom Oktoberaufstand in Lenins und Trotzkis Augen negative internationale Konsequenzen für die Weltrevolution. Beide lehnen sie jeden Kompromiss mit den Menschewiki oder Sozialrevolutionären ab, denen Trotzki erst eine Woche zuvor erklärt hat, sie gehörten „auf den Müllhaufen der Geschichte“.

Nachdem das Zentralkomitee eine Resolution über den sofortigen Abbruch der Verhandlungen mit dem Wikschel verabschiedet hat, setzen Kamenew und Sinowjew in grober Missachtung der Parteidisziplin die Gespräche über die Bildung einer Koalitionsregierung fort. Am 15. (2.) November stellt Lenin die Gemäßigten voller berechtigter Wut vor ein Ultimatum: Respektiert die Mehrheitsentscheidung oder stellt euch einem außerordentlichen Parteitag. Darauf erklären die “Gemäßigten” am 17. (4.) November ihren Austritt aus dem Zentralkomitee.

Die Prawda veröffentlicht darauf das vernichtende Urteil Lenins vom 18. (5.) November, aus dem John Reed in seinem Werk „Zehn Tage die die Welt erschütterten“ zitiert:

Genossen! Mehrere Mitglieder des Zentralkomitees unserer Partei und des Rats der Volkskommissare, Kamenew, Sinowjew, Nogin, Rykow, Miljutin und einige wenige andere, sind gestern … aus dem Zentralkomitee unserer Partei ausgetreten und die drei letzten auch aus dem Rate der Volkskommissare …

Die zurückgetretenen Genossen haben wie Deserteure gehandelt, nicht nur, weil sie die ihnen anvertrauten Posten verlassen haben, sondern auch, weil sie den ausdrücklichen Beschluss des Zentralkomitees unserer Partei durchbrochen haben, dass sie mit ihrem Rücktritt wenigstens bis zur Stellungnahme der Petrograder und Moskauer Parteiorganisationen warten sollen. Wir verurteilen diese Desertion aufs entschiedenste. Wir sind zutiefst überzeugt, dass alle klassenbewussten Arbeiter, Soldaten und Bauern, die unserer Partei angehören oder mit ihr sympathisieren, die Handlungsweise der Deserteure ebenso entschieden verurteilen werden …

Denkt daran, dass zwei dieser Deserteure, Kamenew und Sinowjew, schon vor dem Aufstand in Petrograd als Deserteure und Streikbrecher aufgetreten sind, denn sie haben nicht nur in der entscheidenden Sitzung des Zentralkomitees am 10. Oktober 1917 gegen den Aufstand gestimmt, sondern haben auch nach der Beschlussfassung durch das Zentralkomitee vor den Parteifunktionären gegen den Aufstand agitiert … Der gewaltige Aufschwung der Massen, der gewaltige Heroismus von Millionen Arbeitern, Soldaten und Bauern in Petrograd und Moskau, an der Front, in den Schützengräben und in den Dörfern hat die Deserteure mit derselben Leichtigkeit beiseitegeschoben, mit der ein Eisenbahnzug Holzspäne beiseite schleudert …

Mögen sich alle Kleinmütigen, alle Schwankenden, alle Zweifelnden, alle, die sich von der Bourgeoisie einschüchtern oder vom Geschrei ihrer direkten und indirekten Helfershelfer beeinflussen ließen, schämen. In den Massen der Petrograder, Moskauer und der übrigen Arbeiter und Soldaten gibt es keine Spur von Schwankungen …

Auch in dieser Woche: Tod des französischen Soziologen Émile Durkheim

Émile Durkheim

Am 15. November stirbt Émile Durkheim, ein Begründer der Soziologie und führender Intellektueller zur Zeit der Jahrhundertwende. Obwohl er sich bemüht hat, eine anti-marxistische Analyse der kapitalistischen Gesellschaft zu entwickeln, die die zentrale Rolle des Klassenkonflikts leugnet, stand er dem Führer der französischen Sozialistischen Partei Jean Jaurès nahe. (Dieser wurde 1914 wegen seiner Opposition gegen den Krieg ermordet.)

Im Ersten Weltkrieg hat Durkheim Frankreich unterstützt. Von ihm stammt das Buch „L’Allemagne au-dessus de tout. La mentalité allemande et la guerre“ (Deutschland über alles. Die deutsche Gesinnung und der Krieg, 1915). Darin bezeichnet er Berlin und den deutschen Nationalismus als Krankheit in der europäischen Sozialordnung und als Kriegsursache. Aber offensichtlich hat Durkheim für die russischen Revolutionäre eine gewisse Sympathie gehegt. Im August 1916 hat er als Vorsitzender der französischen Kommission für russische Flüchtlinge Trotzki und die Gruppe Nasche Slowo vor der ihr drohenden Ausweisung gewarnt. Dadurch gewannen sie Zeit und konnten sich vorbereiten.

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