Diese Woche in der Russischen Revolution

27. November – 3. Dezember: Sowjetregierung ruft zur Beendigung des Kriegs auf

Die neue Regierung Sowjetrusslands gibt den Aufruf „An die Völker der kriegführenden Länder“ heraus und fordert darin ein Ende der imperialistischen Schlächterei. In Brest-Litowsk beginnen Verhandlungen mit Deutschland über einen Waffenstillstand. Lenin und Trotzki wenden sich an den wichtigsten Verbündeten der Russischen Revolution: die internationale Arbeiterklasse.

Petrograd, 27. (14.) November: Dekret über Arbeiterkontrolle

Erste Seite des Dekrets des Sownarkom

Nach langen Diskussionen stimmt das Zentrale Exekutivkomitee einem Dekret zu, das in Fabriken mit über fünf Arbeitern eine Arbeiterkontrolle vorsieht. In dem Dekret heißt es:

1. Zum Zweck einer geplanten Regulierung der nationalen Wirtschaft in allen Produktionsgesellschaften der Industrie, des Handels, der Banken, im Agrar-, Transport- und Kooperativen-Bereich und in anderen Unternehmen, bei denen Lohnarbeit genutzt oder Heimarbeit beauftragt wird, muss eine Arbeiterkontrolle eingeführt werden. Sie muss sich auf die Produktion, den Kauf und Verkauf von Produkten und Rohmaterialien, ihre Lagerung und auch auf die Finanzen des Unternehmens erstrecken.

2. Die Arbeiterkontrolle wird durch alle Arbeiter in den betreffenden Unternehmen über ihre gewählten Organe, wie Arbeiterkomitees, Fabrikkomitees und so weiter ausgeübt. Vertreter der Angestellten und Techniker müssen diesen Gremien ebenfalls angehören.

3. In jeder größeren Stadt, in jeder Provinz und in jedem Industriebezirk wird ein örtlicher Rat der Arbeiterkontrolle gebildet. Er wird eine Abteilung des Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten sein und aus Vertretern der Gewerkschaften, der Arbeiter- und Fabrikkomitees und von anderen Arbeiterkomitees und Arbeiter-Kooperativen bestehen.

Das Dekret sieht die Einrichtung von Arbeiter-Kontrollkomitees vor, welche

das Recht haben, die gesamte Geschäftskorrespondenz des Unternehmens zu kontrollieren. Die Unternehmer werden für jede Verheimlichung der Korrespondenz juristisch zur Verantwortung gezogen. Geschäftsgeheimnisse sind abgeschafft. Die Eigentümer sind verpflichtet, der Arbeiterkontrolle alle Bücher und Abrechnungen für das laufende Jahr und für die vergangenen Geschäftsjahre vorzulegen.

Außerdem bestimmt das Dekret, dass die Unternehmer und die Arbeitervertreter „dem Staat für die strikteste Ordnung und Disziplin und für die Instandhaltung des Eigentums verantwortlich sind“.

Ein Gesamtrussischer Rat für Arbeiterkontrolle wird als „höchste Autorität für alle Angelegenheiten im Zusammenhang mit der Arbeiterkontrolle“ ins Leben gerufen. Er hat die Aufgabe, „allgemeine Pläne für Kontrolle und Instruktionen“ auszuarbeiten, „verbindliche Entscheidungen“ zu treffen und dafür zu sorgen, dass die Bezirksräte für Arbeiterkontrolle untereinander Verbindungen halten.

[Quelle: Rex A. Wade (Hrsg.), Documents of Soviet History, Bd. 1: „The Triumph of Bolshevism 1917–1919“, S. 48, aus dem Englischen.]

Petrograd, 27.–30. (14.–17.) November: Sowjetregierung veröffentlicht Friedensappelle

Die Volkskommissare des Sownarkoms, die auf dem Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongress nach der Machteroberung gewählt wurden. Oberste Reihe (v.l.n.r.): Miljutin, Nogin, Trotzki, Uljanow-Lenin, Stalin, Rykow, Lunatscharski. Mittlere Reihe: Schljapnikow, Antonow-Owssejenko, Oppokow (Lomow), Skorzow (Stepanow). Untere Reihe: Krylenko, Dybenko, Teodorowitsch und Awilow (Glebow).

Die deutsche Regierung hat als einzige bisher auf den Friedensappell der sowjetischen Regierung reagiert und den Ruf nach einer Waffenruhe akzeptiert. Am 27. November (dem 14. November nach altem, julianischem Kalender) richtet die Sowjetregierung einen „Appell an die Völker der kriegführenden Länder“.

Darin heißt es:

Die siegreiche Arbeiter- und Bauern-Revolution in Russland hat die Friedensfrage an die erste Stelle gestellt. Alle Regierungen, Klassen, Parteien aller kriegführenden Länder werden aufgefordert, die Frage zu beantworten: Sind sie bereit, am 1. Dezember mit uns Verhandlungen über einen sofortigen Waffenstillstand und den allgemeinen Frieden aufzunehmen?

Von ihrer Antwort auf diese Frage hängt es ab, ob die Arbeiter auf dem Schlachtfeld und in der Fabrik einem weiteren Winterfeldzug mit all seinen Schrecken und Zerstörungen aus dem Weg gehen können, oder ob das Blutvergießen in Europa weitergeht … Wir, der Rat der Volkskommissare, appellieren an die Arbeitermassen in Deutschland, Österreich-Ungarn, der Türkei und Bulgariens. Der Friede soll ein Völkerfriede sein, ein Ehrenfriede, der jeder Nation die Freiheit der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung sichert. Ein solcher Friede kann nur geschlossen werden, wenn ein direkter und mutiger Kampf der revolutionären Massen gegen alle imperialistischen Pläne und aggressiven Aspirationen ihn ermöglicht.

Die Arbeiter- und Bauern-Revolution hat ihr Friedensprogramm schon erklärt. Wir haben die Geheimverträge des Zaren und der Bourgeoisie mit ihren Verbündeten veröffentlicht, und wir haben erklärt, dass sie für das russische Volk nicht bindend sind. Wir schlagen allen Nationen vor, in aller Offenheit ein neues Abkommen über Prinzipien von Konsens und Zusammenarbeit abzuschließen.

Die offiziellen und halboffiziellen Vertreter der regierenden Klassen in den alliierten Ländern haben unsern Antrag bereits mit der Weigerung beantwortet, die Räteregierung anzuerkennen. Sie weigern sich, mit ihr Friedensverhandlungen aufzunehmen. Die Regierung der siegreichen Revolution ist auf die Anerkennung der professionellen Vertreter der kapitalistischen Diplomatie nicht angewiesen. Aber wir fragen die Völker: Bringt die reaktionäre Diplomatie eure Vorstellungen und Bestrebungen zum Ausdruck? Sind die Völker einverstanden, wenn die Diplomaten die großartige Gelegenheit für einen Frieden, die die Russische Revolution bietet, durch die Finger gleiten lässt?

Die Antwort auf diese Fragen muss ohne Verzögerung gegeben werden, und es muss eine Antwort der Taten und nicht nur der Worte sein. Die russische Armee und das russische Volk können und wollen nicht länger warten. Am 1. Dezember werden wir Friedensverhandlungen beginnen. Wenn die alliierten Nationen keine Repräsentanten schicken, dann werden wir mit den Deutschen alleine Verhandlungen aufnehmen … Kein weiterer Winterfeldzug! Schluss mit dem Krieg! Es lebe der Frieden und die Verbrüderung der Nationen!

[Zitiert nach Rex A. Wade (Hrsg.), Documents of Soviet History, Bd. 1: „The Triumph of Bolshevism 1917–1919“, S. 49–50, aus dem Englischen.]

Wenige Tage später gibt der Sownarkom einen weiteren Aufruf, „An die deutschen Soldaten!“, heraus Er hat das Datum vom 30. November und ist von Lenin unterzeichnet. Darin heißt es:

Soldaten, Brüder!

Am 25. Oktober haben die St.-Petersburger Arbeiter und Soldaten die imperialistische Regierung Kerenskis gestürzt und die ganze Staatsgewalt in die Hände der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte gelegt …

Soldaten, Brüder! Wir ersuchen Euch, uns in diesem Kampfe für den sofortigen Frieden und den Sozialismus mit allen Kräften beizustehen! Nur der Sozialismus allein kann den Arbeitern aller Länder einen gerechten und dauerhaften Frieden sichern und alle Wunden heilen, die der gegenwärtige, frevelhafteste aller Kriege der Menschheit geschlagen hat.

Brüder, deutsche Soldaten! Das große Beispiel Eures Kameraden Karl Liebknecht, des hervorragendsten Führers des internationalen Sozialismus; der beharrliche und langwierige Kampf, den Ihr gegen den Krieg mit der Herausgabe von Zeitungen und Flugblättern, mit zahlreichen Demonstrationen und Streiks geführt habt; der Kampf, für den Eure Regierung Hunderte und Tausende Eurer Kameraden ins Gefängnis geworfen hat; endlich der heldenmütige Aufstand Eurer Marinematrosen – alle diese Kämpfe bürgen uns dafür, dass innerhalb breiter Arbeitermassen Eurer Nation die Bereitschaft für einen entscheidenden Kampf um den Frieden schon gereift ist. Brüder, leistet uns Hilfe! Wenn Ihr das tut, dann kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass die Sache des Friedens, wenigstens auf dem europäischen Kontinent, in wenigen Tagen die Oberhand gewinnt …

Wenn Ihr uns bei unserer Aufgabe behilflich seid … dann werden Eure Organisationsfähigkeit, Eure Erfahrung, Eure Pionierarbeit zur Bildung von Arbeitermassenorganisationen uns den Übergang zum Sozialismus unfehlbar ermöglichen …

Genug des Blutvergießens!

Hoch lebe der Friede!

Hoch lebe der brüderliche Verband der Arbeiter aller Länder!

Hoch lebe die internationale sozialistische Revolution!

Der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare
Wladimir Uljanow (Lenin)

[W.I.Lenin, „Über Deutschland und die deutsche Arbeiterbewegung“, Berlin 1957, S. 414–416]

London, 29. November: Aus Furcht vor Revolution publiziert der Daily Telegraph die Forderung nach Frieden mit Deutschland

Henry Petty-Fitzmaurice, Marquis von Lansdown

Der rechte Daily Telegraph druckt einen Brief von Henry Petty-Fitzmaurice, Marquis von Lansdown, einem Mitglied des Oberhauses ab, in dem er für einen Friedensschluss mit Deutschland wirbt, um den „Ruin der zivilisierten Welt“ zu verhindern.

Landsdowns Vorschlag wird schon seit etwa einem Jahr in den herrschenden Kreisen diskutiert. Aber seine Veröffentlichung zu diesem Zeitpunkt ist äußerst bezeichnend und sendet Schockwellen durch die alliierten Hauptstädte. Gerade einmal drei Wochen nach der Machteroberung der Bolschewiki in Petrograd demonstriert er die Furcht, die einen Teil der britischen herrschenden Klasse ergriffen hat. Sie fürchten, dass die Fortsetzung des Kriegs einen möglichen revolutionären Aufschwung in Großbritannien, ganz Europa und in den kolonialen Gebieten Asiens und Afrikas auslösen könnte. Gleichzeitig sorgt die Aussicht, ein britischer „Sieg“ könnte damit enden, dass London auf ein Anhängsel des amerikanischen Imperialismus reduziert wird, ebenfalls für Schrecken.

Landsdown hat schon als Generalgouverneur von Kanada, Vizekönig von Indien, Kriegsminister, Außenminister und Vorsitzender der Konservativen Partei gedient. Jetzt schreibt er: „Wir streben nicht die Vernichtung Deutschlands als Großmacht an. Wir streben nicht an, seinem Volk eine andere Regierungsform aufzuzwingen, als die, welche es sich selbst wählt … Wir streben nicht an, Deutschland seinen Platz unter den großen Handelsnationen der Welt streitig zu machen.“

In Landsdowns Brief kommt noch eine andere Sorge zum Ausdruck, nämlich dass der Krieg das britische Kolonialreich unterminiert, welches immer noch das größte der Welt ist. Er drängt daher auf einen Friedensvertrag, der den Status Quo Ante, wie er vor Beginn des Kriegs herrschte, und die Freiheit der Meere festschreibt, die die beherrschende Stellung der Royal Navy garantieren würde.

Aber die Mehrheit der britischen herrschenden Klasse lehnt Landsdowns Brief ab. Sie kommt zu dem Schluss, dass Deutschland in Kürze mit amerikanischer Unterstützung besiegt wird. Schatzkanzler Bonar Law weist Landsdowns Ansichten am 30. November höchstoffiziell und nachdrücklich zurück und gibt Premierminister Lloyd George Rückendeckung für die Fortsetzung des Kriegs.

Petrograd, 29. (16) November: Sownarkom löst Stadtduma auf

Rathaus von Petrograd, Versammlungsort der Petrograder Stadtduma

Der Sownarkom gibt ein Dekret zur Schließung der Stadtduma von Petrograd heraus. Dominiert von den Kadetten, Sozialrevolutionären und Menschewiki fungiert die Petrograder Stadtduma, in den Worten des Historikers Alexander Rabinowitch, „als landesweites Widerstandszentrum gegen die Sowjetmacht und als Unterstützungszentrum für die Konstituierende Versammlung“.

Von der Stadtduma aus wird die Sabotage der Sowjetregierung finanziert. Seit dem ersten Tag der sowjetischen Machteroberung hat die überwältigende Mehrheit der öffentlichen Bediensteten der Ministerien und anderer Schlüsselstellen gestreikt oder versucht, die Regierungsanordnungen von innen zu sabotieren. Laut dem Historiker T.H. Rigby besteht der „Hauptzweck“ der Gelder, die über die Petrograder Stadtduma und andere dunkle Kanäle fließen, darin:

… es zu ermöglichen, dass Beamte einen oder zwei Monate im Voraus ihre Gehälter erhielten, damit ihr Einkommen in dieser Zeit gesichert sein würde und sie nicht befürchten müssten, vom Sowjetregime entlassen zu werden. Die Hoffnung war, dass einige wenige Wochen der Nicht-Zusammenarbeit genügen würden, um die Bolschewiki zu stürzen, da die bloße Gewalt der Bajonette sie zwar an die Macht brachte, aber nicht in die Lage versetzte, regieren zu können.

Die Stadtduma antwortet mit der Verabschiedung einer gemeinsamen Erklärung der Kadetten und Sozialrevolutionäre, in der die Autorität der Sowjetregierung zurückgewiesen wird. Mehrere Tage lang setzt die Stadtduma ihre Tätigkeit fort, als sei nichts gewesen.

Am 2. Dezember (19 November nach altem, julianischem Kalender) weist der Sownarkom die Volkskommissariate an, ihre Bücher zu prüfen, um festzustellen, welche Saläre schon bis zum 1. Januar ausbezahlt worden sind. Wie Rigby schreiben wird, „erhielten die Beamten die Anweisung, entweder das Geld sofort zurückzuzahlen oder die Arbeit unverzüglich aufzunehmen. Andernfalls werde man sie wegen Veruntreuung von Staatsgeldern vor Gericht stellen.“

Einen Tag später, am 3. Dezember (20. November), stellt die Regierung bewaffnete Matrosen und Rote Garden vor das Rathaus, um eine weitere Versammlung der Stadtduma zu verhindern. Als die Abgeordneten sich dennoch an ihnen vorbeidrängen und sich ihrer Tagesordnung zuwenden wollen, werden sie mit Gewalt vertrieben. Aber die Konfrontation geht noch weiter. Die Abgeordneten finden einen andern Ort, um ihre Versammlung fortzusetzen, und beschließen, dass der 28. November, der bevorstehende Eröffnungstag der Konstitutionellen Versammlung, zum Nationalfeiertag erklärt wird. Spätabends desselben Tages lässt der Militärische Revolutionsrat die Wohnungen der oppositionellen Duma-Abgeordneten durchsuchen und mehrere von ihnen verhaften. Mit zwei Ausnahmen werden alle Verhafteten kurz darauf wieder freigelassen.

Noch bis mindestens Mitte Januar 2018 wird sich die Stadtduma weiter im Untergrund versammeln. Dennoch beendet die Verhaftung der führenden Vertreter, in Rigbys Worten, „die Widerstandsbewegung in mehreren Ministerien … und übte auf ihre Untergebenen eine einschüchternde Wirkung aus“. Doch wird sich die Konfrontation zwischen der Sowjetregierung und den Restbeständen des alten Regimes in den kommenden Wochen und Monaten noch fortsetzen.

[Quellen: Alexander Rabinowitch, „Die Sowjetmacht. Das erste Jahr“, Essen 2010, S. 94–95.
T.H. Rigby, “Lenin’s Government: Sovnarkom 1917–1922”, Cambridge 2010, S. 44–47, aus dem Englischen.]

London und Petrograd, 29. (16.) November: Trotzki erreicht Freilassung der russischen politischen Gefangenen in Großbritannien

Georgi W. Tschitscherin

Am 27. November richtet Trotzki über den Botschafter in Russland, Buchanan, die offizielle Aufforderung an die britische Regierung, die zwei politischen Gefangenen in Großbritannien, Georgi Tschitscherin und Peter Petrow, freizulassen.

Die britische Regierung erkennt Sowjetrussland nicht an und weigert sich anfangs, überhaupt zu reagieren. Trotzki, bis vor kurzem selbst noch Gefangener in einem britischen Internierungslager in Kanada, erhöht am heutigen Mittwoch den Einsatz. Er erklärt, solange Tschitscherin und Petrow nicht frei seien, werde kein britischer Untertan, auch kein Diplomat, Russland verlassen können. Jetzt telegrafiert Buchanan nach London und rät der Lloyd-George-Regierung, nachzugeben. Trotzki erklärt:

Die sowjetische Volksmacht vertritt die Interessen aller ihrer Bürger; wo immer sich ein Bürger aufhalten mag, befindet er sich unter ihrem Schutz. Kerenski mag zu seinen Verbündeten wie ein Diener zu seinem Herrn gesprochen haben. Wir jedoch müssen ihnen zeigen, dass wir mit ihnen nur auf Augenhöhe leben können. Wir erklären hier ein für alle Mal, dass jeder, der mit der Unterstützung und Freundschaft des freien und unabhängigen russischen Volkes rechnet, seine Menschenwürde respektieren muss.

Tschitscherin, Sohn eines sehr reichen Landbesitzers, unterstützt mit seinem ganzen Geld die Sache der Revolution. Er ist gegen den Großen Krieg, ist von den britischen Behörden verhaftet worden und wird von ihnen in Brixton gefangen gehalten. Kurz nach der Freilassung und seiner Rückkehr nach Russland 1918 wird Trotzki ihn in die Verhandlungsdelegation für die Friedensverhandlungen in Bresk-Litowsk aufnehmen. Tschitscherin wird Trotzkis Nachfolger als Volkskommissar für Äußeres werden.

Versailles, 1. Dezember: Der Oberste Alliierte Kriegsrat trifft sich zum ersten Mal

David Lloyd George

Der Oberste Alliierte Kriegsrat besteht aus Vertretern der britischen, französischen und italienischen Regierung. In Versailles trifft er sich heute zum ersten Mal. Japan und Russland sich nicht eingeladen.

Die Initiative zur Gründung des Rats geht vom britischen Premierminister Lloyd George aus. Sie ist Ausdruck zunehmender Sorge über den Verlauf des Konflikts. Das Scheitern der Nivelle-Offensive, die Meutereien in der französischen Armee, die blutigen Flandernschlachten und die katastrophale Niederlage Italiens bei Caporetto haben das Jahr 1917 zu einer Enttäuschung für die alliierten Führer gemacht.

Mithilfe des Rats hofft Lloyd George William Robertson, den Chef des imperialistischen Generalstabs, und Douglas Hague, den Kommandeur des britischen Expeditionscorps, auszubooten. Der Premierminister hat nach den hohen Verlusten an der Somme und bei Passchendaele das Vertrauen in Robertson und Hague verloren. Gleichzeitig befürchten britische und französische Kommandeure, dass Italien sich aus dem Krieg zurückziehen könnte. Die Vereinigten Staaten sind zwar nicht formell Mitglied der alliierten Organisation, entsenden aber einen ständigen militärischen Vertreter zu den Versailler Beratungen.

Der Rat konzentriert sich hauptsächlich auf die Erstellung von Plänen und Untersuchungen für künftige alliierte Angriffe und beobachtet die deutsche Aufklärung.

Der Rat bildet diverse Unterabteilungen, die sich z.B. mit Transportfragen, der Versorgung mit Lebensmitteln und dem Seetransport beschäftigen. Letzteres ist eine Reaktion auf den totalen U-Bootkrieg Deutschlands, der seit Anfang 1917 zur Zerstörung zahlreicher alliierter Schiffe geführt hat.

Dyersburg (Tennessee) 2. Dezember: Afroamerikaner wird brutal gelyncht

Lynchmorde tragen dazu bei, die „Große Schwarze Wanderung“ nach Norden anzustoßen, wie diese Karikatur in The Crisis zeigt.

Der 24-jährige Landarbeiter Lation Scott wird vor den Augen einer mehr als tausendköpfigen Menge auf dem Dorfplatz von Dyersburg (Tennessee) gefoltert und bei lebendigem Leibe verbrannt. Der Lynchmord zieht sich an diesem Sonntag über mehrere Stunden hin, buchstäblich im Schatten der beiden Hauptkirchen des Ortes. Ein Zeitzeuge nennt das Dorf „wohlhabend“ und „typisch für eine Gemeinde der besseren Klasse“.

In The Crisis, einer Zeitschrift der Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), wird die grauenhafte Szene beschrieben:

Der Neger wurde auf den Boden gesetzt, und zwischen seinen Beinen wurde eine Achse eines kleinen Pferdewagens in den Boden gerammt. Seine Füße wurden mit Ketten zusammengebunden, und er wurde mit Draht gefesselt. Ein Feuer wurde entzündet. Darauf schaffte man Schürhaken und Bügeleisen herbei und erhitzte sie am Feuer … Mit einem Messer wurden Kleidung und Haut des Negers gleichzeitig von seinem Körper gerissen. Seine selbsternannten Scharfrichter blendeten seine Augen mit rotglühenden Eisen. Als er den Mund öffnete und um Gnade flehte, wurde ihm ein glühend rotes Schüreisen in den Rachen gestoßen. Auf die gleiche feinsinnige Weise wurde er seiner Geschlechtsorgane beraubt. Seine Füße, sein Rücken und sein Körper wurden mit glühenden Eisen behandelt, bis die Sabbatluft von Dyersburg (Tennessee) mit dem schrecklichen Gestank brennenden Fleisches gesättigt war.

Wie so häufig bei den vielen tausend Lynchmorden der letzten Jahrzehnte, besteht Scotts einziges – und dazu völlig unbewiesenes – „Verbrechen“ darin, sich sexuell unangemessen gegenüber einer weißen Frau, in diesem Fall der Frau seines Arbeitgebers, verhalten zu haben. Wie ebenso häufig in Fällen von Lynchjustiz, übergeben die Gesetzeshüter, die ihn eigentlich ins Gefängnis bringen sollten, ihn stattdessen seinen Mördern.

Brest-Litowsk, 3. Dezember (30. November): Beginn der sowjetisch-deutschen Friedensverhandlungen

Zeitgenössische Landkarte mit der Ostfront und dem Gebietsverlauf zwischen der bolschewistischen Regierung und den feindlichen Armeen

Da keine weitere Regierung den Appell der bolschewistischen Regierung für Friedensverhandlungen beantwortet, nehmen die sowjetische und die deutsche Delegation in Brest-Litowsk ihre Verhandlungen über eine Waffenruhe auf. In dieser Stadt im deutsch-besetzten Polen befindet sich auch das deutsche Hauptquartier. Zwei Tage später, am 5. Dezember, beschließen sie einen zehntägigen Waffenstillstand.

Tansania, 3. Dezember: Deutschland verliert letzte Kolonie in Afrika

Karte von Deutsch-Ostafrika um 1892

„Ostafrika ist vollkommen vom Feind geräumt“, heißt es in einem Telegramm von General Vandeventer, Kommandeur des britischen Kolonialheers in Ostafrika. Mit diesen Worten beanspruchen die alliierten Kräfte die letzte und reichste der Kolonien des Deutschen Reiches für sich.

Nur zwei Monate vor Kriegsbeginn 1914 hat Deutschland die über 1250 km lange Eisenbahnstrecke durch das Territorium vom Indischen Ozean bis zum Tanganjikasee eröffnet. Sie sollte Deutschland Zugang zu den reichen Bodenschätzen Zentralafrika verschaffen.

Die Alliierten beschäftigen sich intensiv mit der Aufteilung der Beute aus der erhofften deutschen Niederlage. Es geht um Kolonien mit einer Fläche von rund zweieinhalb Million Quadratkilometer, die sich auf Afrika, mehrere Pazifik-Inseln einschließlich Deutsch-Samoa und Neuguinea und die lukrativen chinesischen Konzessionen in Kiautschou erstrecken.

Großbritannien, auch in dieser Woche: 50.000 Metallarbeiter im Streik um Löhne und Tarifrechte

Britische Waffenproduktion in Coventry

In den Produktionsstätten von Coventry legen rund 50.000 Arbeiter die Arbeit nieder. Im Zentrum ihres Streiks stehen Forderungen nach höheren Löhnen und der Anerkennung ihrer gewählten Vertrauensleute. Coventry ist ein wichtiges Industriezentrum Großbritanniens, in dem zum Beispiel ein Viertel aller Kriegsflugzeuge hergestellt werden.

Die Stadt hat seit Beginn des Kriegs einen Bevölkerungszulauf zu verzeichnen, was zu Überbevölkerung und schlechten sozialen Bedingungen führt. Arbeiter sind gezwungen, lange Arbeitszeiten und wenig Lohn in Kauf zu nehmen.

Die Behörden reagieren voller Wut auf den Streik, und die nationale Presse verleumdet die Arbeiter als Mörder und beschuldigt sie, die Kriegsanstrengungen zu gefährden. Der Arbeitskampf provoziert eine Parlamentsdebatte, was zeigt, wie groß die Sorge ist, dass der Produktionsstillstand den Nachschub für die Luftwaffe in einer kritischen Phase des Kriegs unterbrechen könnte.

Die radikalsten Elemente im Streikkampf sind im Coventry Arbeiterkomitee organisiert, das mehrere Sozialisten und Vertreter der Industrial Workers of the World (IWW) zu seinen Mitgliedern zählt. Obwohl das Komitee nicht so mächtig ist wie das Clyde-Arbeiterkomitee in Glasgow, wo Sozialisten wie John MacLean eine wichtige Rolle spielen, stellt es doch eine Herausforderung für die Gewerkschaften dar. Die Gewerkschaften, die sich stark auf die Facharbeiter stützen, haben seit Ausbruch des Kriegs jeden Arbeiterstreik verhindert. Bei der Unterstützung der Schlächterei des Weltkriegs stehen sie an der Seite der Kapitalisten.

Die Gewerkschaftsführer versuchen, die gemäßigten Ziele des Streiks zu betonen. Sie hoffen, die Kontrolle über die Vertrauensleute, die die Arbeiter gewählt haben, zu behalten und diese für eigene Zwecke auszunutzen. Aber die Arbeiter wollen eine radikalere Lösung. Im ganzen Jahr 1917 hat es immer wieder Streiks in den Munitionsfabriken der Stadt gegeben, in denen es um die Frage der Vertrauensleute ging. Bisher haben immer die Gewerkschaften die Verhandlungen geführt, aber die Arbeiter wollen, dass die Vertrauensleute als ihre Vertreter in den Tarifverhandlungen akzeptiert werden. Damit sind breitere Forderungen wie die nach der Senkung der Nahrungsmittelpreise verbunden.

Die Gewerkschaftsvertreter werden den Unternehmern nach dem Streik erklären, dass „die Funktion der ‚Shop Stewards‘ sie in die Lage versetzen sollte, mit einer Bewegung außerhalb [der Gewerkschaft] fertig zu werden, die ihrer Kontrolle zu entgleiten drohte“.

Am 3. und 4. Dezember wird der Streik aufgrund massiven Drucks der Regierung abgebrochen. Das Munitionsministerium besteht darauf, dass die Gewerkschaft eine strengere Kontrolle über die Basis errichtet und künftige Unruhen vermeidet, nicht nur in Coventry, sondern auch in anderen Industriezentren. In den kommenden Monaten werden mehrere Streikführer entlassen.

USA, auch in dieser Woche: Repressionen im ganzen Land

Fritz Kreisler (links), mit Harold Bauer, Pablo Casals und Walter Damrosch am 13. März 1917 in der Carnegie Hall in New York City

Überall in den Vereinigten Staaten kommt es zu Razzien gegen Immigranten, Kriegsgegner, Künstler und Intellektuelle. Die Angriffe auf demokratische Rechte werden ohne Unterlass fortgesetzt, und sogar die in der Verfassung garantierten Grundrechte werden mit Füßen getreten.

• Am 27. November verhaften Bundesbeamte in Tacoma, Spokane, Seattle und Portland über hundert italienische Immigranten, hauptsächlich Bergleute und Werftarbeiter. Es ist unklar, was gegen sie vorliegt, aber die italienischen Arbeiter werden alle als mutmaßliche Mitglieder anarchistischer Organisationen verdächtigt, die sich laut New York Times „verschworen haben, Deutschland im Krieg zu unterstützen, indem sie in Italien eine Revolution zum Sturz von König Vittorio Emmanuele anheizen“.

• Am 27. November bricht Fritz Kreisler, der weltbekannte österreichische Violinist, seine Amerika-Tour ab. In mehreren Orten und Städten, zum Beispiel Pittsburgh, wurden wegen Kreislers angeblichen Sympathien für die Zentralmächte geplante Auftritte untersagt oder ein Verbot angedroht.

• Ebenfalls am 27. November wird Leonidas Whipple, Journalistik-Professor an der Universität von Virginia, entlassen, weil er sich angeblich in einer Rede am Sweet Briar College „illoyale“ Bemerkungen erlaubt habe.

• Am 30. November wird ein Paar in Minnesota, E.B. und Elizabeth Ford, unter dem Spionagegesetz zu einer Strafe von einem Jahr Gefängnis und tausend Dollar verurteilt, weil sie in einer kleinen Lokalzeitung, dem Faribault Referendum, mehrere Artikel gegen den Krieg veröffentlicht haben.

• Am 2. Dezember ordnet der Schuldistrikt von Pittsburgh (Pennsylvania) die Entfernung des deutschen Sprachtextbuchs an, da es angeblich zu wenig kritisch gegenüber Kaiser Wilhelm eingestellt sei. Ein Komitee unter Vorsitz des Superintendenten Davidson tauscht mehrere Bücher aus.

Auch in diesem Monat: Oktoberrevolution befeuert Klassenkampf in Deutschland

General Max Bauer, Befürworter eines Eintritts der SPD in die Regierung

Der „Burgfrieden“ bröckelt. Seit Kriegsbeginn haben SPD und Gewerkschaftsführer den Klassenkampf unterdrückt. Doch trotz starker Beschränkung des Vereins- und Versammlungsrechts brechen in den Industriegebieten und Großstädten des Reichs seit Wochen immer neue Streiks und Protestdemonstrationen aus. Die Errichtung einer Arbeiterregierung durch die Bolschewiki in Russland hat den Kampfgeist stark belebt.

• Vom 10. bis 12. November streiken 500 Beschäftigte der Flugzeug-Telegraphen Firma Dr. Huth in Berlin.

• Am 12. November gehen in Mülheim an der Ruhr 2.000 Arbeiter der Thyssen & Co. in den Streik.

• Am 18. November kommt es in mehreren Großstädten Deutschlands zu großen Friedensdemonstrationen.

• Vom 19. bis 22. November streiken rund 900 Arbeiter der Argus Motorenwerke in Berlin.

• Am 25. November gibt es erneut riesige Demonstrationen für ein sofortiges Kriegsende in Berlin, Leipzig, Mannheim, Stettin.

• Am 29. November bricht ein Streik von Arbeitern und Arbeiterinnen in einer Textilfabrik in Crimmitschau aus. Grund ist eine vom Unternehmer verweigerte Teuerungszulage.

Die Zahl der im gesamten Jahr 1917 streikenden Arbeiter erreicht damit 650.000 – das sind mehr als im Jahr der ersten Russischen Revolution, 1905, dem bis dahin größten Streikjahr in Deutschland.

Zunächst freuen sich die Generäle, Gewerkschafts- und SPD-Führer über die Aussicht auf einen Sonderfrieden mit der neuen revolutionären Regierung in Russland, weil sie auf einen Sieg an der Westfront hoffen. Bald breitet sich aber panische Furcht vor einem Generalstreik und einer revolutionären Erhebung in Deutschland aus. Schon eine kleine Ausweitung der Streikwelle hätte die Unterbrechung der ohnehin spärlichen Waffen-, Munitions- und Nahrungsmittellieferungen an die Front zur Folge und würde eine militärische Katastrophe herbeiführen.

Angesichts dieser kritischen Lage erklären sich General Ludendorff und sein erzreaktionärer Berater, Generalmajor Max Bauer, sogar bereit, Vertreter der SPD in die Regierung aufzunehmen, von denen sie wissen, dass sie die Oberste Heeresleitung und ihre Kriegsführung loyal unterstützen. So telegraphiert Bauer am 12. November an den Partei- und Fraktionsvorsitzenden der rechten Nationalliberalen Partei, Gustav Stresemann: „Sorgen Sie dafür, dass die Sozialdemokraten bei der Stange bleiben. Wir können nicht einmal einen partiellen Streik auch nur von acht Tagen vertragen, da wir mit der Munition angesichts des Fortgangs der Flandernschlacht nicht übermäßig bestellt sind.“ Und General Ludendorff unterstützte Stresemann gegenüber die Aufnahme des rechten SPD-Politikers Eduard David in das Kriegsministerium, „wenn dadurch Ruhe hergestellt“ werde.

Doch Zusammenarbeit mit den Generälen kann ihr Ziel – „Ruhe und Ordnung“ – nur erreichen, wenn Gewerkschaften und SPD in der Arbeiterklasse nicht jegliches Vertrauen verlieren. Deshalb beschließen die in der „Generalkommission“ zusammengeschlossenen Gewerkschaftsvorstände auf einer Konferenz vom 22.–24. November ein Reformprogramm, das sogenannte „Sozialpolitische Arbeitsprogramm“. Es beinhaltet folgende Forderungen: das uneingeschränkte Koalitionsrecht, den Achtstundentag, die gesetzliche Anerkennung von Tarifverträgen, von Arbeitgeberseite und Gewerkschaften paritätisch besetzte Arbeitsgerichte, Arbeitsschutzregelungen und schließlich die Verstaatlichung des Kohle- und Kalibergbaus.

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