Diese Woche in der Russischen Revolution

4.–10. Dezember: An der Ostfront verstummen die Geschütze

Sowjetrussland und die Mittelmächte beschließen einen zehntägigen Waffenstillstand, der später auf 28 Tage ausgeweitet wird. Am 5. Dezember sagt Lenin in einer Rede:Gegen den Krieg, den der Zusammenstoß der Räuber wegen der Verteilung der Beute hervorgerufen hat, haben wir einen entschiedenen Kampf aufgenommen.“ Die Arbeiter Russlands sollen im Kampf für den Frieden „Hand in Hand arbeiten mit der revolutionären Klasse der Werktätigen aller Länder“.

Washington, DC, 4. Dezember: Präsident Wilsons Antwort auf Friedensaufruf der Bolschewiki

Woodrow Wilson vor dem Kongress

In seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation vor einer gemeinsamen Sitzung beider Kammern des Kongresses beantwortet Präsident Woodrow Wilson den Aufruf der Bolschewiki für Frieden an die Völker der Welt. Ungewöhnlich für einen amerikanischen Präsidenten, scheint Wilson sich nicht nur an die im Kongress vertretenen Fraktionen der amerikanischen herrschenden Klasse zu richten, sondern an die ganze Welt. Auf dieses Terrain haben ihn Lenin und Trotzki gezwungen.

Wilsons zentrale Botschaft ist, dass es keinen wirklichen Frieden geben kann, bis „die dunklen Herrscher Deutschlands zu Boden geworfen und vollständig entmachtet sind“. Wilson verstehe, wie er sagt, „die Stimmen der Menschheit, die die Luft erfüllen und von Tag zu Tag hörbarer, deutlicher, drängender werden. Überall entsteigen sie den Herzen der Menschen … ‚Keine Annexionen, keine Kontributionen, keine Entschädigungen’.“ Wilson behauptet, es sei Deutschland, welches „diese grobe Formel [benutzt], um das russische Volk zu verführen, wie auch die Völker aller Länder, die seine Agenten erreichen können“. Damit wolle Deutschland einen „Separatfrieden“ erreichen.

Wilson fordert den Kongress auf, diese Formel aufzugreifen und zu nutzen. Die Botschaft eines gerechten Friedens müsse „von dessen wirklichen Freunden verbreitet werden“. Sobald Deutschland besiegt sein werde, „können wir endlich etwas Beispielloses tun, und jetzt ist die Zeit, uns dazu zu verpflichten. Wir können endlich Frieden auf Großzügigkeit und Gerechtigkeit gründen, ohne selbstsüchtige Ansprüche sogar auf Seiten der Sieger … Die Verbrechen, die großen Verbrechen, die in diesem Krieg begangen wurden, müssen korrigiert werden. Das ist selbstverständlich. Aber sie können nicht und dürfen nicht dadurch korrigiert werden, dass ähnliche Verbrechen gegen Deutschland und seine Verbündeten begangen werden … Wir wollen dauerhafte, nicht zeitweilige Grundlagen für Frieden in der Welt schaffen.“

London und Paris teilen jedoch keineswegs Wilsons Vision einer Weltordnung, die von den USA beherrscht wäre und auch ein rehabilitiertes Deutschland einschließen würde. Sie teilen auch nicht seine Behauptung, Washington führe den Krieg „nur aus hehren Motiven, ohne eigene Interessen … gerecht und heilig“.

Um diesen „gerechten und heiligen“ Krieg weiter führen zu können, beantragt Wilson, Österreich-Ungarn den Krieg zu erklären. Dieser Wunsch wird ihm am 7. Dezember im Senat einstimmig und im Repräsentantenhaus bei nur einer Gegenstimme gewährt.

Petrograd, 5. Dezember (22. November): Sownarkom schafft altes Justizsystem ab

Georgi Oppokow (Lomow), Volkskommissar für Justiz

Im Zug der Zerstörung des Staatsapparats des alten Regimes geht die Sowjetregierung dazu über, das alte Gerichtssystem abzuschaffen, und beschließt das „Erste Dekret des Sownarkom über die Gerichte“. Das Dekret sieht die sofortige Abschaffung „der Bezirksgerichte, der Hofkammergerichte und des Regierungssenats mit all seinen Abteilungen, sowie der Militär- und Marinegerichte, wie sie auch heißen mögen, und aller Handelsgerichte“ vor. Justizfragen des Zivil- und Strafrechts müssen künftig vor Schiedsgerichten verhandelt werden. Andere juristische Angelegenheiten unterstehen künftig der Autorität lokaler Gerichte, deren genaue Rolle spätere Dekrete definieren sollen.

Das Dekret sieht außerdem die Einrichtung von Revolutionstribunalen vor, die ihren Namen nach ihren Vorbildern in der französischen Revolution erhalten. Ihre Aufgabe besteht sowohl darin, „die Revolution und ihre Errungenschaften gegen konterrevolutionäre Kräfte zu schützen“, als auch, dem Kampf „gegen Plünderung und Raub, Sabotage und ähnlichen Missbrauch durch Händler, Industrielle, Beamte und andere“ zu dienen.

Auf eine Bitte des Moskauer Sowjets, der Sownarkom möge einen neu ernannten Kommissar offiziell bestätigen, antwortet Lenin kurz und bündig in einem Telegramm vom 2. Dezember: „Alle Macht ist in der Hand des Sowjets. Bestätigungen sind unnötig. Wenn ihr den einen entlässt und den andern einstellt, so ist das Gesetz.“

Lissabon, 5. Dezember: Rechter Putsch bringt interventionistische Regierung zu Fall

Sidónio Pais

Ein von Monarchisten und Klerikalen unterstützter Putsch bringt General Sidónio Pais an die Macht. Die Regierung der Demokratischen Partei unter Alfonso Costa wird aus dem Amt gedrängt. Costa befindet sich zu diesem Zeitpunkt in Frankreich und versucht von den Alliierten Zugeständnisse für die portugiesische Bourgeoisie zu erreichen, weil sie sich am Krieg gegen Deutschland beteiligt.

Costa und seine Verbündeten betrachten den Großen Krieg als gute Gelegenheit, den Kapitalismus in den portugiesischen Kolonien zu entwickeln und das Jahrhunderte-alte Bündnis mit Großbritannien zu erneuern. Großbritannien hat das Überleben des portugiesischen Weltreichs toleriert, weil es sich fast vollständig dem britischen unterordnet.

Aber Portugals Eingreifen im Krieg ist eine einzige Katastrophe. Die zwei Divisionen, die es an die Westfront schickt, sind nicht kampfbereit. In Afrika halten kleine deutsche Verbände, die überwiegend aus afrikanischen Kolonisten bestehen, reguläre portugiesische Truppen problemlos in Schach. In Portugal selbst erweist sich die Arbeiterklasse derweil als die stärkste gesellschaftliche Kraft. Sie führt während des ganzen Kriegs zahlreiche erbitterte Streiks und Brotaufstände, besonders 1917. Dies unterminiert Costas Position zusätzlich.

Bei seiner Rückkehr aus Frankreich wird Costa festgenommen. Das gleiche Schicksal ereilt weitere Interventionisten. Am 9. Dezember wird das Parlament aufgelöst, und am 12. Dezember Präsident Bernardino Machado abgesetzt. Obwohl Pais eine „interventionistische“ Regierung stürzt, setzt er die Beteiligung Portugals am Krieg fort.

Brest-Litowsk, 5. Dezember (22. November): Deutschland und Sowjetrussland schließen 10-tägige Waffenruhe

Nach zweitägigen Verhandlungen stimmen Sowjetrussland und die Mittelmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei) einem 10-tägigen Waffenstillstand zu, um einen Friedensvertrag auszuhandeln. Er wird später auf 28 Tage verlängert.

Etwa um den 10. Dezember (27. November nach altem, julianischem Kalender) findet eine Diskussion darüber statt, welche Instruktionen die Sowjetdelegation für ihre Verhandlungen erhalten solle, und Lenin bereitet einen Programmentwurf dazu vor. Er betont darin, dass die „Gespräche politisch und wirtschaftlich sein sollen“ und dass die bolschewistische Delegation sich auf das Grundprinzip, weder Annexionen noch Kontributionen, konzentrieren müsse. Die Bolschewiki sollten den Rückzug der Truppen aus den besetzten Territorien fordern und auf der Rückkehr der vom Krieg entwurzelten Flüchtlinge und dem Recht auf nationale Selbstbestimmung bestehen.

In seiner Rede auf dem Ersten Gesamtrussischen Kongress der Kriegsflotte am 5. Dezember (22. November) erklärt Lenin:

Man sagt uns, dass Russland sich zersplittern, in einzelne Republiken zerfallen werde, aber wir brauchen davor keine Angst zu haben. Wie viele selbständige Republiken es auch geben mag, wir werden davor keine Angst haben. Wichtig für uns ist nicht, wo die Staatsgrenze verläuft, sondern dass das Bündnis zwischen den Werktätigen aller Nationen zum Kampf gegen die Bourgeoisie aller Nationen erhalten bleibt. (Stürmischer Beifall) …

Wir sehen jetzt eine nationale Bewegung in der Ukraine und sagen: Wir sind unbedingt für die volle und uneingeschränkte Freiheit des ukrainischen Volkes. Wir müssen mit jener alten, blutigen und schmutzigen Vergangenheit brechen, wo das Russland der kapitalistischen Unterdrücker die Rolle des Henkers der anderen Völker spielte. Mit dieser Vergangenheit werden wir aufräumen, von dieser Vergangenheit werden wir keinen Stein auf dem andern lassen. (Stürmischer Beifall.)

Wir sagen den Ukrainern: Als Ukrainer könnt ihr euer Leben einrichten, wie ihr wollt. Aber wir reichen den ukrainischen Arbeitern die Bruderhand und sagen ihnen: Mit euch zusammen werden wir gegen eure und unsere Bourgeoisie kämpfen. Nur ein sozialistisches Bündnis der Werktätigen aller Länder wird jeden Boden für nationale Hetze und nationalen Hader beseitigen. (Stürmischer Beifall.)

Ich komme jetzt zur Frage des Krieges. Gegen den Krieg, den der Zusammenstoß der Räuber wegen der Verteilung der Beute hervorgerufen hat, haben wir einen entschiedenen Kampf aufgenommen. Alle Parteien haben bisher von diesem Kampf geredet, aber über Worte und Heuchelei sind sie nicht hinausgekommen. Jetzt hat der Kampf für den Frieden begonnen. Das ist ein schwerer Kampf. Wer glaubte, dass der Frieden leicht zu erlangen sei, dass man bloß ein paar Worte über den Frieden zu verlieren brauche, damit die Bourgeoisie ihn uns auf dem Teller präsentiere, muss ein sehr naiver Mensch sein. Wer den Bolschewiki eine solche Auffassung unterstellte, ist ein Betrüger. Die Kapitalisten sind wegen der Teilung der Beute in einem Kampf auf Leben und Tod aneinandergeraten. Es ist klar: den Krieg bezwingen heißt das Kapital besiegen, und in diesem Sinne hat die Sowjetmacht den Kampf begonnen. Wir haben die Geheimverträge veröffentlicht und werden das auch weiterhin tun. Keine Wutausbrüche und keine Verleumdungen werden uns davon abhalten. Die Herren Bourgeois speien Gift und Galle, weil das Volk erkennt, weshalb man es zur Schlachtbank getrieben hat. Sie schrecken das Land mit der Perspektive eines neuen Krieges, in dem Russland isoliert sein würde. Aber jener wütende Hass, den die Bourgeoisie gegen uns, gegen unsere Bewegung für den Frieden an den Tag legt, wird uns nicht aufhalten. Mag sie versuchen, die Völker in ein viertes Jahr des Krieges gegeneinander zu treiben! Das wird ihr nicht gelingen. Nicht nur bei uns, sondern in allen kriegführenden Ländern reift der Kampf gegen die eigenen imperialistischen Regierungen heran. Sogar in Deutschland, das die Imperialisten jahrzehntelang in ein Heerlager zu verwandeln suchten, wo der ganze Regierungsapparat darauf eingestellt ist, die geringste Äußerung der Volksempörung im Keime zu ersticken, sogar dort ist es bis zum offenen Aufstand in der Flotte gekommen. Man muss wissen, welch unerhörte Ausmaße die Polizeiwillkür in Deutschland hat, um zu begreifen, welche Bedeutung diesem Aufstand zukommt. Aber die Revolution wird nicht auf Bestellung gemacht; – die Revolution geht hervor aus dem Ausbruch der Empörung der Volksmassen. Wenn es so leicht war, mit der Bande solcher kläglichen, schwachsinnigen Kreaturen wie Romanow und Rasputin fertig zu werden, so ist es unendlich schwieriger, gegen die organisierte und starke Clique der deutschen gekrönten und ungekrönten Imperialisten zu kämpfen. Aber man kann und muss Hand in Hand arbeiten mit der revolutionären Klasse der Werktätigen aller Länder. Und diesen Weg hat die Sowjetregierung beschritten, als sie die Geheimverträge veröffentlichte und zeigte, dass die Machthaber aller Länder Räuber sind. Das ist eine Propaganda nicht des Wortes, sondern der Tat. (Stürmischer Beifall.)

Helsinki, 6. Dezember: Finnland erklärt Unabhängigkeit von Russland

Finnische Unabhängigkeitserklärung in beiden finnischen Amtssprachen

Die Regierung erklärt Finnland zum unabhängigen Staat. Oberhaupt der Regierung, die aus bürgerlichen Parteien besteht, ist P.E. Svinhufvud. Die bolschewistische Regierung in Petrograd akzeptiert, gestützt auf ihre Verteidigung des nationalen Rechts auf Selbstbestimmung, diese Entscheidung.

Für die Tatsache, dass Finnland diese Erklärung unter der Führung einer bürgerlichen Regierung abgibt, sind die russischen Menschewiki und Sozialrevolutionäre verantwortlich. Um ihre Kriegspolitik zu stützen, haben sie in den acht Monaten ihrer Herrschaft, von Februar bis Oktober, unausgesetzt großrussischen Chauvinismus vertreten. Lenin hat schon auf der siebten Parteikonferenz der Bolschewiki im April erklärt, dass diese Weigerung der Menschewiki, die Autonomie Finnlands zu unterstützen, nur dazu beitragen werde, separatistische Tendenzen zu stärken. Dabei war damals die Hauptforderung in Finnland noch Autonomie, und nicht komplette Loslösung. „Dort reift eine Krise heran“, erklärte Lenin damals. „Es wächst die Unzufriedenheit mit dem Generalgouverneur Roditschew, die Rabotschaja Gaseta aber schreibt, die Finnen sollen auf die Konstituierende Versammlung warten, da dort eine Verständigung zwischen Finnland und Russland erzielt werden würde. Was heißt Verständigung? Die Finnen müssen sagen, dass ihnen das Recht zusteht, nach eigenem Ermessen eine bestimmte Entscheidung über ihr Schicksal zu treffen, und der Großrusse, der dieses Recht leugnen wollte, wäre ein Chauvinist.“

Als Finnlands sozialdemokratische Regierung im Juli ihre Autonomie erklärt hat, da haben die Menschewiki und Sozialrevolutionäre als höchste Macht im Land Kerenskis Entscheidung unterstützt, das finnische Parlament mit Militärgewalt zu unterdrücken. Die Provisorische Regierung hat Neuwahlen befohlen, die in der Niederlage der Sozialdemokraten und einem Sieg der Bourgeoisie endeten. Seither hat sich die Bourgeoisie auf den Bürgerkrieg vorbereitet.

Finnlands Sozialdemokraten sind mit den russischen Menschewiki verbunden. Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen streben sie seit Anfang 1917 eine Koalitionsregierung mit der Bourgeoisie an. Diese Politik erweist sich für die finnische Arbeiterklasse als katastrophal. Die finnischen Arbeiter werden anfänglich vom revolutionären Enthusiasmus der Oktoberrevolution angesteckt, aber die Sozialdemokraten hindern sie im November daran, die Macht zu ergreifen. Am 20. November bläst die Parteiführung einen Generalstreik ab, der schon einen Großteil des Landes unter Arbeiterkontrolle gebracht hat. Sie gibt die Macht an die Bourgeoisie zurück und verschafft ihr ausreichend Zeit, um sich für den bevorstehenden blutigen Bürgerkrieg zu rüsten. Am 5. November, inmitten dieses Kampfs, wird die Unabhängigkeitserklärung im Parlament eingebracht, da die finnische Bourgeoisie um die Kontrolle kämpft und versucht, die sozialen Spannungen abzulenken.

Der finnischen Unabhängigkeitserklärung geht die Annahme der Deklaration der Rechte der Völker Russlands durch die Bolschewiki voran. Sie enthält eine Bestimmung, die allen nicht-russischen Völkern die Lostrennung erlaubt.

Halifax, Nova Scotia, 6. Dezember: Fast 2000 Tote bei größter von Menschen verursachter Explosion

Halifax-Explosion vom 6. Dezember 1917

Um etwa 8:45 Uhr kollidiert das französische Frachtschiff SS Mont Blanc mit dem norwegischen Nachschubschiff SS Imo. Die Mont Blanc hat bei der Einfahrt in den Hafen von Halifax eine Geschwindigkeit von nur einem Knoten, aber durch Funkenflug bei der Kollision geraten Fässer mit hochentzündlichem Benzol-Treibstoff in Brand. Die Flammen breiten sich sofort auf dem gesamten Schiffsdeck aus.

Vor dem Krieg durften Schiffe mit einer Ladung wie die der Mont Blanc überhaupt nicht in den Hafen von Halifax einfahren. Bei der Hafeneinfahrt müssen die Schiffe einen berüchtigten Engpass passieren, der als The Narrows (Engen) bezeichnet wird. Genau hier findet die Kollision statt.

Der Kapitän weiß genau, dass die Ladung seines Schiffes u.a. aus TNT und Pikrinsäure besteht. Deswegen gibt er seiner Besatzung den Befehl, das Schiff sofort zu evakuieren. Kaum zwanzig Minuten nach der Kollision, um genau 9:04 Uhr, explodiert die Mont Blanc. Das Schiff wird durch die Gewalt der Explosion in Stücke gerissen. Weiß glühende Eisenstücke regnen über ganz Halifax nieder. Der Ankerschaft der Mont Blanc, der eine halbe Tonne wiegt, wird dreieinhalb Kilometer weit weggeschleudert. Das 90Millimeter-Buggeschütz schlägt mehrere Kilometer vom Explosionsort entfernt auf.

Sämtliche Bauten im Umkreis eines Kilometers sind zerstört, das gesamte Stadtviertel Richmond praktisch dem Erdboden gleichgemacht. Es verdampft so viel Wasser, dass kurzzeitig der Meeresboden sichtbar wird. Ein Tsunami löscht eine Gemeinde der Ureinwohner bei Tufts Cove aus.

Die bestätigte Zahl der Todesopfer erreicht 1.950, aber die echte Zahl liegt vermutlich höher. Mehr als 9.000 Menschen erleiden Verletzungen. In der Umgebung brechen Feuer aus. Die Explosion ist auch noch am über 200 Kilometer entfernten Kap Breton zu spüren.

Bis zum Einsatz von Atomwaffen wird diese Explosion als die stärkste von Menschen verursachte Explosion gelten. Der Feuerwehrmann Billy Well erinnert sich: „Der Anblick war schrecklich. Menschen hingen tot aus Fenstern. Einige waren ohne Kopf, andere hingen an den oberirdischen Strom- und Telegraphenleitungen.“

Die Presse und die Behörden in Halifax machen deutsche Sabotage für die Explosion verantwortlich. Alle deutschen Überlebenden werden zusammengetrieben und eingesperrt. Der Steuermann der SS Imo wird unter dem Vorwurf verhaftet, ein deutscher Spion zu sein. In seinem Besitz wird ein Brief gefunden, der angeblich in Deutsch geschrieben sein soll. In Wirklichkeit ist er auf Norwegisch verfasst.

Petrograd, 7. Dezember (24. November): Isvestija publiziert Appell an muslimische Völker des Ostens

Tataren als Soldaten der Roten Armee, 1918

Die Iswestija publiziert einen Appell des Sownarkom an die muslimischen Völker des Ostens. Unterzeichnet ist er von Lenin in seiner Eigenschaft als Präsident des Rats der Volkskommissare, wie auch von Joseph Stalin, dem Vorsitzenden der Nationalitätenkommission. Der Appell trägt erheblich zur Popularität und dem Prestige der Oktoberrevolution und der Sowjetregierung bei den unterdrückten Massen auf der ganzen Welt bei. Er richtet sich sowohl an unterdrückte Muslime im ehemaligen russischen Zarenreich als auch an Muslime im Nahen Osten und in Asien, die seit Jahrzehnten von den Imperialisten ausgebeutet und unterjocht werden. Sein Anfang lautet:

Genossen! Brüder!

Große Ereignisse finden in Russland statt. Das Ende des blutigen Kriegs rückt näher, der zum Zweck der Zerstückelung anderer Länder aufgenommen wurde. Die Herrschaft der Räuber und Sklaventreiber geht zu Ende. Unter den Schlägen der Russischen Revolution wankt die alte Welt der Knechtschaft und der Sklaverei … Eine neue Welt ist geboren, eine Welt der Arbeiter und der freien Menschen. An der Spitze dieser Revolution steht die Arbeiter- und Bauernregierung von Russland, der Rat der Volkskommissare.

Im Angesicht dieser großen Ereignisse wenden wir uns an euch, arbeitende und enterbte Muslime von Russland und in den Ostgebieten. Ihr Muslime von Russland, Tataren der Wolga und der Krim, Kirgisen und Sarten aus Sibirien und Turkestan, Türken und Tataren von Transkaukasien, Tschetschenen und Bergbewohner aus dem Kaukasus – ihr alle, deren Moscheen und Kapellen der Zar und die Unterdrücker Russlands zerstört und deren Glauben und Gebräuche sie mit Füßen getreten haben!

Fortan sind euer Glaube und eure Gebräuche, eure nationalen und kulturellen Einrichtungen frei und unverletzlich. Baut euer nationales Leben frei und ungehindert auf. Ihr habt das Recht dazu. Wisst, dass der Sowjet der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten eure Rechte so gut wie die Rechte aller Völker Russlands schützen wird.

Buenos Aires, 8. Dezember: Argentinische Regierung bietet Militär gegen Streikende auf

Medienberichten zufolge, ruft die argentinische Regierung das Militär zu Hilfe, um eine Streikwelle zu brechen, an der sich die Rekordzahl von über 136.000 Arbeitern beteiligt. Amerikanische Fleischpackereien müssen die Arbeit einstellen, so dass die Fleischlieferungen an alliierte Armeen in Europa beeinträchtigt werden. Die Herbststreiks folgen unmittelbar auf einen Generalstreik der Eisenbahner im September. Er hat die Eisenbahngesellschaften, viele von ihnen in britischem Besitz, lahmgelegt.

Petrograd, 8. Dezember (25. November): Ende des Außerordentlichen Kongresses der Sowjets der Bauerndeputierten

Der heutige Außerordentliche Kongress der Sowjets der Bauerndeputierten zeigt eine deutliche Spaltung. Die Bolschewiki, die sich hauptsächlich auf die städtische Arbeiterklasse stützen, stehen den Linken Sozialrevolutionären und andern Delegierten gegenüber, die ihre Basis auf dem Land haben. Mehrere Deputierte weigern sich, Lenin als Sprecher der neuen Regierung zu akzeptieren. Der Kongress lässt ihn nur als Redner zu, wenn er als Parteimitglied der Bolschewiki auftritt. Diese Bedingung akzeptiert Lenin schließlich, da er, wie er der Versammlung erklärt, „es für wichtig [hält], dass Sie, der Kongress der Bauerndeputierten, die Meinung der Partei der Bolschewiki kennen“.

Als Lenins in den Saal kam, hat sich sein Vorredner an ihn gewandt und provokativ behauptet, er wolle den Kongress mit Bajonetten auseinanderjagen. Darauf setzt Lenin dem Kongress in seiner Rede geduldig auseinander, warum solche Befürchtungen grundlos sind.

Er geht außerdem auf die Frage der Konstituierenden Versammlung ein, eine schwierige Angelegenheit, die den Kongress entzweit. Während der Provisorischen Regierung haben die Bolschewiki die Parteien kritisiert, die an der Macht waren, weil sie zögerten, die Konstituierende Versammlung einzuberufen, und sie immer wieder verschoben. Aber wie Lenin erklärt, hat die Oktobererhebung die Situation grundlegend verändert. Lenin erklärt die Bedeutung des Bündnisses zwischen den Linken Sozialrevolutionären und den Bolschewiki, das, wie er sagt, „ein ehrliches Bündnis“ zwischen der revolutionären Bauernschaft und der revolutionären Arbeiterklasse sei. In einem Brief an die Prawda schreibt Lenin dazu, dass es „eine ‚ehrliche Koalition‘, ein ehrliches Bündnis sein kann, denn es gibt keine grundlegenden Differenzen zwischen den Interessen der Lohnarbeiter und den Interessen der werktätigen und ausgebeuteten Bauern. Der Sozialismus kann durchaus die Interessen sowohl der einen wie der anderen befriedigen. Nur der Sozialismus kann ihre Interessen befriedigen. Daraus ergibt sich die Möglichkeit und Notwendigkeit einer ‚ehrlichen Koalition‘ zwischen den Proletariern und den werktätigen und ausgebeuteten Bauern. Dagegen kann eine ‚Koalition‘ (ein Bündnis) zwischen den werktätigen und ausgebeuteten Klassen einerseits und der Bourgeoisie anderseits keine ‚ehrliche Koalition‘ sein, weil die Interessen dieser Klassen grundverschieden sind.“

Petrograd, 11. Dezember (28. November): Kadettenpartei durch Regierungsbeschluss verboten

Kadettenführer Pawel Miljukow

Die Kadettenführer sammeln ihre Kräfte für eine konterrevolutionäre Offensive. In der Don-Region arbeiten die Generäle Kornilow, Alexei und Kaledin eng mit Kadettenführern wie Miljukow zusammen. Inzwischen propagieren die Kadetten die Einberufung der Konstituierenden Versammlung, von der sie hoffen, dass sie sie als Gegengewicht zur Sowjetmacht nutzen können.

Am 11. Dezember (28. November) marschiert ein Zug gutgekleideter Bürger, viele direkt aus einer religiösen Zeremonie kommend, vor den Taurischen Palast in Petrograd, um für die Konstituierende Versammlung einzustehen. „Die Augenzeugen berichten übereinstimmend“, schreibt Historiker Alexander Rabinowitch, „dass nur sehr wenige Arbeiter, Soldaten und Matrosen unter ihnen waren“. Die Demonstranten, die die Tore des Palastes verschlossen und schwer bewacht vorfinden, klettern über den Zaun und drängen sich an den pro-sowjetischen Soldaten vorbei. Auf dem Gelände erklären sie ihre Zusammenkunft zur „Ersten Inoffiziellen Konferenz der Konstituierenden Versammlung“.

Trotzki und die bolschewistische Führung sehen in dem Marsch einen Aufstandsversuch gegen die Sowjetmacht, organisiert von der Kadettenpartei als der Leitzentrale der Konterrevolution. Auf einem Treffen des Sownarkom wird noch in derselben Nacht eine offizielle Erklärung beschlossen. Darin werden die Kadetten als „Volksfeinde“ bezeichnet, die einen „konterrevolutionären Aufstand“ organisieren. Der Sownarkom verabschiedet ein Dekret, das die Verhaftung der führenden Kadetten vorsieht. Sie sollen vor revolutionäre Tribunale gestellt.

Wenige Tage später geht Lenin in einer Rede auf dem Zweiten Gesamtrussischen Kongress der Bauerndeputierten auf die Frage der Kadettenpartei ein:

Sie sagen, dass wir die gesamte Partei der Kadetten für Volksfeinde erklärt haben. – Jawohl, das haben wir getan und haben damit den Willen des Zweiten Kongresses der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten zum Ausdruck gebracht. Und jetzt, wo wir an der Schwelle des Friedens, der Einstellung des entsetzlichen dreijährigen Gemetzels stehen, sind wir überzeugt, dass das die Forderung aller Werktätigen, der Werktätigen aller Länder ist. Der Sturz des Imperialismus in Europa schreitet – langsam und unter Schwierigkeiten – voran, und jetzt werden die Imperialisten aller Länder sehen, dass das Volk stark ist und vermöge seiner Stärke alle bezwingen wird, die sich ihm in den Weg stellen. Wenn man einen Aufstand gegen die Arbeiter und Bauern, gegen die Sowjets, organisiert und mit der anderen Hand das hohe Mandat zur Konstituierenden Versammlung vorweist, so werden wir davor nicht haltmachen. Im Juli hat man uns gesagt: „Wir werden euch für Volksfeinde erklären.“ Und wir antworteten: „Versucht es.“ Hätten nur die Herren Bourgeois und ihre Anhänger es versucht, das dem Volke offen zu sagen; aber sie haben es nicht getan, sie haben sich aller möglichen Anwürfe, Verleumdungen und schmutzigen Beschuldigungen gegen uns bedient. Als die Bourgeoisie den Bürgerkrieg begann, wir waren Zeugen dieses Krieges, da organisierte sie den Aufstand der Offiziersschüler, und wir, die Sieger, ließen gegenüber den Besiegten Gnade walten. Wir haben noch mehr getan: wir haben ihnen sogar die militärischen Ehren gelassen. Und jetzt … Wir sehen, dass die Verschwörung der Kadetten fortdauert, wir sehen, dass sie im Namen des Geldsackes, des Eigennutzes, des Reichtums den Aufstand gegen die Sowjets organisieren, und wir erklären sie offen für Feinde des Volkes. Jetzt, wo wir bald die Friedensbedingungen kennen werden, wo wir den Waffenstillstand haben werden, wo die Mitglieder der Bodenkomitees nicht mehr verhaftet werden, wo die Gutsbesitzerländereien konfisziert werden, wo die Kontrolle über die Fabriken und Werke eingeführt wird, organisieren sie eine Verschwörung gegen uns, gegen die Sowjets. Und wir erklären, dass sie, die Partei der Kadetten, eine Partei der Bourgeoisie sind, dass sie Feinde des Volkes sind und dass wir gegen sie kämpfen werden.

Auch in dieser Woche: Die russischen Futuristen reagieren auf die Oktoberrevolution

„Rosta-Fenster“ von Wladimir Majakowski über die Elektrifizierung Russlands

Während die italienischen Futuristen unter Führung Filippo Tommaso Marinettis den aufkommenden Faschismus umarmen, wenden sich die russischen Futuristen (David Burjuk, Alexander Krutschonych, Wladimir Majakowski und Viktor Chlebnikow) der Revolution zu. Wie Trotzki in Literatur und Revolution schreibt, brachte es dem russischen Futurismus „Vorteile“, dass er sich in der vorrevolutionären Phase gründete.

Er fing die noch unklaren Rhythmen der Aktivität, des Handelns, Ansturms und der Zerstörung ein … Die Arbeiterrevolution war in Russland ausgebrochen, bevor sich der Futurismus von seinen Kindereien, den gelben Blusen und der überflüssigen Hitzigkeit befreien und eine offiziell anerkannte, das heißt [für die herrschende Bourgeoisie] politisch unschädliche künstlerische Richtung werden konnte.

Die Machtergreifung der Arbeiterklasse, so Trotzkis Analyse, trifft den Futurismus noch im …

… Stadium einer verfolgten Gruppe an. Schon allein daraus ergab sich ein Anstoß in Richtung zu den neuen Herren des Lebens, umso mehr als die Hauptmomente des futuristischen Weltgefühls, die Missachtung der alten Normen und die Dynamik, die Berührung mit der Revolution und die Annäherung an sie außerordentlich erleichtert haben. Aber die Merkmale seiner sozialen Herkunft aus der bürgerlichen Bohème hat der Futurismus auch auf sein neues Entwicklungsstadium übertragen.

Nach Ausbruch der Revolution rezitiert Majakowski in Flottentheatern vor Matrosen Gedichte wie „Linker Marsch“. In seiner Autobiografie schreibt er später über die Oktoberrevolution: „Anerkennen oder nicht anerkennen? Diese Frage existierte für mich (und die übrigen Moskauer Futuristen) nicht. Das war meine Revolution. Ging ins Smolny. Arbeitete. Überall, wo es not tat. Beginn meiner Sitzungstätigkeit.“

Majakowski schreibt in seinem „Offenen Brief an die Arbeiter“: „Die Revolution des Inhalts – Sozialismus-Anarchismus – ist undenkbar ohne die Revolution der Form – den Futurismus.“ Beides bedürfe der Festigung und der Propaganda. Die Futuristen erklären, die Revolution der Kunst habe (vor 1917) schon stattgefunden. So rufen sie die „Proletarier der Fabriken und Böden zur dritten, unblutigen, aber grausamen Revolution, der Revolution des Geistes“ auf. Im Gegensatz zu den Proletkult-Vertretern, die eher auf Agitation in wenig innovativer Form und auf revolutionäre Inhalte setzen, wollen die Futuristen und ihre zahlreichen Abspaltungen gerade auch die Formen der Sprache und der bildnerischen Darstellung revolutionieren.

Viele Künstler engagieren sich nach der Revolution aktiv beim Aufbau neuer Kunstschulen und Werkstätten. Majakowski gestaltet ab 1919 in Wort und Bild viele der berühmten Rosta-Fenster, benannt nach der Telegrafen-Agentur ROSTA. Darauf werden politische, militärische und wirtschaftliche Themen – auch Fragen des Alltagslebens, der Hygiene und Gesundheit – in Bildern und Versen einprägsam dargestellt, so dass sie auch Leute begreifen können, die des Lesens und Schreibens kaum oder nicht kundig sind.

Mit der Auffassung, die bürgerliche Kunst ganz und gar über Bord zu werfen, stoßen die Futuristen unter führenden Bolschewiki wie Lenin und Trotzki auf wenig Gegenliebe, denn diese gehen davon aus, dass sich die Arbeiterklasse die Errungenschaften der bürgerlichen und vorbürgerlichen Kultur aneignen und darauf aufbauen sollte.

Aber in den frühen Jahren des Sowjetregimes mischt sich die Partei in ästhetische Fragen nicht ein. Von politischer Zensur über das künstlerische Schaffen kann keine Rede sein. Allerdings kommt es zu lebhaften Debatten und Meinungsverschiedenheiten zwischen Künstlern und Parteiführern, wie auch innerhalb der Parteiführung. Gleichzeitig entwickeln die Künstler eine Fülle neuer Stilrichtungen, die sich in den Jahren nach dem Bürgerkrieg zu einer einzigartigen Blüte der Kultur entfalten – bis sie durch die stalinistische Bürokratie erdrosselt werden.

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