Gestern begann im öffentlichen Dienst der Länder eine neue Runde von Warnstreiks, die heute und morgen massiv ausgedehnt werden sollen. Die Streiks sind das Vorspiel zur Fortsetzung der Verhandlungen zwischen den Gewerkschaften und der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) am Donnerstag in Potsdam.
In Norddeutschland haben gestern Hunderte Beschäftigte mehrerer Hamburger Behörden sowie rund 1800 Beschäftigte der Landesverwaltungen in Schleswig-Holstein den ganzen Tag gestreikt. In Thüringen waren unter anderem Lehrer zu Warnstreiks aufgerufen. In Baden-Württemberg kamen rund 1200 Streikende in Stuttgart zu einer Protestkundgebung zusammen. In Nordrhein-Westfalen streikten die Beschäftigten der Uni-Kliniken in Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster.
Heute sind in NRW größere Demonstrationen in Hamm und vor dem Landtag in Düsseldorf geplant. Die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) rechnen mit rund 8000 Teilnehmern in der Landeshauptstadt und mit 800 in Hamm. Weitere Streiks sind in Bayern angekündigt.
In Berlin haben GEW und Verdi Erzieher, Lehrer und Sozialarbeiter zu einem zweitägigem Warnstreik am Dienstag und Mittwoch aufgerufen. Allein die GEW hat in der Bundeshauptstadt 17.000 Lehrkräfte und 14.000 Beschäftigte im sozialen Erziehungsdienst zum Warnstreik aufgerufen, außerdem bis zu 30.000 Angestellte an den Hochschulen. Am Mittwoch sollen noch Beschäftigte der Senatsverwaltungen und der Bezirksämter dazukommen.
Morgen sind dann noch in Niedersachsen und in Bremen Arbeitsniederlegungen geplant.
Mit den Warnstreiks reagieren Verdi und vor allem die GEW auf die Wut über die katastrophalen Zustände im öffentlichen Dienst, in den Kindergärten und an den verschiedenen Schulformen.
Vor allem der Bildungssektor ist durch jahrelange Kürzungen kaputtgespart worden. Die Folge sind Lehrermangel, eine unerträgliche Arbeitsbelastung, marode Schulgebäude und nicht zuletzt steigende soziale Probleme der Kinder und Jugendlichen, die in den Schulen trotz allem persönlichen Einsatz der Lehrkräfte nicht mehr aufgefangen werden können. Hinzu kommt die ungleiche Bezahlung der angestellten Lehrer gegenüber ihren verbeamteten Kollegen.
Erzieher, Lehrer und Sozialpädagogen spüren in ihrem Beruf den sozialen Niedergang und die brutalen Sparprogramme von Bund, Ländern und Gemeinden am unmittelbarsten. Dies hat den Frust und die Wut unter ihnen anschwellen lassen.
Dabei handelt es sich um ein internationales Phänomen. In mehreren Bundesstaaten der USA haben seit letztem Jahr immer wieder Zigtausende Lehrer und Erzieher gestreikt; aktuell finden Lehrestreiks in Oakland statt. Ähnlich ist es in Kanada, Großbritannien, Tunesien, Algerien, Argentinien und Uruguay. Zurzeit streiken Lehrer und Beschäftigte im öffentlichen Dienst in Sao Paulo, Brasilien, gegen eine Erhöhung ihrer Rentenbeiträge im Zuge einer „Reform“.
Die Wiederkehr des Klassenkampfs beschränkt sich nicht nur auf die Lehrer. In Frankreich folgte auf die Lehrer-Proteste Anfang vergangenen Jahres die Gelbwesten-Bewegung als Revolte gegen soziale Ungleichheit, Armut und Not. Im mexikanischen Matamoros haben 70.000 Arbeiter in den Fabriken der Autozulieferindustrie wochenlang für bessere Löhne gestreikt. Auch in mehreren osteuropäischen Ländern wächst der Widerstand gegen die extreme Ausbeutung in den Autowerken.
Alle Arbeiter weltweit teilen dabei eine wichtige Erfahrung. Sie geraten beim Versuch, ihre Arbeitsplätze, Löhne und Arbeitsbedingungen zu verteidigen bzw. zu verbessern immer in heftige Konflikte mit den Gewerkschaften. Egal in welchem Land, die Gewerkschaften stehen den wieder erwachenden Kämpfen der Arbeiter ablehnend gegenüber.
Das trifft auch auf die aktuelle Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst in Deutschland zu. Die Gewerkschaften verfolgen mit den nun organisierten Warnstreiks das Ziel, ein Ventil für den angestauten Frust zu schaffen. Sie bereiten wie in den vergangenen Tarifrunden einen faulen Kompromiss mit den öffentlichen Arbeitgebern vor.
Denn seit vielen Jahren setzen die Gewerkschaften mit ihren Tarifabschlüssen den von den Regierungen vorgegebenen Sparkurs um. Tarifverhandlungen mit ihren Warnstreiks und Protesten sind zum Ritual verkommen. Streiks werden so organisiert – oder besser desorganisiert –, dass sie kaum Folgen haben. Sie werden örtlich isoliert, zeitlich beschränkt und nach Berufsgruppen getrennt. Die GEW hat sich bei den letzten Warnstreiks sogar dazu verstiegen, eine zentrale Demonstration in Duisburg auf einem Schulhof abzuhalten, abgeschirmt von der Öffentlichkeit. Ist es da ein Wunder, wenn Lehrer, Sozialpädagogen und Hochschulangestellte der Meinung sind, auf diesen Protest verzichten zu können?
GEW und Verdi haben kein Interesse an einem gemeinsamen Streik der Lehrer und aller Beschäftigten im öffentlichen Dienst, sondern arbeiten systematisch daran, einen solchen zu verhindern. Denn die Gewerkschaftsfunktionäre teilen die Politik ihrer Parteikollegen auf der Seite der öffentlichen Arbeitgeber.
Letztere lehnen die offiziellen Forderungen von Verdi, GEW sowie der Gewerkschaft der Polizei (GdP) nach sechs Prozent mehr Lohn, mindestens aber 200 Euro (100 Euro für Auszubildende) rundweg ab. Der Berliner Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) hat als Verhandlungsführer der Länder am letzten Freitag in einem „Grußwort“ auf einer Verdi-Landesbezirkskonferenz in Berlin erklärt, dass es keine Zugeständnisse geben werde.
Die Gewerkschaften haben berichtet, dass die Länder Verbesserungen in der Eingruppierung für Rettungssanitäter, Pflegekräfte, Angestellte im sozialen Erziehungsdienst und andere Berufsgruppen mit den Lohnforderungen verrechnen wollen. Die für Donnerstag und Freitag angesetzten Verhandlungen könnten sich laut Gewerkschaft auch noch bis Sonntag hinziehen.
Der Vorsitzende der Sozialistischen Gleichheitspartei Ulrich Rippert schrieb in einem ersten Aufruf anlässlich der Streiks im öffentlichen Dienst der Länder: „Die gegenwärtigen Streiks und Proteste im öffentlichen Dienst müssen als Teil einer internationalen Bewegung verstanden werden. Auf der ganzen Welt wehren sich Arbeiter gegen die immer schlechteren Arbeits- und Lebensbedingungen. Sie sind mit den gleichen Problemen konfrontiert und können sie nur gemeinsam lösen.“
Unter den Bedingungen der tiefsten Krise des Kapitalismus seit den 1930er Jahren könnten Arbeiter keines ihrer Rechte verteidigen und keine Verbesserungen durchsetzen, ohne mit den Gewerkschaften zu brechen und den Kampf selbst in die Hand zu nehmen. Das erfordere den Aufbau von unabhängigen Aktionskomitees, die für eine internationale Strategie und ein sozialistisches Programm kämpfen, betonte Rippert.