Nelly-Sachs-Preis: Jury zieht Auszeichnung von Kamila Shamsie wegen BDS zurück

Die britisch-pakistanische Autorin Kamila Shamsie soll den mit 15.000 Euro dotierten Nelly-Sachs-Preis nicht erhalten, den die Stadt Dortmund alle zwei Jahre vergibt. Das beschloss letzte Woche die achtköpfige Jury, die Shamsie ursprünglich als Preisträgerin nominiert hatte. Der Autorin wird vorgeworfen, dass sie sich zu den Zielen der BDS-Bewegung bekannt hat. BDS steht für Boycott, Divest & Sanctions und fordert zum wirtschaftlichen und kulturellen Boykott des Staates Israel auf.

Die BDS-Bewegung, die von zahlreichen Künstlerin und Intellektuellen unterstützt wird, wurde 2005 gegründet, nachdem der Internationale Gerichtshof entschieden hatte, dass Israels Trennmauer im Westjordangebiet illegal sei und „unverzüglich“ abgebaut werden müsse. Die Boykott-Initiative orientiert sich am Vorbild der Anti-Apartheid-Bewegung der 1980er Jahre, die gegen die Rassentrennung in Südafrika kämpfte. Sie besteht aus 171 recht unterschiedlich zusammengesetzten Gruppen und NGOs, die ein Ende der israelischen Besatzung der Palästinensergebiete, Gleichheit für die palästinensischen Bürger Israels und ein Rückkehrrecht für alle palästinensischen Flüchtlinge fordern.

Die Rücknahme des Preises ist ein weiterer Fall der um sich greifenden Zensurmaßnahmen von Staat und Behörden, die im Namen des Antisemitismus jegliche Kritik an der rechten Politik der israelischen Regierung unterdrücken und kriminalisieren. Obwohl sich unter den BDS-Unterstützern auch viele Juden und Israelis befinden, wird auf Betreiben der israelischen Regierung von Benjamin Netanjahu jegliche Solidarisierung mit den Zielen von BDS als Antisemitismus gewertet. Auch zahlreiche westliche Regierungen – allen voran die Deutschlands und der USA – beteiligen sich daran.

Auch der Deutsche Bundestag und der nordrhein-westfälische Landtag haben die BDS-Bewegung als „antisemitisch“ eingestuft, ebenso der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein. Peter Schäfer, der Direktor des Jüdischen Museums in Berlin, musste zurücktreten, weil der hochgeschätzte Talmud-Experte von der Regierung Netanjahu der Nähe zum BDS beschuldigt wurde.

Schon im Februar hatte nach anderen deutschen Städten auch die Stadt Dortmund eine Erklärung verabschiedet, die sich ausdrücklich gegen BDS richtet und diese Bewegung als antisemitisch brandmarkt.

In Dortmund verbreiten immer wieder Rechtsradikale ihre rechten antisemitischen und antimuslimischen Parolen. Regelmäßig schützt die Dortmunder Polizei rechte Aufmärsche, zu denen Gesinnungsgenossen aus dem ganzen Land zusammengetrommelt werden, vor den in der Regel viel zahlreicheren Gegendemonstranten. Dennoch wird vor allem die Solidarisierung mit den Palästinensern als antisemitisch verteufelt.

Auch gegen Stefanie Carp, die Intendantin der Ruhrtriennale, wurde im letzten Jahr eine massive Hetzkampagne entfesselt, weil sie es gewagt hatte, die schottische Band Young Fathers einzuladen, die sich zu den BDS-Zielen bekannt hatte.

Als die Dortmunder Jury Kamila Shamsie als Trägerin des Nelly-Sachs-Preises 2019 nominierte, hatte sie ihr Votum mit dem herausragenden literarischen Werk der Autorin begründet. Sie hatte ausdrücklich festgestellt, dass durch ihre Bücher „Brücken zwischen den Gesellschaften“ gebaut würden. So greift ihr jüngster, ins Deutsche übersetzte Roman „Hausbrand“ das antike Antigone-Thema auf, bei dem es darum geht, entgegen staatlicher Befehle und Anordnungen Menschlichkeit zu bewahren und zu praktizieren.

Der nach der deutsch-jüdischen Dichterin Nelly Sachs benannte Preis wird seit 1961 von der Stadt Dortmund vergeben. Nelly Sachs selbst war die erste Preisträgerin. Sie war dem Holocaust in letzter Minute nach Schweden entkommen, wo sie mit ihrer Mutter ein kümmerliches Dasein fristete. Sie verfasste eindrucksvolle Lyrik, in der sie sich mit der grausamen Verfolgung und Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus auseinandersetzte. Mit dem Literaturpreis ehrt die Stadt nach eigener Auskunft Preisträger, die für „Toleranz, Respekt und Versöhnung“ stehen und „sich für ein friedliches Zusammenleben einsetzen“.

Unmittelbar nach dem ersten Beschluss der Jury entbrannte bundesweit eine heftige Kampagne. Der Blog ruhrbarone und die Presse erhoben massive Vorwürfe gegen die Entscheidung der Jury.

Die Welt titelte: „Diese Frau darf den Nelly-Sachs-Preis nicht bekommen.“ Die Autorin hasse den Staat Israel. Sie habe die israelischen Sicherheitsmaßnahmen in der Westbank als „Apartheid“ bezeichnet und bringe es „nicht über die Lippen, den Terror der Hamas, die Korruption, die Unterdrückung von Frauen und Schwulen, die Marginalisierung von Christen in den palästinensischen Gebieten auch nur zu erwähnen“. Ihr den Nelly-Sachs-Preis zu verleihen, sei eine „obszöne Entscheidung“.

Am 14. September beschloss die Jury dann, ihr ursprüngliches Votum aufzuheben und die Preisvergabe an Kamila Shamsie zurückzunehmen. Sie gab an, ihren Mitgliedern sei trotz vorheriger Recherche nicht bekannt gewesen, dass sich die Autorin seit 2014 an den Boykottmaßnahmen gegen die israelische Regierung beteiligt habe. Die politische Positionierung von Kamila Shamsie und ihre aktive Teilnahme am Kulturboykott gegen die israelische Regierung stünden „im deutlichen Widerspruch zu den Satzungszielen der Preisvergabe und zum Geist des Nelly-Sachs-Preises“.

Weiter heißt es in der von der Stadt veröffentlichten Begründung: „Mit dem kulturellen Boykott werden keine Grenzen überwunden, sondern er trifft die gesamte Gesellschaft Israels ungeachtet ihrer tatsächlichen politischen und kulturellen Heterogenität. Auch das Werk von Kamila Shamsie wird auf diese Weise der israelischen Bevölkerung vorenthalten. Dies steht insgesamt im Gegensatz zum Anspruch des Nelly-Sachs-Preises, Versöhnung unter den Völkern und Kulturen zu verkünden und vorzuleben. Die Jury bedauert die eingetretene Situation in jeder Hinsicht.“

Shamsie kommentierte gegenüber dem Guardian, sie sehe die Rücknahme des Preises im Zusammenhang mit den gerade in Israel abgehaltenen Wahlen und dem von Netanjahu verkündeten Plan, bis zu einem Drittel des Westjordanlands zu annektieren, den sein Opponent Benny Gentz unterstützt habe. Sie wies auch auf die Tötung zweier palästinensischer Jugendlicher durch israelische Streitkräfte hin, die der besondere UN-Koordinator für den Nahen Osten als „unerträglich“ bezeichnet habe. Sie hingegen trete für einen gewaltlosen Boykott gegen Israel ein. Shamsie rechtfertigte auch ihre Entscheidung, ihre Bücher in Israel nicht zu veröffentlichen, da sie keinen Verlag dort kenne, der vollkommen unabhängig von der Regierung sei.

Offener Brief gegen die Aberkennung des Preises

250 Künstler und Intellektuelle unterzeichneten einen von den Autoren Ahdaf Soueif und Omar Robert Hamilton, dem Mitbegründer des Palestine Festival of Literature, verfassten Offenen Brief zur Unterstützung von Shamsie, den der Guardian veröffentlichte. Zu den Unterzeichnern zählen der Filmemacher Alexander Kluge, der Linguist Noam Chomsky und der Musiker Roger Waters.

In dem Offenen Brief schreiben sie: „Was bedeutet ein Literaturpreis, der das Recht auf Verteidigung der Menschenrechte, die Grundsätze der Gewissens- und Meinungsfreiheit und die Freiheit der Kritik untergräbt? Ohne dies verkommt Kunst und Kultur zum sinnlosen Luxus.“

Dem Brief ist auch eine Stellungnahme Shamsies beigefügt, die sie an die Dortmunder Jury schickte, um ihre Haltung zu erläutern. Weder die Stadt Dortmund noch die deutsche Presse haben sie veröffentlicht. Shamsie geht darin auf die Ankündigung Netanjahus ein, nach seinem erhofften Wahlsieg bis zu einem Drittel der Westbank zu annektieren, was gegen das Völkerrecht verstoße.

Sie schreibt: „Ich bin sehr traurig darüber, dass sich eine Jury dem Druck beugt und einer Schriftstellerin, die von ihrer Gewissens- und Meinungsfreiheit Gebrauch macht, einen Preis entzieht; und es ist empörend, dass die BDS-Bewegung (die auf dem Vorbild des südafrikanischen Boykotts beruht), die eine Kampagne gegen die Diskriminierung und Brutalität der israelischen Regierung gegenüber den Palästinensern führt, für etwas Schändliches und Ungerechtes gehalten wird.“

Der Offene Brief zitiert auch ein kürzlich ergangenes Urteil des Kölner Verwaltungsgerichts, das die Stadt Bonn anweist, den Deutsch-Palästinensischen Frauenverein e.V. zum jährlichen Fest „Vielfalt! – Bonner Kultur – und Begegnungsfest“zuzulassen. Die Stadt hatte den Verein wegen seiner Unterstützung der BDS-Bewegung ausgeschlossen. Nach Ansicht des Gerichts hat die Stadt Bonn „nicht einmal ansatzweise“ nachgewiesen, dass dieser Ausschluss gerechtfertigt war.

Die Denunzierung von BDS als antisemitisch dient als Vehikel, um den Rechtsruck der Gesellschaft zu befördern. Diese Politik spielt Rechtsradikalen und Faschisten – wie Viktor Orbán, Matteo Salvini, Rodrigo Duterte und der AFD – in die Hände, die sich mit der rassistischen Politik der israelischen Regierung solidarisieren und in Jerusalem als Staatsgäste geehrt werden. Künstlerinnen wie Kamila Shamsie, die sich für Humanität und Völkerverständigung einsetzen, werden dagegen diskriminiert, weil sie gegen die Unterdrückung der Palästinenser protestieren.

Nelly Sachs erhielt 1966 zusammen mit dem israelischen Schriftsteller Samuel Josef Agnon den Literaturnobelpreis. Obwohl Agnon und die Emigrantin Sachs „in verschiedenen Sprachen schreiben“, seien sie „geistig verwandt“ und aus der „gleichen Quelle inspiriert“ worden, erklärte das Preiskomitee, womit es die Judenverfolgung und die Verbrechen des Naziregimes meinte, die letztlich auch zur Gründung von Israel führten. Ob Nelly Sachs heute noch den Staat Israel und seine rechte Regierung unterstützen würde, darüber lässt sich nicht spekulieren. Aber es ist kaum anzunehmen, dass ihr das Schicksal der Palästinenser gleichgültig wäre.

Die Angriffe auf BDS-Unterstützer wie Shamsie entspringen nicht nur der Politik der Netanjahu-Regierung, sondern dem nationalistischen Fundament des Zionismus. Der Kampf zur Verteidigung des Rechts auf freie Meinungsäußerung muss daher mit einem Programm verknüpft werden, das sich mit den grundlegenden Problemen befasst, mit denen auch die palästinensischen Massen und die Arbeiterklasse in Israel konfrontiert sind. Demokratische Rechte können nur auf der Grundlage eines sozialistischen Programms verteidigt werden. Der Weg nach vorn ist nicht der des liberalen Protests und des Drucks auf Israel und seine imperialistischen Hintermänner, den die BDS-Bewegung befürwortet, sondern der Kampf für die Einheit der arabischen und jüdischen Arbeiter im Kampf gegen den Kapitalismus.

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