Daimler-Arbeiter: „IG Metall ist Handlanger des Managements“

Durch den Autoarbeiter-Newsletter, den Reporter der World Socialist Web Site in der vergangenen Woche vor den Toren des Werks in Sindelfingen verteilten, erfuhren Mercedes-Benz-Arbeiter zum ersten Mal vom Streik der 46.000 Beschäftigten des Automobilherstellers General Motors in den USA.

Das Daimler-Werk Sindelfingen liegt 15 Kilometer Luftlinie von der Konzernzentrale in Stuttgart entfernt und ist neben Volkswagen in Wolfsburg und Audi in Ingolstadt das größte Automobilmontagewerk Deutschlands. Gegründet 1915, montieren heute 35.000 Mitarbeiter verschiedene Daimler-Fahrzeugmodelle, darunter das Flaggschiff Mercedes-Benz S-Klasse und E-Klasse. 2018 produzierten die Daimler-Arbeiter mehr als 330.000 Autos.

Im Rahmen der Neugestaltung der Produktion vom Verbrennungsmotor zum Elektrofahrzeug hat der Konzern in Sindelfingen einen tiefgreifenden Wandel im Produktionsprozess eingeleitet. Im Februar 2018 stellte der Bereichsvorstand Produktion und Supply Chain von Mercedes-Benz Cars, Markus Schäfer, ein neues Produktionskonzept unter dem Titel „Factory 56“ vor.

Seither wird der Bau der Produktionshalle Nr. 56 mit Hochdruck vorangetrieben. Das neue Produktionskonzept soll in der Zukunft als Blaupause für die weltweite Produktion von Autos dienen, es soll auch in China, Indien und anderen Produktionszentren eingeführt werden.

Die Digitalisierung der Arbeitsabläufe im Rahmen von Industrie 4.0 soll eine „papierlose“ Produktion, gestützt auf das 5G-Mobilfunknetz, erlauben. Ein Wechsel vom Fließ- in den Taktbetrieb soll durch die Ablösung des klassischen Fließbands durch fahrerlose Transportsysteme (FTS) erreicht werden. Dies erlaubt eine Flexibilisierung der Produktion, die sowohl Serien- wie auch Nischenproduktion ermöglicht, sowie die Flexibilisierung der Arbeitszeiten.

„Produziert werden Pkw der Ober- und Luxusklasse mit Verbrennungsmotor, Hybridantrieb oder rein batterieelektrischem Antrieb sowie Self-Driving Cars,“ so der Unternehmenssprecher. Es sei auch denkbar, „dass die Mitarbeiter eines Tages per App ihre Arbeitszeiten wählen“.

Der Betriebsrat und die IG Metall haben dem Konzept „Factory 56“ ihre volle Rückendeckung gegeben und in einer Betriebsvereinbarung dem Zukunftsbild „Sindelfingen 2020+“ zugestimmt. Parallel zu den Bauarbeiten initiierte der Betriebsrat einen „Auswahlprozess“ zur Besetzung der „Factory 56“, in der nur noch 1000 Arbeiter Beschäftigung finden werden. Es gehe nicht nur um einen normalen Arbeitsplatzwechsel, sondern um einen „Kulturwandel“, begründete die Gewerkschaft ihren Ausleseprozess. Ende 2019, Anfang 2020 soll mit der Besetzung der neuen Halle 56 begonnen werden.

Dies führt zu massiver Verunsicherung und Zukunftsängsten unter der Belegschaft. „Die ‚Fabrik 56‘ ist für uns wie ein Geheimprojekt“, teilte ein Arbeiter den WSWS-Reportern beim Schichtwechsel mit. Er sei wütend, dass mehrere Kostensenkungsmaßnahmen geplant seien und eine nicht offenbarte Anzahl von Arbeitnehmern ihren Arbeitsplatz verlieren werde. Die IG Metall sei von Anfang an in die Planung und Umsetzung der ‚Factory 56‘ eingebunden gewesen und weigere sich, den Arbeitern alle Details zu liefern. „Wir stehen permanent unter Druck.“

In der Vergangenheit war die Produktionsmannschaft eines auslaufenden Modells immer auch die Anlaufmannschaft eines neuen Modells. Das ist bei der „Fabrik 56“ nicht mehr der Fall. Wird also die Halle 46, in der die S-Klasse vom Band läuft, Mitte 2020 renoviert, dann wird die Belegschaft nicht automatisch in die Halle 56 übernommen. Im „Auswahlprozess“ bestimmt der Betriebsrat, wer in der neuen Halle arbeitet. Das dient auch dazu, Opposition unter den Arbeitern zu unterdrücken, denn keiner will seinen Arbeitsplatz durch Kritik verlieren.

Josef, der als Karosseriebauer in Sindelfingen arbeitet, begrüßte die Information über den Streik bei General Motors. „Ich höre, dass dies der erste große nationale Autoarbeiterstreik in den USA seit 43 Jahren ist. Das finde ich gut. Es ist höchste Zeit, dass wir hier auch solch einen Streik organisieren“, sagte er. Seit Anfang der 80er Jahre habe es keinen richtigen Streik mehr gegeben.

Auf die Frage nach den Arbeitsbedingungen und der Transformation zur Elektromobilität antwortete er: „Du wirst hier niemanden finden, der sich nicht vor der Zukunft fürchtet. Jeder hat Angst um seinen Arbeitsplatz. Die wollen so viele Leute wie möglich loswerden.“ Er selbst stehe kurz vor der Rente, aber er habe Angst um die Zukunftsaussichten seines Sohns und anderer junger Menschen.

Josef ist zwar noch Mitglied in der IG Metall, aber nicht mehr aus Überzeugung. Er hält die Gewerkschaft für einen „Handlanger des Managements“. Sie sei nicht gewillt, gegen die drohende Entlassung von Tausenden Arbeitern im Zuge der Umstellung von Verbrennungsmotoren auf Elektroantriebe vorzugehen. Falls sich Arbeiter in einem unabhängigen Aktionskomitee zusammenschließen, würde er einen solchen Schritt unterstützen.

Ein Kollege von Josef, Zlatko, war zuletzt als Meisterstellvertreter beschäftigt. Er wurde kürzlich informiert, dass er nicht mehr gebraucht werde. In der „Fabrik 56“ gibt es keine Meisterstellvertreter mehr, nur noch die Meister. „Ich bin einer von 160 Kollegen, die gehen sollen“, sagte er den Reportern. Ihm sei eine Abfindung in Aussicht gestellt worden, aber die sei abhängig von vielen Faktoren, unter anderem Krankmeldungen, und sie werde individuell entschieden. „Ich soll ein Formular über meine 30 Jahre Betriebszugehörigkeit ausfüllen. Erst danach werden sie mir sagen, was ich bekomme.“

„Mir wurde gesagt, ich solle diese Entscheidung nicht persönlich nehmen, ich sei ein guter Mann, aber habe keinen Platz in der neuen Arbeitsorganisation“, fuhr er fort. „Was für eine Heuchelei! Was mit mir geschieht, ist nur der Anfang.“

Zlatko wies auf die Tausenden Arbeiter in der Zulieferindustrie hin, die vor ein paar Monaten ihre Arbeit verloren haben. Dies setze sich jetzt bei Daimler fort. „Bisher bestand eine Gruppe aus zehn bis zwölf Arbeitern. Für drei Gruppen gab es einen Meister und einen Stellvertreter. In Zukunft werden nur noch acht bis zehn Arbeiter eine Gruppe bilden. Die stellvertretende Meisterstelle wird gestrichen.“ Was mit den entfallenden Gruppenarbeitsplätzen geschehe, sei noch nicht bekannt.

„Ich bin nicht so naiv, um zum Betriebsrat zu gehen. Ich bin mir sicher, dass der Betriebsrat schon lange über die geplante Entlassung von 160 Leuten Bescheid wusste, bevor wir informiert wurden“, begründete er sein fehlendes Vertrauen in den Betriebsrat. Man solle nicht annehmen, dass die IG Metall Arbeiterinteressen vertrete. „Wenn man die Büros des Betriebsrats besucht, sieht man Plakate an den Wänden über die gute Behandlung der Arbeiter bei Daimler.“

Herbert (40 J.) arbeitet als Gruppenleiter und teilte mit, dass er gerade ein Treffen mit zwölf Arbeitern seiner Gruppe beendet habe. Er hatte den Auftrag, ihnen zu predigen, sie sollten sich bemühen, effektiv zu arbeiten und ein Bewusstsein für Sparsamkeit zu entwickeln. Er bestätigte die Aussagen seines Kollegen, dass die Gruppengröße um zwei bis drei Stellen reduziert werde. „Niemand weiß, was mit ihnen passieren wird. Jeder fürchtet um seinen Job, nicht nur in der Montage, sondern auch im Büro, Einkauf, Entwicklung und anderen Abteilungen.“

Auch er bestätigte, dass der Betriebsrat über alle Maßnahmen Bescheid wisse, aber keine Informationen herausrücke. „Die Konflikte zwischen Betriebsrat und Unternehmensführung sind Schauspiele, um den Arbeitern vorzuspielen, ihre Interessen würden vertreten. In Wirklichkeit handelt es sich um einen Familienkonflikt. Sie sind wie eine Familie.“

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