Die Situation auf der griechischen Insel Lesbos spitzt sich dramatisch zu. Am Montag demonstrierten rund 2.000 Flüchtlinge gegen die katastrophalen Bedingungen in Moria, laut BBC dem „schlimmsten Flüchtlingslager der Welt“. Die Flüchtlinge selbst sprechen von „der Hölle auf Erden“. Fast 20.000 Menschen leben in und um das Lagergelände, das eigentlich für weniger als 3.000 Personen ausgelegt ist.
Als die Flüchtlinge von Moria in die Inselhauptstadt Mytilini marschierten, wurden sie von schwer bewaffneten Polizeieinheiten gestoppt, die mit Tränengas auf die wehrlosen Frauen, Männer und Kinder losgingen. 40 Menschen wurden verhaftet, Kinder flohen entsetzt vor den Tränengaswolken.
Auch am Dienstag gingen die Proteste weiter. In ihren Slogans und auf Transparenten forderten die Flüchtlinge „Freiheit!“ und „Stoppt die Abschiebungen!“. Studenten und Anwohner protestierten ebenfalls. Die Polizei, die in Griechenland in großen Teilen aus Anhängern und Wählern der faschistischen Partei Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) besteht, führte rabiate und rassistische Personenkontrollen durch. Auf Facebook sorgte ein Post von einer jungen Familie aus Großbritannien für Empörung, die zufällig am Hafen von Lesbos war und aufgrund ihres sichtbaren Migrationshintergrunds von griechischen Polizisten gestoppt, gefilzt und erniedrigt wurde.
Wie die Lokalzeitung Sto Nisi berichtet, zog dann am Dienstagabend eine Gruppe von 15 bis 20 vermummten, mit Helmen und Schlagstöcken ausgerüsteten jungen Neonazis durch die Straßen von Mytilini und Moria und terrorisierte Passanten. Sie suchten gezielt nach Ausländern, Freiwilligen und Mitarbeitern von NGOs, die den Flüchtlingen helfen. Augenzeugen zufolge klopften sie sogar bei Häusern an und versuchten in ein Café einzudringen, um NGO-Helfer zu finden.
Berichten zufolge sind auf den griechischen Inseln derzeit mehr als 50.000 Flüchtlinge in so genannten Hotspots interniert. Diese Lager sind Teil des schmutzigen Deals, den die EU 2016 mit der Türkei und der griechischen Regierung, damals noch unter Führung der pseudolinken Syriza (2015–2019), abgeschlossen hatte. Das Abkommen sieht vor, dass alle Flüchtlinge, die aus der Türkei nach Griechenland gelangen, dort bis zur Bearbeitung ihres Falles interniert werden, um schließlich in die Türkei zurückgeschickt zu werden.
Proteste auf Lesbos im Januar
Vor zwei Wochen hatten bereits Tausende Anwohner auf den ägäischen Inseln gegen die Flüchtlingslager und die Pläne für neue Haftzentren protestiert.
Die Demonstrationen vom 22. Januar wurden von lokalen Behörden und Unternehmen organisiert. Kleinere Betriebe und der öffentliche Dienst blieben geschlossen, und ein Großteil der lokalen Wirtschaft kam zum Stillstand. Geschäfte, Apotheken und Tankstellen, wie auch einige Kliniken blieben geschlossen, Taxi- und Busfahrer streikten ebenfalls.
Die größte Demonstration fand in Mytilini statt, wo sich rund 7.000 Menschen am Hafen versammelten. Ein starkes Kontingent kam aus dem Dorf Moria. Die Demonstranten forderten die Schließung des Geländes und trugen Transparente mit der Aufschrift „Keine Gefängnisse mehr für menschliche Seelen in der Nordägäis“.
Mehrere Tausend protestierten auch auf den Inseln Chios und Samos, die beide überfüllte Internierungslager beherbergen. Auf Samos leben 7.200 Migranten in einem Lager für nur 700 Personen. In einem Gespräch mit der BBC sagte ein Inselbewohner von Samos: „Hier ist es wie im Gefängnis. Den Migranten ist es nicht erlaubt, die Insel zu verlassen. Sie können nicht gehen, wohin sie wollen.“
Ein erneuter Flüchtlingsstrom hat im vergangenen Jahr den Druck auf die bereits überfüllten Lager erhöht. Laut Zahlen des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) vom Januar haben 2019 fast 60.000 Menschen die Seeroute von der Türkei nach Griechenland riskiert, was einem Anstieg von 84 Prozent gegenüber 2018 entspricht. In den ersten beiden Januarwochen 2020 haben fast 1.500 Menschen übergesetzt, von denen 60 Prozent auf Lesbos landeten.
Die starke Überbelegung setzt die Menschen im Lager unter extremen psychischen Druck. Viele sind bereits traumatisiert von den Gräueltaten in ihren Heimatländern. Im Gespräch mit InfoMigrants erklärte eine Mitarbeiterin von Ärzte ohne Grenzen (MSF): „Die Überfüllung des Lagers, die Kälte und das Warten erleichtern die Lage nicht gerade und machen sie für alle unerträglich. In Moria fehlt es an allem: Essen, Duschen, Toiletten… Für jede Kleinigkeit muss man sich hier immer wieder anstellen.“
Diese unerträgliche Situation hat zum Anstieg der Gewalt geführt. Seit Anfang des Jahres sind aufgrund von Messerstechereien schon zwei Todesopfer zu beklagen. Eine Person, die kürzlich im Lager eingetroffen ist, sagte zu InfoMigrants: „Seit ich in Moria angekommen bin, vergeht kein Tag, ohne dass Kämpfe ausbrechen… Täglich wird jemand verletzt.“
Die Spannungen sind auch außerhalb des Lagers zu spüren. Einerseits hat aufgrund der Armut und Verzweiflung der Flüchtlinge die Kleinkriminalität zugenommen. Eine weitere Ursache für Spannungen ist die Gesundheitsgefährdung, da es keine zuverlässige Entsorgung der Müllberge und Fäkalien gibt. In einer schriftlichen Beschwerde, die der Anwohnerverband von Moria im November letzten Jahres an die Gemeindeverwaltung richtete, heißt es: „Die Abwässer können nicht über die Leitungen der örtlichen Abfallentsorgung geführt werden. Daher fließen sie in den Bach, der am Rand unseres Wohngebiets verläuft.“ Über ein ähnliches Problem wurde aus dem Lager auf Chios berichtet.
Die Organisatoren der Proteste haben sich bewusst bemüht, die Frustration über die Krise in eine reaktionäre Richtung zu lenken. Dies zeigte sich an den Plakaten, die den Protest ankündigten. Die Flüchtlinge wurden als Eindringlinge dargestellt. Neben Fotos von Menschen in Booten, die die Ägäis überqueren, stand der Slogan: „Wir wollen unsere Inseln zurück … wir wollen unser Leben zurück!“
Hauptredner des rechten Lesbos-Protests war Gouverneur Kostas Moutzouris, ein früheres Mitglied der regierenden konservativen Nea Dimokratia (ND), der als Unabhängiger für die Wahl zum Gouverneur für die nördliche Ägäis kandidiert hatte. Seine Politik ist so nah an derjenigen der ND, dass Parteichef Mitsotakis seinen Wahlsieg als Sieg der ND bezeichnete.
Moutzouris’ Rede war mit rechtsextremer Propaganda gespickt. Für alle sozialen Probleme – den mangelnden Zugang zu medizinischer Versorgung, den Druck auf das Bildungssystem und ein unzulängliches Verkehrssystem – machte er die Flüchtlinge verantwortlich. In Wirklichkeit sind sie durch chronische Unterfinanzierung, verschärft durch den Sparkurs der EU, entstanden. „Sie wollen uns mit Gewalt eine andere Lebensweise und Religion aufzwingen“, rief Moutzouris, „das werden wir nicht akzeptieren!“
Er wiederholte die faschistische Mär vom „Bevölkerungsaustausch“ und behauptete, die überfüllten Lager auf den Inseln seien Teil eines Plans zur Veränderung der europäischen Demographie. Dabei bediente er antisemitische Vorurteile und erwähnte ausdrücklich den internationalen Finanzier George Soros. Er wetterte gegen die ursprüngliche Solidarität der Inselbewohner mit den Flüchtlingen, die zu den Problemen beigetragen habe, und rief aus: „Wir haben diese Situation Jahre lang toleriert. Jetzt ist es Zeit, zu reagieren.“
Moutzouris, früher Dekan der Athener Polytechnio-Universität, stand 2013 zusammen mit dem griechischen Generalsekretär der EEK („Revolutionäre Arbeiterpartei“), Savas Michael, vor Gericht, als Chrysi Avgi gegen sie prozessierte. Aber seine damalige Begegnung mit der neofaschistischen Partei hat ihn nicht davon abgehalten, enge Beziehungen zur extremen Rechten anzuknüpfen. Als er während seines Wahlkampfs für den Gouverneursposten im vergangenen Sommer gebeten wurde, Gerüchte zu kommentieren, dass die Goldene Morgenröte seine Kampagne unterstütze, antwortete Moutzouris: „Wenn es eine Unterstützung der Goldenen Morgenröte gab, gibt oder geben wird, dann ist dies willkommen.“
Bei der Wahl stand auf Moutzouris’ Kandidatenliste auch Nikolaos Tallas, der in lokalen rechtsextremen Kreisen aktiv ist, mit Verbindungen zu den Rechtsradikalen, die für die brutale Unterdrückung von Flüchtlingen im April 2018 verantwortlich sein sollen.
Angesichts der offensichtlichen Nähe zur extremen Rechte versuchten sich pseudolinke Gruppen von den offiziellen Demonstrationen auf den Inseln zu distanzieren und hielten getrennte Demonstrationen ab. Das Arbeiterzentrum Lesbos, ein lokaler Gewerkschaftsverband, der der stalinistischen PAME angehört, organisierte eine kleine Kundgebung auf dem Sapphous-Platz, und auch die lokalen Syriza-Verbände hielten ihre eigene Demonstration ab.
Tatsächlich trägt Syriza zusammen mit ihrem Junior-Koalitionspartner, den fremdenfeindlichen Unabhängigen Griechen, aber die Hauptverantwortung für die Einrichtung der Internierungslager. Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei von 2016, das Syriza als zentralen Bestandteil der Festung Europa umsetzte, war ein Frontalangriff auf das Asylrecht, der nun ausgeweitet wird.
Ausbau der Festung Europa
Der griechische Migrations- und Asylminister Notis Mitarakis forderte Mitte Januar nach einem Besuch auf Samos und Lesbos mehr Repressionen gegen Flüchtlinge und Migranten: „Erstens, eine effizientere Bewachung unserer Grenzen. Und zweitens, die sofortige Abschiebung derjenigen, die keinen Anspruch auf internationalen Schutz haben.“
Damit spricht Mitarakis im Namen der Europäischen Union. Auf dem Europäischen Polizeikongress, der gestern in Berlin zu Ende ging, forderte der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) eine noch schärfere Sicherheits- und Asylpolitik Brüssels.
Abriegelung der Grenzen, Seenot, Polizeigewalt, Lagerhaft, Abschiebung in Kriegsgebiete – das ist es, was die EU unter „Schutz der europäischen Lebensweise“ versteht. So hat die neue deutsche EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) im letzten Jahr ihr Ressort für Migrations- und Asylpolitik getauft, das sie passenderweise dem griechischen ND-Politiker Margaritis Schinas übertrug.
Wie schon Syriza erledigt die ND-Regierung die Drecksarbeit der EU an ihren Außengrenzen mit krimineller Rücksichtslosigkeit.
Im November letzten Jahres kündigte sie an, bis Juli 2020 neue Gefangenenlager auf dem griechischen Festland zu errichten. Die Regierung hat bereits 9.000 Flüchtlinge von den Inseln in solche neuen Zentren verlegt, und in diesem Jahr sollen weitere 11.000 folgen. Offiziell werden diese Zentren als humaner und sauberer beworben, aber tatsächlich handelt es sich um neue Gefängnisse, die eine bessere Kontrolle über die Flüchtlinge ermöglichen. Sie sind vollständig abgeschlossen und werden wie die Haftanstalten in den Vereinigten Staaten geführt. Hinter Mauern verborgen werden die Gefängniswärter ungestraft mit den Flüchtlingen umspringen können, wie sie wollen.
Wer vor Bombenhagel, Armut und Obdachlosigkeit nach Europa flieht, soll künftig aber nicht nur in Gefängnisse auf dem griechischen Festland eingesperrt, sondern schon von „schwimmenden Barrieren“ im Meer daran gehindert werden, die Küste zu erreichen.
Mitte Januar erklärte die ND-Regierung, sie werde in einer ersten Testphase Wasserbarrieren entlang einer 2,7 Kilometer langen Strecke an der Küste vor der Insel Lesbos errichten. Die von den Streitkräften aufgebauten Barrieren oder Netze sollen einen halben Meter aus dem Wasser ragen und mit Blinklichtern versehen werden.
Das Mittelmeer, schon jetzt ein gigantischer Friedhof tausender ertrunkener Frauen, Männer und Kinder, wird in einen Kriegsschauplatz der besonderen Art verwandelt – hochgerüstete und mit neuester Technik bewaffnete Grenzschützer, Soldaten und Polizisten auf der einen Seite, hilflose Menschen auf dürftigen Schlauchbooten auf der anderen. Die EU kalkuliert den Tod von weiteren abertausenden Flüchtlingen ein.