Schäuble will Menschenleben dem Profit opfern

Obwohl sich die Covid-19 Pandemie in Deutschland und ganz Europa weiter ausbreitet, verfolgt die herrschende Klasse eine aggressive Öffnungspolitik. Am Montag kehren Abschlussklassen in zahlreichen Bundesländern in die Schule zurück und die großen Autofabriken nehmen die Produktion auf, darunter das VW-Stammwerk in Wolfsburg, in dem allein mehr als 63.000 Arbeiter beschäftigt sind. In den Großstädten öffnen Läden und große Einkaufszentren und möglicherweise auch bald Restaurants und Bars.

Die Regierungen in Bund und Ländern gefährden damit die Gesundheit und das Leben von Hunderttausenden. Ernsthafte Wissenschaftler und Epidemiologen, wie der Chefvirologe der Berliner Charité Christian Drosten, warnen vor einer „zweiten Welle“ der Pandemie, die „eine ganz andere Wucht“ als die erste hätte.

Bereits jetzt haben sich weltweit nahezu 3 Millionen Menschen mit Covid-19 infiziert und über 200.000 sind verstorben. In vielen Ländern sind die Gesundheitssysteme unter der Last der Pandemie zusammengebrochen – mit fürchterlichen Konsequenzen. Die Bilder aus Italien und den USA, wo die Leichen vom Militär abtransportiert und in Massengräbern verscharrt werden, haben sich ins Bewusstsein eingebrannt. Auch in Deutschland ist die Situation trotz der offiziellen Propaganda dramatisch. Am Wochenende stieg die Zahl der Toten auf fast 6000 und die Zahl der Gesamtinfektionen auf über 157.000.

Die „Back to work“-Offensive, die eine noch viel größere Katastrophe vorbereitet, wird seit längerem von einer Kampagne in Politik und Medien begleitet, die faschistische Züge trägt. Nun hat sich mit Bundestagspräsident Wolfang Schäuble (CDU) der protokollarisch zweithöchste Repräsentant des Staates an ihre Spitze gestellt. In einem Interview mit dem Tagesspiegel plädiert er offen dafür, das Leben von Menschen zu opfern, um die Wirtschaft wieder hochzufahren und die Interessen des deutschen Kapitalismus und Imperialismus durchzusetzen.

„Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig“, erklärt er provokativ. „Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“

Auf die Nachfrage der Zeitung, ob man „in Kauf nehmen muss, dass Menschen an Corona sterben?“, antwortet Schäuble kaum verhohlen mit „Ja“. Der Staat müsse zwar „für alle die bestmögliche gesundheitliche Versorgung gewährleisten“, aber Menschen würden „weiter auch an Corona sterben“. Zynisch fügt er hinzu: „Sehen Sie: Mit allen Vorbelastungen und bei meinem Alter bin ich Hochrisikogruppe. Meine Angst ist aber begrenzt. Wir sterben alle. Und ich finde, Jüngere haben eigentlich ein viel größeres Risiko als ich. Mein natürliches Lebensende ist nämlich ein bisschen näher.“

Mit seinem abstoßenden Versuch, die Würde des Menschen gegen das Recht auf Leben auszuspielen, unterstreicht Schäuble, dass die herrschende Klasse 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder an ihre faschistischen Traditionen anknüpft. Der Artikel 1 des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen in unantastbar“) wurde nach dem Terror und der Vernichtungspolitik der Nazis in das Grundgesetz aufgenommen – erklärtermaßen um Grundrechte zu schützen, und nicht etwa, um sie erneut auszuhebeln.

Doch die Zeiten, in denen die deutschen Eliten auf Grund ihrer historischen Verbrechen in zwei Weltkriegen gezwungen waren, etwas Kreide zu fressen, sind vorbei. 30 Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion und der Wiedervereinigung stellen sie ihre ganze Ignoranz, Brutalität und Unmenschlichkeit wieder offen zur Schau. Schäuble, der dienstälteste Abgeordnete des Bundestags und frühere Innen- und Finanzminister, verkörpert diese Entwicklung wie kaum ein anderer Vertreter der herrschenden Klasse.

Auf die Feststellung des Tagesspiegel, dass „die meisten Virologen allerdings klar für einen weiteren strikten Lockdown plädieren“, erwidert Schäuble: „Wir dürfen nicht allein den Virologen die Entscheidungen überlassen, sondern müssen auch die gewaltigen ökonomischen, sozialen, psychologischen und sonstigen Auswirkungen abwägen. Zwei Jahre lang einfach alles stillzulegen, auch das hätte fürchterliche Folgen.“

Und auf die Frage, ob „nicht vieles von vornherein“ hätte verhindert werden können, „wenn die Regierung den eigenen Pandemieplan von 2012 ernst genommen hätte“, antwortet er lapidar: „Die wirkliche Antwort ist: Wir haben doch alle miteinander gehofft, dass es schon nicht so schlimm kommen wird.“

Wen will Schäuble für dumm verkaufen? „Die wirkliche Antwort ist“, dass die herrschende Klasse schlicht andere Prioritäten setzte. Statt sich auf die bekannte Gefahr einer globalen Pandemie vorzubereiten, war sie mit der Wiederbelebung des deutschen Militarismus und Imperialismus beschäftigt. Und damit, die vielstelligen Milliardensummen, die nach der Finanzkrise 2009 in die Banken flossen, durch brutale Austeritätsmaßnahmen in ganz Europa wieder einzutreiben. Schäuble selbst spielte dabei als Bundesfinanzminister zwischen 2009 bis 2017 eine Schlüsselrolle.

Nun sieht die herrschende Klasse die Coronakrise als Möglichkeit, ihre brutale Klassenpolitik zu verschärfen. Im Interview mit den Tagesspiegel verteidigt Schäuble die gigantischen Summen, die erneut vor allem auf die Konten der Großunternehmen und Superreichen fließen, und verlangt, sie wieder aus der Arbeiterklasse herauszupressen und die Sozialsysteme weiter zu schleifen. Der Staat könne „nicht auf Dauer den Umsatz ersetzen“. Man brauche „strukturelle Veränderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik“ und müsse die „Chance nutzen, um manche Übertreibungen besser zu bekämpfen“.

Welche umfassenden „Veränderungen“ die herrschende Klasse außenpolitisch anstrebt, hat Schäuble bereits in seiner außenpolitischen Grundsatzrede zum Thema „Deutschlands Rolle in der globalisierten Welt“ im vergangenen Herbst erklärt. „Heraushalten ist keine Option, jedenfalls keine tragfähige außenpolitische Strategie“, drohte er. „Wir Europäer müssen mehr für unsere eigene Sicherheit tun – und das heißt auch: für die Sicherheit der Welt um uns herum.“ Dazu gehöre „in letzter Konsequenz auch die Bereitschaft, militärische Gewalt anzuwenden“. Dies habe „auch einen moralischen Preis. Und diese Bürde zu tragen, stellt gerade die Deutschen vor große Herausforderungen.“

Zwischen Schäubles Aufruf zu neuen Kriegen und Verbrechen und seiner aktuellen Forderung, Menschenleben für Profite zu opfern, besteht ein direkter Zusammenhang. Um ihre außen- und innenpolitischen Interessen in der tiefsten Krise des Kapitalismus seit den 1930er Jahren durchzusetzen, ist die herrschende Klasse sprichwörtlich wieder bereit, über Leichen zu gehen.

Die Arbeiterklasse muss daraus ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen. Um einen Rückfall in die Barbarei zu verhindern, muss sie der Unterordnung der Gesellschaft unter die räuberischen Interessen einer kleinen steinreichen Elite ein Ende setzen. Das erfordert die Mobilisierung der weit verbreiteten Opposition gegen Militarismus und Krieg und die nun von allen Parteien und den Medien forcierte Öffnungspolitik auf der Grundlage eines internationalen sozialistischen Programms.

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