75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs

Rechte Ideologen fordern Menschenopfer in Corona-Krise

Deutschland sei über die Jahre vom Gefährder der internationalen Ordnung des Menschen- und Völkerrechts zu ihrem Förderer geworden, behauptete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Festrede zum 75. Jahrestags des Kriegsendes. In „Jahrzehnten des Ringens mit unserer Geschichte“ sei die deutsche Demokratie gereift, so das Staatsoberhaupt.

Das sind wohlfeile Phrasen, die ihr Gegenteil verdecken sollen. Ein Dreivierteljahrhundert nach dem Ende des brutalsten Kriegs der Weltgeschichte, nach Vernichtungskrieg und Holocaust, kehren die herrschenden Eliten in Deutschland wieder zu autoritären und letztlich faschistischen Methoden zurück, um ihre Politik des Militarismus und der schreienden sozialen Ungleichheit durchzusetzen. Zu diesem Zwecke werden auch die Nazi-Verbrechen verharmlost.

Diese Tendenzen verschärfen sich mit der Coronakrise. Mit ihrer aggressiven Öffnungspolitik nimmt die Bundesregierung den Tod von hunderttausenden Menschen in Kauf, um die Profite der Superreichen zu schützen und ihre Position gegenüber imperialistischen Rivalen zu stärken. Während Banken und Konzernen hunderte Milliarden in den Rachen geworfen werden, ist angeblich nicht genug Geld für die grundlegendsten Sicherheitsvorkehrungen für Arbeiter da.

Diese rücksichtslose Klassenpolitik ist unvereinbar mit demokratischen Grundsätzen und grundlegenden humanistischen Standards. Deshalb werden zu ihrer Rechtfertigung immer offener rechtsextreme und faschistische Ideologien bemüht, die direkt an die Sprache des Militarismus und Nationalsozialismus anknüpfen.

In den USA forderte einer der wichtigsten Trump-Berater, der ehemalige Gouverneur Chris Christie, die Leute auf, für den Erhalt des „American Way of Life“ wie in den beiden Weltkriegen ihr Leben zu „opfern“. Auch in deutschsprachigen Medien werden ähnliche Bilder bemüht, um das Sterben für die Reichen zu rechtfertigen.

Schon am 17. April erklärte der Schweizer Unternehmer Georges Bindschedler in der Neuen Zürcher Zeitung, man müsse angesichts der „mutwilligen Inkaufnahme der Zerstörung der Wirtschaft“ die Frage stellen, die Friedrich der Große seinen Soldaten in der Schlacht von Kolin zugerufen hatte: „Wollt ihr denn ewig leben?“

Friedrich der Große tat diesen Ausspruch, als die Soldaten in einer aussichtslosen Lage vor dem Feind zurückwichen. Er wurde zum Inbegriff rücksichtsloser und brutaler Kriegsführung. Die bekannteste Adaption sind das Buch und der gleichnamige Film „Hunde, wollt ihr ewig Leben?“, die über die Schlacht von Stalingrad im Zweiten Weltkrieg erzählen.

Mit diesem Wahlspruch des Militarismus, der von den Nazis in größter Brutalität auf die Spitze getrieben wurde, begründet der Unternehmer heute seine Forderung nach einer Rückkehr zur Arbeit, die von Regierungen auf der ganzen Welt in die Tat umgesetzt wird. Wie fliehende Soldaten zurück an die Front, sollen Arbeiter zurück an die Arbeit getrieben werden und ihr Leben riskieren, um den Reichtum von Bindschedler und seinesgleichen zu mehren.

Noch deutlicher knüpft der Philosoph Bernhard Gill an die menschenverachtende Ideologie der Nazis an. In einem Artikel für den Spiegel sprach er sich gegen die Begrenzung der Infektionszahlen aus. Die Opfer der Pandemie seien an Altersschwäche gestorben, behauptet er. Seiner Auffassung nach ist dieses „Sterben ein natürlicher Vorgang, der individuell für die Beteiligten schmerzlich ist, aber aus der Distanz betrachtet Platz für neues Leben schafft“.

Selbstverständlich weiß auch Gill, dass seine natürliche Auslese einen sozialen Charakter trägt. So fanden britische Forscher heraus, dass Menschen aus armen Regionen doppelt so häufig an einer Coronavirus-Infektion sterben wie jene aus wohlhabenden Gegenden. Einer anderen Studie zufolge hat Covid-19 das Leben bei Männern, die an der Krankheit gestorben sind, um durchschnittlich 13 Jahre verkürzt, bei Frauen um elf Jahre. Von Altersschwäche kann also nicht gesprochen werden.

Letztlich geht es Gill darum, das gesellschaftlich verursachte Massensterben pseudo-biologisch zu rechtfertigen. Das unterscheidet sich nicht von Adolf Hitlers sozialdarwinistischem „aristokratischem Prinzip der Natur“, nach dem sich laut dem Führer der Nazis der Starke gegenüber dem Schwachen durchsetzt. Gills Rechtfertigung des Tods von Vorerkrankten und Alten folgt derselben Logik.

Der Sozialdemokrat Konrad Heiden erklärt in seiner Hitler-Biografie, mit dieser Aussage habe Hitler „schlechthin alles gesagt, was Hitler zu sagen hatte“. In „Mein Kampf“ stellt Hitler dieses aristokratische Prinzip der Natur der „Masse der Zahl und ihrem toten Gewicht“, also der Demokratie und dem Gleichheitsprinzip, entgegen.

Auch das wird jetzt wieder aufgegriffen. Der deutsch-amerikanische Professor Hans Ulrich Gumbrecht hetzt in einem Artikel, der am 24. März in der NZZ erschien, gegen das „Gleichheitsprinzip“, also den gleichen Schutz jeglichen Menschenlebens. Dieses Prinzip sei ohnehin ziemlich jung: „Bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gehörte der bewusste Entschluss, einen großen Teil der jüngeren männlichen Bevölkerung den Zielen von Macht und Ehre zu opfern, zu den damals auch konsensgetragenen Ausnahmesituationen der nationalen Kriege“, so Gumbrecht.

Zwar darf man diese Entwicklung dem Professor zufolge als menschlichen Fortschritt verbuchen, doch dürfe man die Augen vor den Kosten nicht verschließen. So müsse gefragt werden, ob der Schutz des Lebens nicht das „Überleben der Menschheit oder mindestens doch die Zukunft der jüngeren Generationen“ verspiele.

Auch hier folgt Gumbrecht der militaristischen und faschistischen Ideologie, die Heinrich Lersch 1916 inmitten des Ersten Weltkriegs im Gedicht „Soldatenabschied“ auf den menschenverachtenden Begriff brachte: „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen!“ Der Slogan wurde vom Kaiserreich und von der NSDAP prominent aufgegriffen, der sich Lersch später anschloss.

Das Wiederaufleben derartiger Positionen ist keine Randerscheinung. Der zweithöchste Repräsentant des deutschen Staats, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, griff die menschenverachtende Argumentation auf und attackierte sogar die grundgesetzlich geschützte Würde des Menschen. Diese umfasse nicht das Recht auf Leben, so Schäuble. Es sei nicht richtig, dass alles andere „vor dem Schutz von Leben zurückzutreten“ habe.

Wenn aber schwerkranke Menschen die lebensnotwendige Beatmung verweigert wird und sie elendig ersticken, nur um die Profite der Reichen zu schützen, ist Artikel 1 des Grundgesetzes, der aufgrund der Nazi-Verbrechen in die Verfassung aufgenommen worden war, reine Makulatur.

Schäubles faschistische Forderung nach Menschenopfern für die Reichen wurde von Vertretern sämtlicher Bundestagsparteien unterstützt. Der FDP-Vorsitzende Christan Lindner, AfD-Fraktionschef Alexander Gauland und die beiden Spitzenvertreter der Grünen, Robert Habeck und Katrin Göring-Eckardt, fanden lobende Worte für den Bundestagspräsidenten.

Die Wiederbelebung faschistischer Ideologie geht mit einer umfassenden Kampagne zur Verharmlosung und Entschuldung der Nazi-Verbrechen einher. Schon im Februar 2014 hatte der Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin, Jörg Baberowski, den Nazi-Apologet Ernst Nolte verteidigt. Zur Begründung hatte er hinzugefügt: „Hitler war nicht grausam“. Zudem verharmloste er den Holocaust und verglich ihn mit Erschießungen während des russischen Bürgerkriegs: „Im Grunde war es das Gleiche: industrielle Tötung.“

Diese üble Geschichtsklitterung, die im Spiegel, dem größten deutschen Nachrichtenmagazin, erschien, wurde drei Jahre lang von keinem einzigen Professor oder Historiker kritisiert. Die Sozialistische Gleichheitspartei und ihre Jugendorganisation IYSSE wurden heftig angegangen, weil sie Baberowskis Fälschungen ablehnten. Vertreter sämtlicher Bundestagsparteien und die Bundesregierung stellten sich hinter den rechtsextremen Professor.

Auch der Humboldt-Professor Herfried Münkler erhielt Applaus vom politischen Establishment, als er die imperialistische Ziele Deutschlands im Ersten Weltkrieg leugnete und forderte, Deutschland müsse wieder „Zuchtmeister Europas“ werden.

Der Militärhistoriker Sönke Neitzel, der nach Steinmeiers Rede als einziger Studiogast zur offiziellen ZDF-Sendung dazu eingeladen war, hatte die Sowjetunion bereits anlässlich des 75. Jahrestags des deutschen Überfalls mitverantwortlich für den Vernichtungskrieg gemacht. Die Wehrmacht habe sich in ihrer Vernichtungsstrategie die Rote Armee zum Vorbild genommen, behauptete Neitzel. Als ein Jahr später rechtsextreme Terrorzellen in der Bundeswehr aufgedeckt wurden, forderte Neitzel, dass sich die Bundeswehr viel offener auf die Traditionen von Hitlers Wehrmacht stützt.

Steinmeier selbst spielt eine Schlüsselrolle bei der Wiederbelebung des deutschen Militarismus und Faschismus. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 forderte er als damaliger Außenminister, Deutschland müsse „bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller einzubringen“. Er denunzierte die „Kultur des Heraushaltens“ und erklärte: „Deutschland ist zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren.“

Seitdem arbeitete er in der Innen- und Außenpolitik immer wieder mit rechtsextremen Kräften zusammen, um dieses Ziel zu verfolgen. Im Februar 2014 empfing er in der deutschen Botschaft in Kiew Oleh Tjahnybok, den Führer der faschistischen Swoboda-Partei, die eine wichtige Rolle beim von Berlin unterstützten Putsch in der Ukraine spielte. Im November 2017 lud er die beiden AfD-Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland und Alice Weidel zu einem gemeinsamen Treffen ins Schloss Bellevue. In der Folge hat die Große Koalition dann immer offener die Standpunkte der extremen Rechten übernommen und die AfD politisch eingebunden.

Die Politik des Militarismus und der sozialen Ungleichheit, die jetzt mit der Corona-Pandemie verschärft wird, und die Wiederbelebung faschistischer Ideologie bestätigen die Einschätzung der SGP, dass die Verharmlosung der Nazi-Verbrechen Bestandteil der Vorbereitungen der herrschende Klasse auf neue Verbrechen von historischem Ausmaß war.

Nachdem Baberowski Hitler 2014 als „nicht grausam“ bezeichnet hatte, schrieben die International Youth and Students for Social Equality in einem offenen Brief an die Humboldt-Universität: „Die Bemühungen, ein historisch falsches Narrativ zu begründen, fallen mit einem kritischen Wendepunkt der deutschen Geschichte zusammen. Sie stehen in engem Zusammenhang mit der Ankündigung von Bundespräsident Joachim Gauck und Außenminister Frank-Walter Steinmeier, es sei an der Zeit, die jahrzehntelange militärische Zurückhaltung Deutschlands zu beenden. Die Wiederbelebung des deutschen Militarismus erfordert eine neue Interpretation der Geschichte, die die Verbrechen der Nazizeit verharmlost.“

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