Perspektive

Dow Jones klettert auf 25.000 – Zahl der Corona-Toten erreicht 100.000

Der Präsenzhandel der New Yorker Börse wurde am Dienstagmorgen zum ersten Mal seit dem 23. März wieder geöffnet. Unter den Anwesenden, die die Eröffnung mit dem Läuten der Börsenglocke feierten, war auch der New Yorker Gouverneur Andrew Cuomo. Er ließ das düstere Gebaren seiner täglichen Coronavirus-Updates hinter sich und tauschte stattdessen Ellenbogen-Begrüßungen mit den Investoren an der Wall Street aus. Die Finanzwelt feierte noch sechseinhalb Stunden lang nach der Börsenöffnung den Bullenmarkt der Pandemie.

Als der Parketthandel im März geschlossen wurde, sank der US-Aktienindex Dow Jones auf 18.000 Punkte. Seitdem ist er wieder um etwa 40 Prozent gestiegen. Dank der Billionen aus dem Rettungspaket des CARES Act kletterte er um weitere 530 Punkte nach oben – ein Anstieg von 2,2 Prozent gegenüber dem Schlusskurs vom vergangenen Freitag.

Nur eine Viertelstunde nach der Börsenöffnung twitterte US-Präsident Donald Trump begeistert: „Aktienmarkt im Aufwind, DOW überschreitet 25.000. [Aktienindex] S&P 500 über 3000. Die Bundesstaaten sollten SOFORT öffnen. Der Übergang zur Großartigkeit hat früher begonnen als geplant. Es wird Höhen und Tiefen geben, aber das nächste Jahr wird eines der besten aller Zeiten!“

In der Lebenswelt der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung markierten das Wochenende des Memorial Day und der halboffizielle Sommerbeginn hingegen den Übergang zu einer neuen Zeit des Todes und der extremen Unsicherheit, Ungewissheit und Gefahr. Bei der Zahl der Todesopfer wird es nur „Höhen“ geben. Wenn der Sommer zu Ende geht, werden über 200.000 Menschen an Covid-19 gestorben sein.

Trump ist ein grausamer Lügner und politischer Verbrecher. Er ist zu dumm, um ein ausgewachsener Hitler zu sein, und ihm fehlt die Massenbasis einer echten faschistischen Bewegung. Seine Politik ist in keiner Weise populär. Trumps eigentliche Anhängerschaft ist die parasitäre Unternehmens- und Finanzelite. Ganz ohne Verlegenheit oder Zurückhaltung bringt er ihre tiefsten Gefühle zum Ausdruck: Der Dow Jones mit 25.000 Punkten ist weitaus wichtiger als 100.000 Corona-Tote.

Was die Euphorie an der Wall Street vor allem befeuert, ist die Überzeugung der Börsianer, dass alle systematischen und landesweit koordinierten Bemühungen zur Eindämmung der Pandemie auf Kosten der Wall-Street-Interessen endlich vorbei sind. Dr. Anthony Fauci ist ein Mann von gestern. Der Versuch von Wissenschaftlern, Ärzten und Gesundheitsexperten, die Öffentlichkeit aufzuklären und systematisch Tests, Kontaktverfolgung und soziale Distanzierung einzuführen, wurde durch eine hartnäckige und heimtückische Kampagne der Trump-Regierung und einem großen Teil der Medien untergraben. Sie diffamierten die US-Seuchenschutzbehörden Centers for Disease Control and Prevention, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die wissenschaftliche Community insgesamt.

Michael Ryan, der Nothilfekoordinator der WHO, versuchte am Montag die Illusion, das Schlimmste sei schon vorüber, zu entkräften: „Im Moment befinden wir uns nicht in der zweiten Welle. Die Welt befindet sich mitten in der ersten Welle.“

Meinungsumfragen zeigen, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung die überstürzte „Wiedereröffnung der Wirtschaft“ ablehnt. Es wäre ein Fehler, aus den Bildern von Massenversammlungen am Memorial-Day-Wochenende abzuleiten, dass es in der Bevölkerung eine breite Unterstützung für die Politik der „Herdenimmunität“ gibt, d.h. für die uneingeschränkte Verbreitung des Virus in der Bevölkerung. Viele Menschen kamen an dem nationalen Gedenktag zusammen, weil sie den verständlichen, wenn auch törichten Wunsch hatten, sich eine kleine Auszeit von der langen und beispiellosen sozialen Isolation zu gönnen.

Aber hier sind auch bestimmte Tendenzen am Werk, die tief in der Geschichte und Kultur der Vereinigten Staaten verwurzelt sind. Es hat eine lange Tradition, der staatlichen Autorität mit Misstrauen und Feindseligkeit zu begegnen. „Don’t Tread on Me“ (Tritt nicht auf mich!) stand schon auf der Flagge aus der Zeit der Amerikanischen Revolution. Es gibt auch ein starkes Element des Individualismus, weshalb viele Menschen abgeschreckt sind, wenn ihnen vorgeschrieben wird, wie sie sich verhalten sollen.

Da ein entwickeltes Klassenbewusstsein und eine sozialistische Orientierung fehlten, wurden diese sozialen und kulturellen Merkmale von der herrschenden Elite häufig für reaktionäre Zwecke ausgenutzt und manipuliert, vor allem um Antikommunismus zu schüren.

Das Becker Friedman Institute der University of Chicago hat eine Reihe wertvoller Studien veröffentlicht, in denen dokumentiert wird, wie die Medien versuchen, die öffentliche Meinung zu manipulieren und die Bemühungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zu untergraben. In dem Aufsatz „Misinformation During a Pandemic“ (Fehlinformationen während einer Pandemie) der Professoren Leonardo Burszteyn (University of Chicago), Aakaash Rao (Harvard University), Christopher Roth (Warwick University) und David Yanagizawa-Drott (Universität Zürich) heißt es:

Eine wesentliche Voraussetzung für die erfolgreiche Eindämmung einer Pandemie besteht darin, dass die Bürger die Lage richtig einschätzen. Doch die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus (Covid-19) im Jahr 2020 ging mit der Verbreitung von Nachrichten einher, die das Ausmaß der Bedrohung herunterspielten und die Bedeutung der Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie verwarfen. Insbesondere Fox News, der meistgesehene Fernsehsender, wurde wegen der Verbreitung von Fehlinformationen über die Pandemie breit kritisiert.

Der Bericht nimmt die Aussagen des Fox-Kommentators Sean Hannity in den Fokus und stellt einen empirischen Zusammenhang zwischen dessen Zuschauern und der Ablehnung der Lockdown-Politik her. Er zeigt auf, dass die Propaganda von Hannity und anderen Rechten vor allem in Bevölkerungsgruppen Widerhall findet, die von Arbeitslosigkeit und Lohnverlusten hart getroffen sind.

Auch wenn die empirischen Ergebnisse des Becker Friedman Institute interessant sind, geben sie kaum Aufschluss über das soziale, politische, kulturelle und intellektuelle Umfeld, in dem sich diese reaktionäre und wissenschaftsfeindliche Propaganda verbreiten kann. Die Studie geht einer Untersuchung der sozioökonomischen und Klasseninteressen, denen Fox News dient, aus dem Weg. Während sie die Rolle von Fox und Hannity zutreffend darstellt, ignoriert sie die verhängnisvolle Berichterstattung seriöserer Vertreter der etablierten Medien, die die rücksichtslose „Back-to-Work“-Kampagne propagierten.

Sowohl die Washington Post als auch die New York Times lieferten politische Rechtfertigungen für die Forderungen nach der Lockerung von Corona-Maßnahmen. Schon im März hatte Thomas Friedman, der einflussreichste Kolumnist der Times, Schwedens Politik der „Herdenimmunität“ als nachahmenswertes Beispiel gepriesen. Dieselbe Linie vertrat die Washington Post in ihren Leitartikeln und Kolumnen. Die Medien haben ausführlich über die kleinen Demonstrationen gegen die soziale Distanzierung und den Lockdown berichtet, die in Lansing (Michigan) und anderen Städten stattfanden. Dabei haben diese Proteste nie das Ausmaß einer Massenbewegung erreicht.

Solange es der Arbeiterklasse an einem Programm und einer Perspektive fehlt, die auf einer antikapitalistischen, sozialistischen und internationalistischen Grundlage entwickelt werden muss, kann die „Back-to-Work“-Kampagne an die wachsende Frustration appellieren. Doch diese Frustration kann überwunden werden.

Es ist die Aufgabe der revolutionären sozialistischen Bewegung, in der Arbeiterklasse für eine Perspektive zu kämpfen, die einen Weg nach vorn weist.

Der Ausbruch der Pandemie hat die unüberbrückbare Kluft zwischen der kapitalistischen Oligarchie und der Arbeiterklasse offenbart. Aus Sicht der herrschenden Elite darf nicht zugelassen werden, dass die Maßnahmen gegen die Pandemie ihren wirtschaftlichen Interessen in die Quere kommen. Sie fordert eine Rückkehr zur Arbeit, damit der Prozess der Ausbeutung und der Gewinnung von Profit aus der Arbeiterklasse wieder in Gang kommt – ganz gleich wie viele Menschenleben es kostet.

Der Standpunkt der Arbeiterklasse ist, dass die Verteidigung des Lebens oberste und unanfechtbare Priorität hat. Unter Arbeitern wächst der Widerstand gegen die Öffnung der Betriebe und anderer Arbeitsstätten, wo die Verbreitung von Covid-19 Leben gefährdet. Angesichts der Virus-Verbreitung in Schlachthöfen und Autowerken werden Forderungen nach kollektiven Maßnahmen zur Schließung unsicherer Betriebe lauter.

Die Socialist Equality Party unterstützt diese Forderungen. Sie wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Arbeiter in ihrem Kampf für Leben statt Profite zu unterstützen. Wir rufen dazu auf, Aktionskomitees für Sicherheit zu gründen. Sie sind dringend notwendig, damit die Arbeiter den Schutz von Menschenleben nicht der Unternehmensleitung überlassen, sondern in die eigenen Hände nehmen.

Der Kampf gegen die Pandemie ist in letzter Konsequenz ein politischer Kampf gegen das kapitalistische System. Die wesentliche Grundlage für eine revolutionäre Bewegung, die das Profitsystem abschafft, ist die Verankerung eines starken sozialistischen Bewusstseins und einer sozialistischen Kultur in der Arbeiterklasse – in den Vereinigten Staaten und weltweit.

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