Perspektive

Elon Musk entdeckt „Das Kapital“

Beobachter der amerikanischen Politik sind vielleicht überrascht, dass Elon Musk, der siebtreichste Mensch der Welt, aufmerksam den Marxismus studiert. Wenn er neben der Leitung seiner Unternehmen Tesla, SpaceX und noch weiteren die Zeit findet, befasst er sich offenbar eingehend mit dem berühmten dreibändigen Werk von Marx, Das Kapital.

In einem Tweet von letzter Woche zog Musk das Fazit seines Studiums. „Das Kapital in Kurzform“, schrieb er, laufe darauf hinaus: „Gib es mir umsonst“.

Elon Musks Tweet: „Das Kapital in einer Nussschale – Gib es mir umsonst“

Fürwahr eine großartige Einsicht! Musk will damit vermutlich sagen, dass Sozialisten alles umsonst haben wollen, tatsächlich spricht er aber eine wichtige Wahrheit aus: Die kapitalistische Klasse eignet sich den Mehrwert „umsonst“ an. Die Quelle der Profite, die sie akkumuliert, ist „unbezahlte Arbeit“. Das bedeutet, dass der Wert, den die Arbeiter produzieren, ihren Lohn übersteigt.

Wie sieht das im Einzelnen aus?

Das Kapital analysiert die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus‘, des Gesellschafts- und Wirtschaftssystems, das heute die gesamte Welt beherrscht. An den Anfang seiner Untersuchung stellt Marx die grundlegende Einheit dieses Wirtschaftssystems – die Ware.

Die Gesellschaft verfügt über einen Bestand an lebendiger Arbeitskraft, das heißt, sie besitzt die Fähigkeit, alles zu produzieren, was das Leben erfordert, von Nahrungsmitteln und Wohnraum bis zu Transport- und Kommunikationstechnologie. Als Folge der Arbeitsteilung zwischen den Produzenten nehmen die Produkte dieser Arbeit die Form von Waren an. Autos und Smartphones, Nahrungsmittel und Häuser, alles wird von verschiedenen Individuen und Industrien produziert und auf dem Markt gekauft und verkauft.

Die komplexe Funktionsweise des modernen Kapitalismus basiert auf einem einzigen Gesetz, das Marx als erster im Einzelnen untersucht hat: dem Wertgesetz. Es besagt, dass der Wert einer Ware durch die Menge an Arbeitszeit bestimmt wird, die zu ihrer Produktion gesellschaftlich notwendig ist. Der Wert eines Automobils von Tesla etwa ist größer als der Wert von einem Liter Milch, weil in die Produktion des Autos mehr menschliche Arbeit eingeht als in die Produktion von einem Liter Milch. Auf dem Markt werden Waren gegen andere Waren desselben Werts ausgetauscht (bzw., mit dem Aufkommen von Geld, derselben Geldmenge).

Wenn aber Waren auf der Grundlage der Arbeit, die zu ihrer Produktion notwendig ist, ausgetauscht werden, woher kommt dann die Ungleichheit? Weshalb kommt ein enormer finanzieller Reichtum nur einer dünnen Gesellschaftsschicht zugute, während diejenigen, die die Arbeit tatsächlich leisten, nämlich die Arbeiterklasse, immer mehr verarmt?

Elon Musks Nettovermögen beträgt 70 Milliarden US-Dollar. Das ist mehr als das Zweimillionenfache des mittleren jährlichen Einkommens in den Vereinigten Staaten (31.000 Dollar). Bedeutet das etwa, dass Musk mit seinen 49 Jahren so viel gearbeitet hat wie 2 Millionen Menschen in einem ganzen Jahr? Selbst wenn wir annehmen würden, dass Musk besonders fleißig ist, geht die Rechnung nicht auf.

Tesla-Chef Elon Musk (AP Photo/Jae C. Hong)

Die Quelle der Ungleichheit, erklärte Marx, liegt im besonderen Charakter einer bestimmten Ware, die auf dem Markt gekauft und verkauft wird: der Ware Arbeitskraft. Umgangssprachlich verkauft der Arbeiter seine Arbeit an den Kapitalisten. Das stimmt aber so nicht. Was der Arbeiter dem Kapitalisten verkauft, ist nicht seine Arbeit, sondern die Ware Arbeitskraft, die Fähigkeit zu arbeiten, die in die Produktion und den Wert aller anderen Waren eingeht.

Der Besitzer der Produktionsmittel (z. B. Musks Tesla-Fabrik in Vermont, Kalifornien) kauft die Arbeitskraft der Arbeiter. Das bedeutet, er kauft die Arbeitskraft dieser Arbeiter zu einem bestimmten Lohn bzw. Gehalt.

Wie der Wert jeder anderen Ware bestimmt sich auch der Wert dieser besonderen Ware, der Arbeitskraft, durch das Quantum an Arbeit, das zu ihrer Herstellung notwendig ist, und das die Menge an Gütern hervorbringt, die für das Überleben und die Reproduktion der Arbeiter erforderlich ist. Je weniger es braucht, um sein Überleben und die Reproduktion der nächsten Generation von Lohnarbeitern zu sichern, desto ärmer ist der Arbeiter, und desto billiger ist seine Arbeitskraft.

Hat der Kapitalist einmal diese Ware, die Arbeitskraft, gekauft, hat er das Recht, darüber zu verfügen. Das tut er, indem er dem Arbeiter Arbeit zuweist. Aber, und darauf kommt es an, die Menge an Arbeit, die der Arbeiter leistet – am Fließband, im Geschäft, in der Landwirtschaft – übersteigt den Wert seiner eigenen Arbeitskraft (der sich in seinem Lohn niederschlägt). Anders gesagt: ein Arbeiter erarbeitet mehr, als der Wert der zu seinem Lebensunterhalt benötigten Güter beträgt.

Es gibt einen Überschuss bzw. Mehrwert, die Differenz zwischen dem Wert, den der Arbeiter schafft, und dem, was zu seinem Lebensunterhalt notwendig ist. Je stärker die Ausbeutung (je mehr der Kapitalist aus dem Arbeiter herauspressen kann) und je geringer die Kosten der Arbeitskraft (je weniger er dem Arbeiter bezahlt), desto größer ist der erzielte Mehrwert.

Das Produkt seiner Arbeit gehört nicht dem Arbeiter, sondern dem Kapitalisten. Wenn dieser die Waren auf dem Markt verkauft, realisiert er den Mehrwert, der erzielt wurde, in der Form von Profit.

Auf diese Weise zieht die kapitalistische Klasse als Ganze massenhaften Mehrwert aus der Arbeiterklasse als Ganzer. Dieser Mehrwert wird dann unter den verschiedenen Teilen der kapitalistischen Klasse im Kampf auf dem Markt aufgeteilt, mittels des Preismechanismus, des Wettbewerbs, durch Manipulation, Handelsbeschränkungen, etc. Marx analysiert diese komplexen Sachverhalte in Das Kapital. Was im Kampf auf dem Markt aufgeteilt wird, ist aber durch die Verausgabung der Arbeitskraft der Arbeiterklasse bereits erzeugt worden.

Es läuft darauf hinaus, dass der Profit und der Reichtum des Kapitalisten nicht das Ergebnis seiner eigenen Arbeit ist, sondern der Arbeit anderer, der Arbeiter. „Den Mehrwert“, erklärt Marx in seinem vorhergehenden Werk, Lohn, Preis und Profit, „oder den Teil des Gesamtwerts der Ware, worin die Mehrarbeit oder unbezahlte Arbeit des Arbeiters vergegenständlicht ist, nenne ich Profit.

Oder, extrem vereinfacht à la Musk: „Gib es mir umsonst.“

Auf eine Sache muss man aber näher eingehen, um die gegenwärtige Situation zu verstehen. Es geht um die Art und Weise, wie die herrschende Klasse ihre Kontrolle über den Staatsapparat nutzt, vor allen Dingen während der letzten vier Jahrzehnte, um enorme Geldmittel direkt auf die Finanzmärkte, d. h. auf die Bankkonten der Superreichen zu lenken.

Als Antwort auf die Coronavirus-Pandemie hat die amerikanische herrschende Klasse durch die Notenbank der USA Billionen von Dollar an die Wall Street umgeleitet, und damit die Aktienwerte auf ungeahnte Höhen getrieben.

Diese massive Rettungsaktion für Unternehmen und Banken – eine andere Version von Musks „Gib es mir umsonst“ – wurde Ende März von beiden Parteien durch die beinahe einstimmige Verabschiedung des CARES Act durchgeführt. Musks Reichtum rührt selbst zu einem großen Teil aus solchen Finanzoperationen. Als Ergebnis der anschwellenden Aktienkurse inmitten steigender Sterbezahlen und sozialen Elends hat Musk sein Nettovermögen in den ersten sieben Monaten dieses Jahres verdreifacht.

Dem Anschein nach musste die Notenbank einfach nur das nötige Geld drucken; doch alle Geschenke an die Reichen müssen durch die Ausbeutung der Arbeiter, die alle Werte schaffen, bezahlt werden.

Das steht hinter dem Drängen der herrschenden Klasse nach einer Rückkehr an die Arbeit, obwohl die Pandemie völlig außer Kontrolle geraten ist. Musk selbst forderte am Entschiedensten, alle Beschränkungen für die Ausbreitung der Pandemie aufzuheben und den Bundeszuschuss für Arbeitslose nicht zu verlängern. Arbeiter müssen zurück an die Arbeit gezwungen werden, um Mehrwert und Profit zu produzieren.

Gegen Ende des ersten Kapitels von Das Kapital resümiert Marx glänzend die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung und ihre revolutionären Konsequenzen. Seine Worte gewinnen in der heutigen Situation große Bedeutung:

Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.

Manche argumentieren vielleicht, dass Musk in seinem Tweet über Das Kapital nicht die Absicht hatte, den Prozess der kapitalistischen Ausbeutung der Arbeiterklasse zusammenzufassen. Vielleicht meinte er die Arbeiter und wollte sagen, sie wollen alles umsonst, wenn sie gegen ihre Ausbeutung protestieren?

Diese Lesart ließe Musk wie einen Ignoranten und Aufschneider aussehen, wenn nicht wie einen Rassisten. Wenn Arbeiter seinen Tweet aber so verstehen, werden sie antworten, dass sie eine Gesellschaft aufbauen wollen, in der der Produktionsprozess demokratisch kontrolliert wird und die Produkte menschlicher Arbeit auf der Basis von Gleichheit und des menschlichen Bedarfs verteilt werden, statt einige Wenige massiv zu bereichern. Sie werden sagen: Die Expropriateure müssen enteignet werden, und mit Musk könnten wir anfangen.

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