Die Bilder von Reichsflaggen schwenkenden Neonazis auf den Treppen des Reichstagsgebäudes gingen um die Welt und lösten in breiten Schichten zu Recht Wut und Empörung aus. Sie waren Teil der Mobilisierung von etwa 30.000 Rechtsextremisten, Antisemiten und ihren Mitläufern in der deutschen Hauptstadt, die am Samstag gegen jegliche Eindämmung des Corona-Virus demonstrierten.
Vertreter der Regierung und Opposition bemühten sich umgehend um eine medienwirksame Distanzierung. „Reichsflaggen und rechtsextreme Pöbeleien vor dem Deutschen Bundestag sind ein unerträglicher Angriff auf das Herz unserer Demokratie“, erklärte etwa Bundespräsident Frank Walter-Steinmeier (SPD). „Es betrifft uns alle, wenn eine gewaltbereite, ersichtlich rechtsradikale Minderheit den Sitz der Volksvertretung stürmen will“, gab Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zu Protokoll.
Solche Äußerungen sind reine Heuchelei. Was die Politiker stört, sind nicht die Rechtsextremisten, die Symbole des Kaiserreichs und der Nazis schwenken, sondern der Umstand, dass diese Bilder ein Schlaglicht auf die gefährliche politische Entwicklung in Deutschland werfen und Widerstand provozieren. Mit den Rechtsextremisten innerhalb des Bundestags arbeiten alle übrigen Parteien längst zusammen. Sie haben AfD-Abgeordnete in den Vorsitz der wichtigsten Parlamentsausschüsse gewählt, sie zur offiziellen Oppositionsführerin gemacht und ihre menschenverachtende Politik in die Tat umgesetzt.
Auch die Demonstration vom Samstag wurde von Vertretern sämtlicher Parteien und vieler Medien im Vorfeld hofiert. Sie wollen die wachsende Opposition gegen ihre gefährliche Öffnungspolitik in Hinblick auf das Corona-Virus mit den rechtsradikalen Aufmärschen einschüchtern und unterdrücken.
Als die Berliner Behörden die Demonstration zunächst untersagt hatten, weil aufgrund zahlreicher Aufrufe abzusehen war, dass sich die Teilnehmer nicht an die Abstandsregeln, bzw. die Maskenpflicht halten würden, lancierte der Springer-Verlag eine umfassende Kampagne. Das Bestehen auf die Hygieneregeln sei „ein inakzeptabler Angriff auf eines unserer höchsten Grundrechte“, titelte die Bild-Zeitung.
Der Chef der Linksfraktion im Bundestag, Dietmar Bartsch, hatte schon nach der ersten rechtsextremen Corona-Demonstration in Berlin am 1. August erklärt, dass man sich auf die Teilnehmer einlassen müsse. „Sie abzustempeln und auszugrenzen hilft nicht“, sagte der Politiker im Deutschlandfunk. „Es sind auch Rechtsextremisten dabei und wirklich auch Wahnsinnige, aber auch viele Menschen, die, ja, aus Unmut dort teilgenommen haben.“
Diese Verklärung eines rechtsextremen Aufmarsches ist schon von den islamfeindlichen Pegida-Demonstrationen bekannt, deren Teilnehmer von Politikern aller Parteien als „besorgte Bürger“ bezeichnet worden waren, mit denen man den Dialog suchen müsse. Damals diente die Verharmlosung der Demonstrationen dazu, ihre rechtsradikalen Positionen salonfähig zu machen und die breite Solidaritätsbewegung mit den schutzsuchenden Flüchtlingen einzuschüchtern.
Auch im Falle der Corona-Proteste kann kein Zweifel am rechtsradikalen Charakter der Aufmärsche bestehen. Zu der Demonstration mobilisierte die gesamte rechtsextreme Szene von den Neonazis der NPD über die Identitäre Bewegung bis hin zur AfD. Der Faschist Björn Höcke (AfD) lief ebenso mit, wie der Rechtsextremist und notorische Antisemit Jürgen Elsässer. Außer Reichs- und Reichskriegsflaggen wurden auch zahlreiche Symbole der Nazis zur Schau gestellt.
Neben großen Teilen von Politik und Medien konnten sich die Rechtsextremisten auch auf die Unterstützung des Staatsapparats verlassen. Obwohl es bei der letzten Demonstration zu massenhaften und systematischen Verletzungen der Hygieneregeln gekommen war und zahlreiche Aufrufe kursierten, Maskenpflicht und Abstandsgebot auch dieses Mal zu ignorieren, erlaubte das Oberlandesgericht Berlin noch in der Nacht zum Freitag den rechtsextremen Aufzug.
Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang hatte zuvor schon behauptet, dass sich auf den Demonstrationen eine große Anzahl von Menschen versammle, die sich „auf dem Boden des Grundgesetzes bewegt“. Versuche von Rechtsextremisten, sich an die Spitze zu stellen, seien „nicht besonders effektiv“ gewesen. Ähnlich hatte sich Haldenwangs Vorgänger Hans-Georg Maaßen schon über die rechtsradikalen Demonstrationen in Chemnitz vor zwei Jahren geäußert. Während der Verfassungsschutz die Rechtsextremisten systematisch verharmlost, verleumdet die Behörde jeden als Linksextremisten, der sich den Rechten entgegenstellt.
Schließlich wurden die Demonstranten von der Polizei richtiggehend eingeladen, den Reichstag als Kulisse für ihre Propaganda zu nutzen. Obwohl Rechtsextremisten aus ganz Deutschland auf Twitter tagelang einen „Sturm auf Berlin“ angekündigt hatten, waren nur 3.000 Polizisten im Einsatz. Als es gegen linke Demonstranten gegen den G20-Gipfel in Hamburg ging, waren es mehr als zehn Mal so viele. Obwohl die Bühne der Demonstranten direkt vor dem Reichstagsgebäude stand, wurde dieses nur von drei Polizisten bewacht.
Etwa zur gleichen Zeit als sich die Szenen vor dem Reichstag abspielten, sprachen unweit davon auf der Hauptkundgebung am Großen Stern drei Polizeibeamte von der Bühne aus zu den Demonstranten. Informationen der Süddeutschen Zeitung zufolge gaben sich ein pensionierter Hauptkommissar aus München, ein Augsburger Kripobeamter sowie ein Dienstgruppenleiter aus Mittelfranken als Polizisten zu erkennen und unterstützten als solche die Kundgebung.
Der braune Bodensatz wurde am Samstag bewusst auf die Beine gebracht, um die aggressive Öffnungspolitik der Regierung zu flankieren. Bund und Länder haben bereits die meisten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zurückgefahren oder ganz aufgehoben. Schulen und Betriebe werden unter völlig unsicheren Bedingungen geöffnet, und so ein massiver Anstieg der Infektionszahlen vorbereitet. Auf diese Weise sollen die Profite der Banken und Konzerne auf Kosten tausender Leben gesichert werden.
Diese Politik trifft auf die Opposition der großen Mehrheit. So zeigt das ZDF-Politbarometer vom Freitag, dass 79 Prozent der Befragten für eine stärkere Begrenzung öffentlicher Veranstaltungen eintritt, der die Bundesregierung erst am Donnerstag eine Absage erteilt hat. An Schulen entstehen Aktionskomitees gegen die unsichere Öffnung und in Betrieben diskutieren Arbeiter über Streiks.
Auch die geplanten Massenentlassungen treffen auf breiten Widerstand. In der Autoindustrie, dem Einzelhandel und bei den Fluggesellschaften sollen hunderttausende Arbeitsplätze vernichtet werden. Schon jetzt kocht es in den Betrieben.
Diese rücksichtslose Politik im Interesse der Konzerne ist schlichtweg unvereinbar mit den grundlegendsten Interessen und Bedürfnissen der großen Mehrheit. Deshalb setzt die herrschende Klasse mit der kapitalistischen Krise in wachsendem Maße auf diktatorische und letztlich faschistische Methoden. Demonstrationen wie am Samstag sind nicht von Massenunterstützung getragen, sondern das Produkt der herrschenden Politik und des Staatsapparats. Das macht sie allerdings nicht weniger gefährlich.
Bereits in den letzten Jahren wurden rechtsextreme Netzwerke im Staatsapparat aufgebaut und faschistische Ideologie wieder salonfähig gemacht. Steinmeier, der jetzt Empörung über die Reichsflaggen mimt, war daran intensiv beteiligt. Als die AfD in den Bundestag einzog, erklärte er, dass man „die Mauern der Unversöhnlichkeit“ zu rechtsextremen Positionen abbauen müsse. Anschließend lud er die beiden Fraktionschefs der AfD zu Sondierungen ins Schloss Bellevue ein.
In den Monaten danach schmiedeten CDU und SPD in langen Geheimverhandlungen hinter dem Rücken der Bevölkerung die Große Koalition. Im Ergebnis wurde die AfD zur Oppositionsführerin gekürt und ihre rechte Politik von den Koalitionären in die Tat umgesetzt. Das gilt für die Schaffung eines Netzes an Flüchtlingslagern, die schreiende soziale Ungleichheit und die stärkste Aufrüstung der Bundeswehr seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Mit der Corona-Krise verschärfen sich diese Entwicklungen. Die realen Klassenbeziehungen im Kapitalismus werden offengelegt. Wie in den USA, wo Trump sich immer offener auf faschistische Banden stützt, um die Proteste gegen Polizeigewalt zu unterdrücken, setzen die Herrschenden auch hier darauf, die Opposition der großen Mehrheit mithilfe des rechtsextremen Abschaums einzuschüchtern.
Die rechte Gefahr kann deshalb nur durch eine unabhängige Bewegung der Arbeiter gestoppt werden, die sich nicht nur gegen die Rechtsextremen, sondern gegen die Große Koalition und sämtliche bürgerliche Parteien richtet, die diese hofieren und aufbauen. Sie muss sich gegen die Wurzel von Faschismus, Nationalismus und Krieg richten: das kapitalistische System. Für diese Perspektive kämpft die Sozialistische Gleichheitspartei.