Corona: Maskenpflicht im Bundestag, aber Schulen und Kitas bleiben ungeschützt

Weit über eine Million Todesopfer hat die Sars-CoV-2-Pandemie schon weltweit gefordert; mehr als 35 Millionen Menschen haben sich bisher infiziert. Auch in Europa steigen die Infektions- und Todeszahlen wieder rapide an. Die Gesamtzahl der Infektionen überschritt laut Zählung des Robert-Koch-Instituts (RKI) am Montag die Schwelle von 300.000; am Dienstagabend waren es 305.000 Fälle.

Am 1. Oktober wurde in Deutschland das 9.500ste Corona-Todesopfer registriert, und seither sind weitere 50 Covid-19-Patienten in wenigen Tagen gestorben. Die Zahlen der täglichen Neuinfektionen klettern immer höher: Nach fast 2.700 neuen Fällen am Freitag meldete das RKI am gestrigen Dienstag erneut 2.639 neue Covid-19-Fälle. Da etwa jeder fünfte bestätigte Covid-19-Patient einen schweren bis kritischen Verlauf erlebt, heißt das bei 2.500 Neuinfektionen täglich, dass jeden Tag etwa weitere 500 Menschen schwer erkranken und um ihr Leben fürchten müssen.

Am Montag erklärte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes im Deutschen Bundestag zur Pflicht. Die Anordnung, die bis zum 17. Januar befristet ist, wird damit begründet, dass mehrere Kreise der Hauptstadt die Schwelle von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in sieben Tagen klar überschritten haben.

Diese Kreise sind Berlin-Mitte, Neukölln, Friedrichshain-Kreuzberg und Tempelhof-Schöneberg. In Neukölln liegt die 7-Tages-Inzidenz mittlerweile bei 87,6 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. Berlinweit meldet das RKI inzwischen 41,5 pro 100.000 Einwohner. Von fast 16.000 Erkrankten sind in Berlin bisher 231 Covid-19-Patienten gestorben.

Auch mehrere andere Bundesländer, wie NRW, Bayern, Baden-Württemberg oder Hessen, verzeichnen hohe 7-Tages-Werte. In Frankfurt am Main sind es knapp 48 Infektionen pro 100.000 und in Offenbach knapp 36 pro 100.000 Einwohner. In Baden-Württemberg beträgt in Mannheim die 7-Tage-Inzidenz 36,8 und in Esslingen 40,6 pro 100.000 Einwohner.

Dies sei ein Szenario, „wie wir es relativ bald in den meisten Großstädten Deutschlands haben werden“, kommentierte ungerührt der Virologe Hendrik Streeck am 1. Oktober bei Markus Lanz. Das liege „in der Natur der Sache“, so Streeck, der betonte: „Das Virus ist da und wird immer bei uns sein.“ Streeck, der als Propagandist der „Herdenimmunität“ bekannt ist, bezeichnete Maskenpflicht auf belebten Straßen und Plätzen als „totalen Schwachsinn“.

Eine derart gefährliche Verharmlosung geht auf Kosten von Millionen Arbeitern, die keine Möglichkeit haben, sich im Home Office zu schützen. Gerade gibt es wieder neue Ausbrüche unter den Arbeitern der Fleischfabriken. Im Schlachthof Weidenmark in Sögel (Niedersachsen), der zur Tönnies-Gruppe gehört, sind 81 Beschäftigte Corona-positiv getestet worden.

Im Juni hatten sich im Tönnies-Hauptwerk Rheda-Wiedenbrück tausende Arbeiter infiziert. Die Behörden brachten bis Mitte August rund 2100 Corona-Infektionen mit diesem Ausbruch bei Tönnies in Verbindung. 43 der erkrankten Personen erlitten einen schweren Verlauf, der im Krankenhaus behandelt werden musste, und einer von ihnen ist noch heute im Krankenhaus.

In den Schlachthöfen trifft es gerade diejenigen Arbeiter, die sich der Gefahr schon aus finanziellen Gründen nicht entziehen können. Die großen politischen Versprechen, dass die berüchtigten Werksverträge per Gesetz beseitigt würden, führen bisher nur dazu, dass große Fleischkonzerne wie Tönnies, Westfleisch, Vion etc. eigene Leiharbeitsfirmen und Arbeitsvermittlungen gründen, nicht jedoch die Beschäftigten menschlich behandeln und vernünftig bezahlen.

Auch die Schulen und Kitas entwickeln sich derzeit zu „Superspreading-Events“. Während der Bundestag die Maskenpflicht zum Schutz der Abgeordneten einführt, ist dies an Schulen und Kitas nicht der Fall. Dort breitet sich das Virus ungehemmt aus. Um die Wirtschaft nicht weiter zu behindern, sind die Bildungseinrichtungen seit den Sommerferien überall wieder vollständig geöffnet worden.

Noch vor einem Monat hatten Politiker und Medien wider besseres Wissen verkündet, dass von den jüngeren Schulkindern kein Infektionsrisiko ausgehe. Der sächsische Kultusminister Christian Piwarz (CDU) hatte Schulkinder im Juli sogar als „Bremsklötze der Pandemie“ bezeichnet.

Das Lehrerportal news4teachers.de hat mehrere Aussagen von Regierungspolitikern aller Parteien zusammengestellt, die im Frühsommer diese These vertraten und damit vehement für die uneingeschränkten Schulöffnungen eintraten.

Hier einige markante Politikersprüche: „Zwischen eins und zehn ist kaum ein Ansteckungsrisiko vorhanden“ (NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer, FDP). „Kinder infizieren sich deutlich seltener mit dem Virus als Erwachsene“ (Hessens Kultusminister Alexander Lorz, CDU). „Kinder werden anscheinend nicht nur seltener krank, sondern sind wohl auch seltener infiziert als Erwachsene“ (Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann, Grüne). „Schulschließungen wären eigentlich gar nicht notwendig gewesen“ (Ties Rabe, Bildungssenator von Hamburg, SPD).

Auch die Linkspartei bildet darin keine Ausnahme: In Thüringen, dem einzigen Land, in dem sie die Regierung führt, wurde die Maskenpflicht von Ministerpräsident Bodo Ramelow besonders früh abgesetzt und die Schul- und Kita-Öffnung vehement durchgesetzt. Wie sich jetzt jedoch erweist, geben die Schüler das Virus genau wie die Erwachsenen weiter und können auch selbst schwer erkranken.

Derselbe Hamburger Schulsenator Rabe, der die Schulschließungen im Frühjahr für „unnötig“ erklärt hatte, musste letzte Woche einräumen, dass es allein in Hamburg seit den Sommerferien schon zu drei Ausbrüchen an Schulen gekommen sei.

Bundesweit wurden am 30. September nicht weniger als 38 Corona-Ausbrüche gezählt, die sich direkt an den Schulen ereigneten, d.h. nicht nur von außen in die Schulen hineingetragen wurden. Wie eine Hamburger Lehrerin auf ihrer Deutschland-Karte dokumentiert, wurden im September an fast 1.900 Schulen und in 500 Kitas Corona-Fälle registriert, wobei es äußerst schwer ist, verlässliche Zahlen zu bekommen. Die Gesundheitsbehörden der Länder geben die Daten von Bundesland zu Bundesland völlig uneinheitlich und nur zögerlich bekannt.

Wie die Deutsche Presseagentur ermittelte, befanden sich am 2. Oktober mindestens 40.000 Schüler und etwa 4.000 Lehrer wegen Infektionen, Verdachtsfällen oder als Risikopatienten in Quarantäne und Selbstisolation. Die wirklichen Zahlen liegen zweifellos noch deutlich höher. Allein die Stadt Hamburg zählte Ende September 122 an Covid-19 erkrankte Schüler und 24 erkrankte Schulbeschäftigte.

Die Schulbehörden und Landesregierungen sind auf diese Situation völlig unvorbereitet, obwohl sie in den Sommerferien wochenlang Zeit hatten, sich auf das Unausweichliche vorzubereiten. Deshalb gibt es weder personelle noch bauliche Vorbereitungen auf einen sicheren Unterricht in kleinen, festen Gruppen. Die Klassenzimmer sind nicht mit CO2-Messgeräten oder Luftfiltern ausgestattet, und es fehlt durchwegs an Tablets, Computern und dem nötigen Fachpersonal. Auch die Gesundheitsämter sind völlig überfordert, so dass die Anweisungen der WHO – Testen, Isolieren und Kontakteverfolgen – fast nirgendwo mehr vernünftig befolgt werden.

Eine besondere Gefahrenquelle sind auch die öffentlichen Busse, Straßenbahnen, der ganze öffentliche Nahverkehr und auch die Bahn AG. Darüber klagen nicht nur Schulkinder und Lehrkräfte, sondern auch Fahrer und Kontrolleure. Entsetzt weisen sie auf die überfüllten Verkehrsmittel in den Stoßzeiten und bei Ausfällen hin. Aber die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi weigert sich, bei den aktuellen Warnstreiks im öffentlichen Personennahverkehr und im gesamten öffentlichen Dienst den Corona-Schutz ins Zentrum ihrer Forderungen zu stellen.

Allein die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) und ihre Jugend- und Studierendenorganisation IYSSE haben den Kampf gegen unsichere Schulöffnungen und Arbeitsbedingungen aufgenommen. Weltweit formiert sich der Widerstand gegen die lebensbedrohliche „Back-to-Work“-Politik der Regierungen, und in Griechenland protestieren tausende Schüler und halten mehrere hundert Schulen besetzt. Die SGP kämpft gemeinsam mit ihren Schwesterorganisationen in anderen Ländern für unabhängige Aktionskomitees, um einen Generalstreik vorzubereiten und Lehrer, Eltern, Schüler und alle Arbeiter zu schützen.

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