Perspektive

Warum Biden die Einrichtung einer Gewerkschaft bei Amazon unterstützt

Am Sonntagabend veröffentlichte US-Präsident Joe Biden ein Videostatement, in dem er voll und ganz die Bestrebungen der amerikanischen Handelsgewerkschaft RWDSU unterstützt, Arbeiter des Amazon-Distributionszentrums in Bessemer (Alabama) gewerkschaftlich zu organisieren. Die nahezu 6.000 Arbeiter des Standorts bei Birmingham stimmen derzeit darüber ab, ob sie der RWDSU beitreten sollen.

Biden rief die Arbeiter in Alabama unmissverständlich dazu auf, bei der bevorstehenden Gewerkschaftsinitiative – die am 29. März endet – mit „Ja“ abzustimmen. „Im National Labor Relations Act steht nicht nur, dass Gewerkschaften existieren dürfen“, sagte er. „Dort steht, dass wir die Bildung von Gewerkschaften ermutigen sollten.“

Biden spricht im Queen Theater. Donnerstag, 14. Januar 2021, Wilmington (Delaware) (AP Photo/Matt Slocum)

 

Er fuhr fort: „Heute und in den nächsten Tagen und Wochen stimmen Arbeiter in Alabama und in ganz Amerika darüber ab, ob sie an ihrem Arbeitsplatz eine Gewerkschaft einrichten wollen. Das ist eine lebenswichtige Entscheidung – in einer Situation, in der Amerika mit der tödlichen Pandemie, der Wirtschaftskrise und ethnischen Spaltungen ringt und damit, was sie über die tiefen Ungleichheiten offenbaren, die in unserem Land immer noch existieren.“

Bidens Intervention ist historisch beispiellos. Nachdem Präsident Franklin D. Roosevelt im Jahr 1935 den National Labor Relations Act unterzeichnet hatte, erklärten die Führer der neu ins Leben gerufenen Industriegewerkschaften: „Der Präsident will, dass ihr einer Gewerkschaft beitretet.“ Doch Roosevelt hat nie etwas dergleichen gesagt.

Biden hingegen zeigte keinerlei Unparteilichkeit, sondern forderte Arbeiter regelrecht zur Stimmabgabe für die Gewerkschaft auf, während er Amazon der Einschüchterung beschuldigte. Damit stellt Biden das gesamte Prestige des Weißen Hauses hinter die Abstimmung. Er hätte dies nicht getan, wenn er nicht der Ansicht wäre, dass die direkte Unterstützung seiner Regierung sowohl strategisch wichtig als auch notwendig sei, um in Bessemer ein „Ja“ zu erreichen.

Allein die Tatsache, dass Biden so energisch interveniert hat, entlarvt die Behauptung, dass die Gewerkschaftsgründung bei Amazon irgendetwas mit den Interessen der Amazon-Arbeiter zu tun hätte. Bidens gesamte Senatskarriere von 1973 bis 2009 fällt, damit zusammen, dass sich die Demokraten von jeglichem Programm sozialer Reformen verabschiedet und sich an das Wirtschaftsprogramm der „Reaganomics“ angepasst haben.

Biden, der für lange Zeit als Delawares „DuPont-Senator“ galt, saß in Ausschüssen, die besonders empfindsam für die Interessen der herrschenden Klasse sind, darunter der außenpolitische und der Justizausschuss. Er unterstützte im Jahr 1999 die Aufhebung des Glass-Steagall-Gesetzes – ein Meilenstein der Bankenderegulierung – sowie andere äußerst reaktionäre Maßnahmen. Nach fast vier Jahrzehnten im Senat wurde Biden Obamas Vizepräsident und half, nach der Finanzkrise von 2008 die massive Rettungsaktion der Wall Street und die anschließende Neustrukturierung der Klassenbeziehungen zugunsten der Reichen zu überwachen. Dazu gehörten die Bailouts von General Motors und Chrysler, denen eine 50-prozentige Lohnkürzung für alle neu eingestellten Autoarbeiter zugrunde lag.

Bei den Wahlen von 2020 wurde Biden durch eine Intervention der Parteiführung zum Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei gekürt – und zwar auf der Grundlage einer ausdrücklichen Zurückweisung jedes Programms von Sozialreformen. Biden wurde als rechte Alternative zu Bernie Sanders aufgebaut.

Bidens aggressives Eingreifen zugunsten der Gewerkschaftskampagne bei Amazon kann nur als strategische Entscheidung einer bedeutenden Fraktion der herrschenden Klasse interpretiert werden, die nicht nur von taktischen Erwägungen geleitet ist. Welches sind die Motive hinter dieser Politik?

Erstens ist die herrschende Klasse mit einer noch nie dagewesenen Krise konfrontiert, die durch die Pandemie enorm verschärft wurde. Infolge der Weigerung der herrschenden Klasse, die notwendigen und lebensrettenden Maßnahmen zu ergreifen, sind im letzten Jahr fast 530.000 Menschen an Covid-19 gestorben. Die Auswirkungen des Massensterbens in Verbindung mit der katastrophalen sozialen und wirtschaftlichen Situation haben einen tiefgreifenden radikalisierenden Einfluss auf das Bewusstsein von Arbeitern und Jugendlichen ausgeübt.

Trump hat auf diese Situation mit der Förderung faschistischer Organisationen reagiert, die als Speerspitze gegen die Unruhen der Arbeiterklasse eingesetzt werden sollen. Die Demokraten versuchen ihrerseits, die soziale Opposition zu ersticken, indem sie die Gewerkschaften nutzen. Dies kombinieren sie mit unerbittlichen Bemühungen, Arbeiter durch die Förderung ethnischer und sexueller Identitätspolitik gegeneinander auszuspielen. Bezeichnenderweise nutzte Biden den Begriff der Rasse als politischen Rahmen für seine Intervention bei Amazon und präsentierte die Gewerkschaften als Instrumente, „besonders schwarze und braune Arbeiter“ zu verteidigen.

Zweitens ist auch die internationale Lage nicht weniger besorgniserregend für die herrschende Klasse, die entschlossen ist, ihre globale Vormachtstellung durch den Einsatz militärischer Gewalt aufrechtzuerhalten. Die Biden-Regierung betreibt eine zunehmend konfrontative Politik gegenüber Russland und vor allem China. Die Logik dieser Politik führt zu Krieg. Sollte es zu einem umfassenden „Konflikt der Großmächte“ kommen, würden die pro-kapitalistischen Gewerkschaften entscheidend dazu beitragen, nationalen Chauvinismus zu fördern und den Klassenkampf zu unterdrücken. Krieg im Ausland erfordert eine disziplinierte „Arbeiterbewegung“ zu Hause.

Bidens Intervention bei Amazon ist Teil einer breiteren Strategie, die Gewerkschaften aufzubauen und sie immer direkter in den Staatsapparat und die Unternehmensführung einzubinden. Vor seiner Amtseinführung im Januar versprach Biden, dass er der „gewerkschaftsfreundlichste“ Präsident aller Zeiten sein werde.

Mitte November, kurz nach Ausgang der Wahlen, hielt Biden ein Treffen mit den Führern aller großen Gewerkschaften ab, einschließlich des Präsidenten der AFL-CIO Richard Trumka, sowie Unternehmensleiter von General Motors, Microsoft, Target und anderen Unternehmen. Berichten zufolge sagte Biden den Anwesenden, dass er „ein Gewerkschaftstyp“ sei, bestand aber darauf, „dass das nicht wirtschaftsfeindlich ist“. Er fügte hinzu, dass „wir im Moment in einem ziemlich dunklen Loch stecken“, aber „wir alle [d.h. die Gewerkschaftsführer, Konzernchefs und die neue Biden-Regierung] gemeinsame Ziele haben.“

Die Strategie, die Biden verfolgt, ist als Korporatismus bekannt – das heißt, die Verflechtung der Regierung mit den Konzernen und den Gewerkschaften auf der Grundlage einer Verteidigung des kapitalistischen Systems. Leo Trotzki machte 1938 auf diese Tendenz aufmerksam, als er im Gründungsdokument der Vierten Internationale schrieb: „In Perioden zugespitzter Klassenkämpfe bemühen sich die Gewerkschaften krampfhaft, der Massenbewegung Herr zu werden, um sie zu neutralisieren... In Zeiten des Krieges oder der Revolution, wenn die Lage der Bourgeoisie besonders schwierig wird, steigen die Gewerkschaftsführer gewöhnlich zu bürgerlichen Ministern auf.“

Trotzki schrieb diese Zeilen in einer Zeit, als Arbeiter sich in neu gegründeten Industriegewerkschaften in aufständischen Kämpfen gegen die herrschende Klasse befanden, darunter die Sitzstreiks in den USA, an denen sich Autoarbeiter in Massen beteiligten.

Es ist Jahrzehnte her, seit die AFL-CIO in irgendeiner Weise mit der Verteidigung der Interessen der Arbeiter gegen die Konzerne und die herrschende Klasse in Verbindung stand. Seit der PATCO-Fluglotsenstreik von 1981 isoliert und besiegt wurde, ist die Gewerkschaftsbewegung vollständig in die Strukturen der Konzernleitung integriert worden. In den 1980er Jahren spielten die Gewerkschaften eine entscheidende Rolle dabei, die Opposition gegen die von der Reagan-Regierung geführte Gegenoffensive der herrschenden Klasse zu isolieren und zu unterdrücken.

Mit Unterstützung der Gewerkschaften wurden Streiks in den 1990er Jahren und in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts fast vollständig unterdrückt, was einen Anstieg der sozialen Ungleichheit auf ein Niveau ermöglichte, das es seit den 1920er Jahren nicht mehr gab.

Im Fall Janus vs. AFSCME (American Federation of State, County and Municipal Employees) fasste im Jahr 2018 ein Anwalt der AFSCME vor dem Obersten Gerichtshof bei mündlichen Verhandlungen die Rolle der Gewerkschaften zusammen. Die „Vermittlungsgebühr“ – die Angestellte im öffentlichen Dienst in einigen Staaten verpflichtend zahlen und der Höhe der Gewerkschaftsbeiträge entsprechen – ist „der Preis dafür, keine Streiks zu haben“, so der Anwalt. Würden die Gewerkschaften nicht finanziell abgesichert werden, so „könnte dies das unsägliche Gespenst von landesweiten Arbeiterunruhen heraufbeschwören“.

Korporatistische Organisationen wie die AFL-CIO – oder Verdi und IG Metall in Deutschland – werden immer noch „Gewerkschaften“ genannt, obwohl ihre tatsächliche Praxis und ihre Rolle nichts mit der Funktion zu tun haben, die traditionell mit dem Begriff „Gewerkschaft“ verbunden wird. Sie sind keine Organisationen der Arbeiter mehr, sondern Instrumente des Managements und des Staates.

Die herrschende Klasse ist jedoch äußerst besorgt über das Anwachsen der Opposition in der Arbeiterklasse und reagiert darauf mit größter Empfindlichkeit. Diese Opposition hat auch unter Amazon-Arbeitern in der Bewegung für Aktionskomitees konkreten Ausdruck gefunden, die von der Socialist Equality Party und der World Socialist Web Site angeführt wird. Die herrschende Klasse ist sich außerdem der Fähigkeit der Arbeiter in den USA und international bewusst, soziale Medien und andere Formen der Kommunikation zu nutzen, um Informationen auszutauschen und sich außerhalb der Kontrolle der korporatistischen Gewerkschaften zu organisieren.

Besonders besorgniserregend ist die politische Radikalisierung der Amazon-Arbeiter, die seit dem Ausbruch der Pandemie noch ausschlaggebender für den Gesamtprozess der kapitalistischen Ausbeutung geworden sind. Der fünftgrößte Arbeitgeber der Welt hat im Jahr 2020 427.000 zusätzliche Stellen geschaffen, womit sich die Gesamtzahl der Amazon-Arbeiter weltweit auf 1,3 Millionen erhöht hat, davon eine halbe Million in den USA.

Die Förderung der Gewerkschaften zielt darauf ab, der wachsenden Bewegung von Arbeitern an der Basis entgegenzuwirken. Sie zielt darauf ab, Arbeiter dem Arsenal von Gesetzen zu unterwerfen, die in Kraft treten, sobald die Gewerkschaften als „einzig legitime“ Vertreter der Arbeiter etabliert würden. Im Gegenzug erhalten die Gewerkschaftsspitzen Zugriff auf die Gewerkschaftsbeiträge, die durch die Institutionalisierung dieser Organisationen in breiteren Teilen der Industrie entstehen.

Die Kombination aus aggressiver Rückendeckung durch die Regierung und Wut und Widerstand unter den Amazon-Arbeitern könnte in Bessemer einen Sieg für die Gewerkschaften herbeiführen. Wie auch immer die Abstimmung ausgeht, der Kampf um die Gründung und den Aufbau von Aktionskomitees muss entwickelt und ausgeweitet werden. Arbeiter dürfen nicht zulassen, dass sie dem pro-kapitalistischen und pro-imperialistischen Gewerkschaftsapparat unterworfen werden.

Dies muss mit einer neuen politischen Strategie kombiniert werden, um die Arbeiterklasse in den USA und international im Kampf für eine sozialistische Politik zu mobilisieren. Dieses Programm schließt die Enteignung von Pandemie-Profiteuren wie Amazon-Eigentümer Jeff Bezos ein, sowie die Umwandlung von Amazon und anderen Logistikunternehmen in öffentliche Versorgungsbetriebe, die demokratisch kontrolliert werden und im kollektiven Besitz der Arbeiterklasse sind.

Auf der grundlegendsten politischen Ebene zielt die herrschende Klasse mit ihrer Förderung der Gewerkschaften darauf ab, Arbeiter vom Sozialismus abzuschotten. Über all dem steht die Befürchtung der herrschenden Klasse, dass die objektive Radikalisierung der Arbeiterklasse – die durch die Pandemie verstärkt wird – eine sozialistische Führung und ein entsprechendes Programm annehmen wird. Diese Angst steckt hinter Bidens außergewöhnlicher Intervention bei Amazon.

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