Suizidversuch auf Lesbos: Griechische Justiz ermittelt gegen schwangere Geflüchtete, die sich selbst anzündete

Die höllische Situation im Flüchtlingslager Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos treibt geflüchtete Kinder und Erwachsene immer häufiger in den Selbstmord. Vor drei Wochen löste der Suizidversuch einer hochschwangeren Frau aus Afghanistan weltweit Entsetzen aus.

Am 21. Februar, einem Sonntag, hatte die 26-jährige Geflüchtete ihre drei kleinen Kinder in Sicherheit gebracht und sich dann in ihrem Zelt selbst angezündet. Das Feuer konnte rechtzeitig von anderen Lagerbewohnern gelöscht und die Schwangere gerettet werden. Mit schweren Brandverletzungen an Händen, Füßen und Kopf kam sie ins Krankenhaus der Inselhauptstadt Mytilini.

Ihr tragischer Verzweiflungsakt ist eine vernichtende Anklage gegen die griechische Regierung unter der rechten ND (Nea Dimokratia) und die Europäische Union, die das Leben von Hunderttausenden Flüchtlingen auf dem Gewissen haben. Doch statt dieser Verbrecherbande sitzt jetzt das Opfer selbst auf der Anklagebank.

Die erschöpfte und verzweifelte Frau, die im achten Monat schwanger ist, sah sich noch auf dem Krankenbett mit Verhören der griechischen Justiz konfrontiert, die wegen angeblicher Brandstiftung und Zerstörung öffentlichen Eigentums gegen sie ermittelt.

Teresa Volakaki, eine ihrer beiden Anwälte, schilderte gegenüber dem britischen Guardian das brutale Vorgehen der Behörden gegen ihre Mandantin: „Obwohl sie aufgrund ihrer Brandwunden unter großen Schmerzen litt und nur schwer sprechen konnte, dauerte die Befragung im Krankenhaus von Mytilini etwa zweieinhalb Stunden.“

„Es war klar, dass sie unter Stress stand und Gedächtnisschwierigkeiten hatte, aber die Staatsanwaltschaft nahm eine sehr harte Position ein und entschied, dass sie sich jetzt einem Strafverfahren und Prozess stellen muss und das Land nicht verlassen darf.“

Mit dem Suizidversuch reagierte die junge Frau auf die menschenverachtenden Zustände und das Gefühl der Ausweglosigkeit im Zeltlager Kara Tepe, wo sie schon seit 14 Monaten mit ihrem Mann und ihren drei kleinen Kindern ausharrte. Das Camp liegt auf einem ehemaligen Militärgelände direkt am Meer. Tausende Flüchtlinge mussten im Herbst dorthin umziehen, nachdem das Elendslager Moria in Flammen aufgegangen war.

Flüchtlinge zwischen ihren Zelten nach einem Sturmregen im Lager Kara Tepe am 14. Oktober 2020 (AP Photo/Panagiotis Balaskas)

Ihre Familie war vor ihrem Selbstmordversuch endlich als schutzbedürftig anerkannt worden und sollte mit weiteren Flüchtlingen nach Deutschland ausgeflogen werden. Doch dann erfuhr sie, dass ihr die Ausreise aufgrund der bevorstehenden Geburt verweigert wird.

„Als man ihr sagte, dass sie nicht reisen könne, war ihr Kummer und ihre Enttäuschung so groß, dass sie den Selbstmordversuch unternahm“, so der Untersuchungsbeamte Nikos Triantafyllos, der die ersten Befragungen durchführte. Die Aussicht auf einen Familienumzug nach Deutschland sei „der einzige Lichtblick“ gewesen, sagte sie gegenüber Ermittlern aus. Sie hatte gehofft, noch vor der Geburt auszureisen. Die unhygienischen Bedingungen im Lager seien für Schwangere und junge Mütter untragbar und sie habe lieber sterben wollen, als noch ein Kind ins Camp zu bringen, erklärte sie laut Angaben des Spiegels gegenüber der Staatsanwaltschaft.

Sie hatte erst nach einem Seil oder anderen Wegen des Selbstmords gesucht, aber dann in ihrer Not entschieden, sich anzuzünden. Alle Habseligkeiten der Familie gingen in Flammen auf. Das Feuer griff aber nicht auf andere Zelte über, niemand anderes kam zu Schaden oder wurde gefährdet. Die junge Mutter, die mittlerweile aus dem Krankenhaus entlassen wurde, befinde sich noch immer in einem schlechten psychischen Zustand, betonen ihre Anwälte und fordern einen Freispruch sowie eine Aufhebung der Auflagen, damit sie mit ihrer Familie nach Deutschland ausreisen kann.

Dieser jüngste Selbstmordversuch ist besonders schockierend, aber er kommt nicht überraschend. Seit Monaten warnen Ärzte, Psychologen und Hilfsorganisationen vor der dramatischen Zunahme von Depressionen, Selbstmordgedanken und anderen gesundheitlichen Folgen von Traumata und Elend in Kara Tepe.

Rund 7.000 Flüchtlinge – vor allem Familien – leben dort zwischen Müll und Schlamm. Die letzten Wochen kämpften die Menschen gegen klirrende Kälte, Regen, Sturmwind und sogar Schnee, ohne ausreichend Strom und Heizung. Zuletzt haben Bodenproben erwiesen, dass der frühere Truppenübungsplatz erhöhte Bleiwerte aufweist. Die Hilfsorganisation Human Rights Watch warnt vor der Gefahr von Bleivergiftung, insbesondere für die rund 2.500 Kinder, die täglich draußen auf dem bloßen Boden und im Schlamm spielen und den Schadstoffen ausgesetzt sind. Doch die Regierung weist alle Vorwürfe ab.

Die Kinderpsychologin Katrin Glatz-Brubakk, die für Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos im Einsatz ist, sprach am Montag in einem Interview mit dem Neuen Deutschland über das psychische Leid in dem Lager: „Albträume, Konzentrationsschwierigkeiten, extrem niedrige Frustrationstoleranz, Aggressivität und Panikattacken. Manche Kinder ziehen sich fast vollständig von der Welt zurück. Sie spielen nicht mehr, manche haben seit acht Monaten kaum ein Wort gesprochen. Andere sind so apathisch, dass sie nicht mehr selber essen und gefüttert werden müssen. Sie sind so antriebslos, dass sie nicht einmal mehr selber zur Toilette gehen.“

Allein auf Lesbos behandelte Ärzte ohne Grenzen im letzten Jahr 50 Kinder und Jugendliche mit Selbstmordgedanken oder Selbstmordversuchen. Das Jüngste unter ihnen war ein achtjähriges Mädchen, das sich erhängen wollte, so Glatz-Brubakk. „In diesem Jahr haben wir schon drei Kinder nach Suizidversuchen behandelt. Unter ihnen ist ein 13-jähriger Junge aus Afghanistan, der schon sehr viele Selbstmordversuche hinter sich hat. Er hat Tabletten geschluckt; er ist ins Meer gerannt, um sich zu ertränken; er hat versucht, vor ein fahrendes Auto zu springen; er hat sich mit Scherben und Rasierklingen aufgeschnitten.“

Den Menschen im Lager geht es jetzt noch schlechter als in Moria, sagt sie. „Sie sind zermürbt. Mittlerweile geben viele die Hoffnung auf, dass das Leben jemals besser wird. Bei vielen Menschen sind die Reserven aufgebraucht. Sie brechen einfach zusammen.“

Glatz-Brubakk macht zurecht die Politik der EU für diese Not verantwortlich: „Die Bedingungen im Lager sind nicht das Resultat einer Naturkatastrophe. Seit über fünf Jahren machen ich und viele andere immer wieder auf diese Schande Europas aufmerksam. Politische Entscheidungsträger versprechen uns dann, dass es besser wird – aber das Gegenteil ist der Fall! Nicht nur die Lagerbewohner sind deshalb enttäuscht und wütend. Ich bin es auch. Europa guckt zu, wie diese Menschen langsam zugrunde gehen.“

Auch in anderen Flüchtlingsunterkünften gehören Krankheiten und tödliche Gefahren zum Alltag. Vor einer Woche brach in der Flüchtlingsunterkunft von Thiva, nordwestlich Athens, ein Feuer aus, bei dem ein siebenjähriger Junge sein Leben verlor. Er wohnte mit seiner Familie aus dem Iran in einem Container. Zeugen zufolge soll die Feuerwehr über eine Stunde gebraucht haben, um zum Ort zu kommen, wo sie von den wütenden Flüchtlingen empfangen wurde.

Die griechische Regierung bereitet unterdessen in engster Zusammenarbeit mit der EU den Bau des neuen Flüchtlingsgefängnisses auf Lesbos vor, dass alle bisherigen Insellager ersetzen soll und in der Region Vastria neben einer Müllhalde stehen wird. Der Migrationsminister Notis Mitarakis erklärte vor einer Woche in einem Brief an den Bürgermeister von Mytilini, dass die „Geschlossene Kontrollierte Inseleinrichtung“ (KEDN) spätestens im November eröffnet werde. Sie soll mit „doppelten Militärzäunen vom NATO-Typ“ und „fortschrittlichen Sicherheitssystemen“ ausgerüstet sein und ein sogenanntes „Vorabreisehaftzentrum“ umfassen, in dem Straftäter, Flüchtlinge mit Abschiebebescheid sowie Neuankömmlinge in den ersten Tagen festgehalten werden.

Gleichzeitig finden weiterhin illegale Abschiebungen auf dem Mittelmeer statt. In den sogenannten „Pushbacks“ werden Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurückgestoßen. Die norwegische Nichtregierungsorganisation Aegean Boat Report informiert regelmäßig über solche Zurückweisungen. Laut ihrem Wochenbericht wurden vom 15. bis 21. Februar acht Boote mit 229 Personen gestoppt bzw. zurückgedrängt.

Aegean Boat Report schildert einen Vorfall vom 17. Februar, bei dem 13 Flüchtlinge, darunter fünf Kinder, abends mit einem Boot an der Küste von Lesbos ankamen und nach einem Hinweis der Hilfsorganisation zum Flüchtlingscamp Megala Therma gingen, um in der kalten Nacht dort Schutz zu suchen. Doch nachdem sie dort angekommen waren und von den anderen Bewohnern warme Decken erhalten hatten, nahm die Polizei sie wieder mit, unter dem Vorwand, sie würden auf Covid-19 getestet. Stattdessen brachten die Beamten sie zu einem weißen Container, wo sie von anderen Männern in unmarkierten Uniformen und mit Schlagstöcken in Vans verfrachtet und zu einem Hafen gefahren wurden. Dort zwangen sie die Flüchtlinge auf ein Boot, fuhren sie für etwa eine halbe Stunde auf die hohe See und setzten sie dort auf einem Rettungsfloß aus, ohne Rettungswesten. Die panischen Flüchtlinge wurden schließlich von der türkischen Küstenwache gerettet.

Wie zahlreiche Hinweise von Recherche- und Hilfsorganisationen belegen, ist die EU-Grenzschutzagentur Frontex direkt und indirekt an „Pushbacks“ beteiligt. Genau wie die Konzentrationslager und Gefängnisse, in denen Flüchtlinge dahinvegetieren und Selbstmord begehen, sind die illegalen Abschiebungen an Europas Grenzen Teil eines systematischen Verbrechens der EU an Millionen Menschen, deren Herkunftsländer zerbombt, zerstört und ausgeplündert werden.

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