„Wir haben weniger Rechte als Tiere“: Das unerträgliche Leben im griechischen Flüchtlingslager Kara Tepe

2020 war das Jahr der fallenden Masken. Die Corona-Pandemie hat den grausamen Wesenskern des Kapitalismus offengelegt: Profite über Leben. Millionen Flüchtlinge erleben diese Politik seit Jahrzehnten am eigenen Leib, doch das vergangene Jahr hat auch ihre verzweifelte Lage noch einmal auf die Spitze getrieben.

Wer den kriminellen Charakter der europäischen Regierungen und der EU ermessen will, muss auf Kara Tepe schauen, das provisorische Camp auf der griechischen Insel Lesbos. Hier haben rund 7.200 Menschen die Weihnachts- und Neujahrstage in Kälte, Nässe, Krankheit und Angst verbracht. Insgesamt harren mehr als 19.000 Flüchtlinge auf den ägäischen Inseln aus.

Das Zeltlager von Kara Tepe liegt auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz direkt am Meer und ist eine Baustelle, auf der tagaus tagein ohrenbetäubender Lärm herrscht. Die Flüchtlinge mussten im Herbst hierin umziehen, nachdem das berüchtigte Elendslager Moria im September in Flammen aufging.

Luftaufnahme des neuen provisorischen Flüchtlingslagers auf der Insel Lesbos vom 17. September 2020 (AP Photo/Panagiotis Balaskas)

Flüchtlinge und Hilfsorganisationen berichten entsetzt, dass die Zustände im neuen Camp sogar schlimmer sind als in Moria. „Wir alle leben in Angst und Not“, schreiben Insassen von Kara Tepe in einem Weihnachtsbrief an die EU und deren Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU):

Wie kommt es, dass wir nach drei Monaten und so vielen Millionen von Regierungsspenden und von NGOs gesammelten Geldern immer noch an einem Ort ohne fließendes Wasser, heiße Duschen und ohne ein funktionierendes Abwassersystem sitzen? … Haben wir keine Rechte als Menschen und Flüchtlinge in Europa, die eine Grundversorgung für jeden beinhalten? Oft lesen und hören wir, dass wir in diesen Lagern wie Tiere leben müssen, aber wir denken, dass das nicht stimmt. Wir haben die Gesetze zum Schutz der Tiere in Europa studiert und wir haben herausgefunden, dass sogar sie mehr Rechte haben als wir.

Jeder dritte Flüchtling auf den Inseln denke an Selbstmord, heißt es in dem Brief. „Wir sehen viele Spendenaufrufe und Versprechungen und wir sehen unsere Realität und das macht uns frustriert und wütend.“ Sie fordern u.a. eine ausreichende Wasserversorgung und Duschen, ordentliche Sanitäranlagen, Versorgung mit Elektrizität, Licht, Heizung und Zelten für den Winter und bessere medizinische und psychologische Versorgung.

Doch die EU wird selbst diese Minimalforderungen zur Deckung der menschlichen Grundbedürfnisse in den Wind schlagen, weil die Not in Kara Tepe kein Versehen ist, sondern gezielte und bewusste Politik der Abschreckung. Auch im ausgebrannten Flüchtlingslager Lipa in Bihac an der bosnisch-koratischen Grenze kämpfen Flüchtlinge unter den Augen der EU um das schiere Überleben. Seit Tagen campieren hunderte Flüchtlinge unter freiem Himmel im Schnee und sind nahezu ohne jede Hilfe dem Erfrierungstod ausgesetzt.

Marcus Bachmann von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen Österreich bestätigte in einem Interview mit der Wiener Wochenzeitung Falter Ende Dezember das Ausmaß der Katastrophe in den griechischen Flüchtlingslagern. Er war früher Einsatzleiter in Krisenregionen wie Afghanistan, Sierra Leone und Südsudan. „Aber die Dimension des Elends der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln macht auch mich fassungslos“, sagt er.

Im Vergleich mit seinen Erfahrungen in Kriegsgebieten erreichen die griechischen Lager nicht mal den Mindeststandard. „Als Ärzte ohne Grenzen müssen wir in Griechenland Dinge tun, die sonst nur in Ländern nötig sind, in denen das Gesundheitssystem völlig zusammengebrochen ist“, so Bachmann.

Ein unerträglicher Gestank durchzieht das gesamte Kara Tepe-Lager. Bis vor kurzem gab es keine Dusch- und Waschgelegenheiten, Menschen mussten im Meer baden und ihre Kleidung waschen. Noch immer gibt es kein warmes Wasser. Es fehlt eine Müll- und Abwasserentsorgung. Das Drecks- und Regenwasser fließt durch das Lager. Oft sei die abgepackte Mahlzeit ungenießbar und bereits verdorben, wenn sie ausgeteilt wird.

Flüchtlinge im Lager Kara Tepe auf Lesbos (AP Photo/Panagiotis Balaskas)

Essensreste, Fäkalien, Schlamm – diese unhygienischen Zustände locken Ratten und anderes Getier an. Sie kriechen nachts in die Zelte und rennen bisweilen auch tagsüber umher, sagt Bachmann. „Speziell Kinder werden von diesen Nagern böse verletzt“, erklärt er. „Wir hatten in unserer Klinik Babys mit mehreren Rattenbissen.“

„In der wärmeren Zeit kommen auch die Schlangen.“ Er habe beispielsweise auf Samos viele Opfer von Schlangenbissen behandelt. „Das machen wir normalerweise im Südsudan oder in der Zentralafrikanischen Republik. Aber nicht in Europa.“

Die Warnungen und Forderungen von Ärzte ohne Grenzen werden aber in der EU und Griechenland seit Jahren nicht gehört, so Bachmann: „Im Gegenteil, wir sehen, dass sich die Lage sogar noch weiter verschlimmert hat.“

Neben dem Coronavirus grassieren zahlreiche Durchfall-, Atemwegs-und Hautkrankheiten, dazu auch Typhus. Die Menschen erhalten nur 1,5 Liter Trinkwasser am Tag pro Person, auch im heißen Sommer, obwohl laut Bachmann der „Mindestmindeststandard zu Beginn einer Flüchtlingskrise“ 7,5 Liter sei, was zum Beispiel in Lagern in Äthiopien und Sudan geschafft werde. Er resümiert: „Man muss das ganz deutlich sagen: Wenn die Menschen dort nicht evakuiert werden, sind sie in Lebensgefahr.“

Besonders gravierend sind die schweren Traumata, die Flüchtlinge durch den Krieg, die Flucht und die zahllosen Brände in den Lagern erleiden. Acht von zehn Menschen in den Lagern kommen laut Ärzte ohne Grenzen aus Kriegs- und Krisenregionen. Psychische Erkrankungen und die Gefahr von Suizid steigen dramatisch an. Das riesige Feuer von Moria, in dem mehrere Menschen getötet und verwundet wurden, trieb Tausende Familien in die Flucht.

Bewohner des Flüchtlingslagers Moria auf der nordostägäischen Insel Lesbos fliehen am Mittwoch, 9. September, vor einem zweiten Feuer (AP Photo/Petros Giannakouris)

Unter den Folgen leiden vor allem Kinder, die mehr als ein Drittel der Lagerinsassen von Kara Tepe ausmachen. Allein auf Lesbos wurden im letzten Jahr 49 Kinder und Jugendliche mit Selbstmordgedanken oder Selbstmordversuchen behandelt. Joseph Oertel, der in einem therapeutischen Kinderprojekt der Hilfsorganisation Medical Volunteers International in Kara Tepe als Betreuer gearbeitet hat, spricht gegenüber dem Spiegel von einer „ganz neuen Form der Hoffnungslosigkeit im neuen Lager“.

In Kara Tepe sind mindestens 300 Polizisten im Einsatz. „Dieses Gefühl der Sicherheit hatte man in Moria nicht, das war ein Dschungel“, freute sich der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis im Interview mit der konservativen griechischen Zeitung Kathimerini. Mit „Sicherheit“ meint er die brutale Unterdrückung der Flüchtlinge. Die Polizei überwacht das Lager rund um die Uhr und setzt Schlagstöcke gegen Flüchtlinge ein. Drohnen, Stacheldrahtzaun und Ausgangsbeschränkungen geben dem Lager eher den Charakter eines Gefängnisses, wie der Kinderpsychologe Thanos Chirvatidis gegenüber dem Spiegel erläutert. Kinder hätten Angst vor der Polizei. Der Zutritt für Hilfsorganisationen und Journalisten ist extrem erschwert.

Doch Kara Tepe ist nur der Vorgeschmack auf das, was kommt. Die griechische Regierung und die EU wollen bis Sommer 2021 ein geschlossenes Lager aufbauen, das voraussichtlich direkt neben einer Müllhalde stehen wird. Die deutsche EU-Bürokratin Beate Gminder, die die „Taskforce für Migrationsmanagement“ der europäischen Kommission leitet und für den Bau des neuen Lagers zuständig ist, sieht darin kein Problem. Bessere Flächen seien nicht verfügbar, aber Griechenland habe ja „zahlreiche Proben“ von Boden und Wasser genommen, behauptet sie im Interview mit dem Spiegel.

Am 31. Dezember besuchte der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis Kara Tepe und pries das Lager als Fortschritt gegenüber Moria. Mit ähnlicher Dreistigkeit beschönigt und rechtfertigt auch Gminder die Zustände. Das Lager habe viele Vorteile, zum Beispiel dass es direkt am Meer liege – „die Menschen können baden“. Und für den Winter? Man habe ja „große beheizte Zelte aufgestellt“ und „warme Decken und Schlafsäcke verteilt“. An allen Problemen wie fehlendes Warmwasser und Elektrizität sind im Übrigen die griechischen Behörden schuld, so Gminder.

Der moralische Verfall und die kriminelle Energie, die aus diesen Worten spricht, sind Ausdruck einer Politik der EU unter deutscher Führung, die nur ein Ziel hat: Flüchtlinge um jeden Preis loszuwerden und Widerstand in ihren Reihen gnadenlos niederzuschlagen.

Im Oktober brüstete sich der Migrationsminister Mitarakis damit, dass in den ersten neun Monaten des Jahres 73 Prozent weniger Flüchtlinge nach Griechenland gekommen sind als im selben Zeitraum im Vorjahr. Die gesunkenen Neuankünfte sind aber nicht das Ergebnis rückläufiger Flüchtlingszahlen, sondern der massiven Verschärfung illegaler Zurückweisungen und Abschiebungen ohne Asylverfahren.

Diese sogenannten „Pushbacks“ von Schlauchbooten in die türkischen Gewässer finden nicht nur unter den Augen, sondern auch mit Beteiligung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex statt. Laut einem internen Schreiben von Frontex-Chef Fabrice Leggeri an die EU-Kommission, über das der Spiegel Ende November berichtete, waren auch deutsche Beamte in Pushbacks involviert. Das deutsche Innenministerium versucht, diese Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen zu vertuschen.

Flüchtlinge aus Eritrea, Ägypten, Syrien und dem Sudan in Seenot auf dem Mittelmeer nach ihrer Flucht aus Libyen, 2. Januar 2021 (AP Photo/Joan Mateu)

Anfang Dezember schilderten Reporter des Spiegels die Geschichte einer dieser brutalen Abschiebungen, wie sie vermehrt stattfinden. Zwei afrikanische Flüchtlingsfrauen wurden nach ihrer Ankunft auf Lesbos von vermummten griechischen Polizisten aufgegriffen, durchsucht, geschlagen, bespuckt und gezwungen, sich zu entkleiden. „Zusammen mit sechzehn anderen Schutzsuchenden, darunter laut den Geflüchteten Minderjährige und mehrere schwangere Frauen, wurden die beiden auf zwei kleinen aufblasbaren Rettungsflößen zurückgelassen. Mitten in der Nacht, mitten auf dem Meer, ohne Chance, aus eigener Kraft die Küste zu erreichen.“ Erst nach stundenlangem Ausharren wurden sie von türkischen Küstenwächtern gerettet und nach Izmir gebracht.

Das gesamte Jahr 2020 war vom Krieg gegen die Flüchtlinge in Griechenland geprägt. Im Februar ging die griechische Polizei mit Tränengas gegen protestierende Flüchtlinge auf Lesbos vor. Im März wurde die Landgrenze zur Türkei abgeriegelt und das Asylrecht außer Kraft gesetzt. Plötzlich waren Flüchtlinge am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros im Niemandsland gefangen. Soldaten und Polizisten schossen mit scharfer Munition und Tränengas auf die wehrlosen Menschen; mindestens drei Flüchtlinge wurden beim Grenzübertritt getötet. Bei ihrem brutalen Vorgehen arbeitete die Regierung eng mit der EU-Führung unter von der Leyen zusammen und erhielt Rückendeckung von Syriza-Parteichef Alexis Tsipras.

Zeitgleich breitete sich in Griechenland und damit auch in Flüchtlingsunterkünften und -lagern das Coronavirus aus. Aufgrund fehlender Tests und mangelhafter Gesundheitsversorgung gibt es eine große Dunkelziffer bei den Infektions- und Todeszahlen unter Geflüchteten. Unter dem Vorwand der Corona-Pandemie hat Europa auch die Seenotrettung faktisch eingestellt und damit das Massensterben im Mittelmeer weiter beschleunigt. Es folgte die Vorstellung eines mörderischen „Asyl- und Migrationspakt“, der die Entrechtung, Abschiebung und letztlich Tötung von Flüchtlingen noch weiter treiben wird. Schon von Januar bis November 2020 verloren mehr als 1200 Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa ihr Leben.

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