Perspektive

Ein Jahr Coronavirus-Pandemie: Eine vom Kapitalismus verursachte Katastrophe

Gestern vor einem Jahr hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Ausbruch von Covid-19 zu einer globalen Pandemie erklärt.

WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus gab die Erklärung am 11. März 2020 ab, als es weltweit 118.000 gemeldete Fälle in 14 Ländern und 4.291 Todesfälle gab. „Die WHO hat diesen Ausbruch rund um die Uhr bewertet“, sagte er, „und wir sind zutiefst besorgt – sowohl über das alarmierende Ausmaß der Ausbreitung und Heftigkeit, als auch über das alarmierende Ausmaß der Untätigkeit.“ Er wiederholte den Aufruf an alle Länder, „schnell und aggressiv zu handeln. Wir haben die Alarmglocke laut und deutlich geläutet.“

Eine Person wird auf einer Trage zu einem wartenden Krankenwagen gebracht. In der Pflegeeinrichtung sind mehr als 50 Menschen erkrankt, die auf das Coronavirus getestet werden. Samstag, 29. Februar 2020, in Kirkland (Washington) (AP Photo/Elaine Thompson)

Mit wenigen Ausnahmen – von denen China die bemerkenswerteste ist – wiesen die Regierungen der großen kapitalistischen Länder die Warnungen der Wissenschaftler zurück. Sie ergriffen keine aggressiven Maßnahmen, und die Alarmglocken blieben ungehört. In den vergangenen 12 Monaten stieg die Zahl der weltweiten Fälle von 118.000 auf mehr als 118 Millionen. Die Zahl der Toten stieg von 4.000 auf 2,6 Millionen, darunter 540.000 in den USA, 270.000 in Brasilien, 191.000 in Mexiko, 158.000 in Indien, 125.000 in Großbritannien, 100.000 in Italien und über 70.000 in Deutschland. 

Die wirtschaftlichen Folgen für die Arbeiterklasse waren verheerend. Die International Labour Organization (ILO) schätzt, dass die Welt im Jahr 2020 umgerechnet 255 Millionen Arbeitsplätze verloren hat, fast viermal so viele wie während der globalen Finanzkrise von 2009. Unzählige kleine Unternehmen wurden zerstört. Das kulturelle Leben ist auf der ganzen Welt verwüstet worden.

Anlässlich des einjährigen Jahrestags der Pandemie hielt US-Präsident Joe Biden gestern Abend zur besten Sendezeit eine Ansprache. Darin tischte er die obligatorischen und verlogenen Phrasen über den tragischen Verlust von Menschenleben in den letzten zwölf Monaten auf, ohne die Frage ernsthaft zu untersuchen, warum diese Katastrophe geschehen ist und warum sie weiter andauert. Darüber hinaus war die baldige Rückkehr eines „Gefühls der Normalität“ ein Thema seiner Rede.

Vertreter der Bundesregierung äußern sich ähnlich. Sie heucheln Entsetzen über die hohen Infektions- und Todeszahlen in der Pandemie und setzen gleichzeitig die Politik des Massensterbens fort. Auf Grund der „epidemischen Lage“ sei „Umsicht beim Öffnen hin zu mehr Normalität“ von Nöten, verkündete Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in der vergangenen Woche im Bundestag.

Doch eine Rückkehr zur „Normalität“ wird es nicht geben. Die globale Reaktion auf die Covid-19-Pandemie ist eine vernichtende Anklage – nicht nur gegen das Handeln einzelner Regierungen, sondern gegen die gesamte auf dem Kapitalismus basierende Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Sie wird die weitreichendsten und revolutionärsten Folgen haben.

Die Auswirkungen der Pandemie sind das Produkt von Entscheidungen, das menschliche Leben den Interessen der Unternehmens- und Finanzoligarchie unterzuordnen. Die dringend notwendigen und lebensrettenden Gesundheitsmaßnahmen stießen an jedem Punkt auf den erbitterten Widerstand der kapitalistischen herrschenden Eliten.

Der kritische Zeitraum von Januar bis März 2020 wurde der systematischen Unterdrückung von Informationen über die Gefahr gewidmet, die von der Pandemie ausging. Erst nachdem sich eine wachsende Zahl von Arbeitern in den USA und Europa weigerte, unsichere Autofabriken und andere Arbeitsplätze zu betreten, kam es zu begrenzten Lockdowns.

Diese Maßnahmen waren nie Teil einer ernsthaften, international koordinierten Strategie. Vielmehr zielten die willkürlichen nationalen und lokalen Reaktionen darauf ab, der herrschenden Klasse Zeit zu verschaffen, um zum zweiten Mal nach 2008 eine massive Rettungsaktion für die Reichen durchzuführen. In den Vereinigten Staaten hat die Federal Reserve 4 Billionen Dollar in die Märkte gepumpt – sanktioniert durch das CARES-Gesetz, das Ende März letzten Jahres mit überwältigender Mehrheit von beiden Parteien verabschiedet wurde.

Ähnliche Maßnahmen wurden von Zentralbanken und Regierungen auf der ganzen Welt ergriffen. Aus dem Hunderte Milliarden schweren Notpaket der Großen Koalition, das am 25. März 2020 von allen Bundestagsparteien verabschiedet wurde, floss der Großteil direkt in die Taschen der Großunternehmen und Finanzoligarchen.

Sobald die Interessen der herrschenden Klasse gesichert waren, orchestrierten die Regierungen eine koordinierte Kampagne, um die geschlossenen Fabriken und Schulen wieder zu öffnen. Die Strategie der „Herdenimmunität“, die in Schweden ihren Anfang nahm, wurde de facto zur Politik der gesamten herrschenden Klasse. Unter dem Motto „das Heilmittel darf nicht schlimmer sein als die Krankheit“ wurden die grundlegendsten Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus systematisch beseitigt.

Während Millionen Menschen an dem Virus erkrankten, feierten die Finanzmärkte den rasantesten Anstieg der Aktienkurse in der Geschichte. Eine Zahl bringt die gesellschaftliche Dynamik auf den Punkt: Die US-Milliardäre haben ihr Vermögen seit Beginn der Pandemie vor einem Jahr um 1,4 Billionen Dollar gesteigert. In Deutschland stieg das Nettovermögen der Ultrareichen allein zwischen März und Juli 2020 um fast 80 Milliarden auf 486 Milliarden Euro. Inmitten von Tod und Leid ist eine neue Schicht von „Pandemie-Profiteuren“ herangewachsen. Zwischen Januar und Juni stieg die Zahl der US-Dollar-Millionäre in Deutschland um weitere 58.000, die Zahl der Milliardäre stieg von 114 auf 119.

Auch ein Jahr nach der offiziellen Ausrufung der Pandemie wütet die Krankheit nach wie vor auf der ganzen Welt. Trotz der beginnenden Impfstoffproduktion wird die chaotische Verteilung der Dosen – die von den Interessen der konkurrierenden Nationalstaaten behindert wird – wiederum selbst zu einem Faktor in der Krise. Nur vier Prozent der Weltbevölkerung haben auch nur eine Dosis des Impfstoffs erhalten, und selbst in vielen der am weitesten entwickelten Länder liegt der Prozentsatz der Bevölkerung, der vollständig geimpft wurde, im einstelligen Bereich.

In Deutschland, dem angeblichen Musterbeispiel kapitalistischer Effizienz, sind nur 3,1 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft, in Spanien und Frankreich 3,0 Prozent, in Italien 2,9 Prozent und in Kanada 1,6 Prozent.

Trotz der Warnungen vor einem neuen Anstieg aufgrund ansteckenderer Virusstämme werden die verbliebenen Eindämmungsmaßnahmen gegen die Pandemie von Regierungen in aller Welt aufgehoben. Gestern beseitigte der US-Bundesstaat Texas sämtliche Beschränkungen der Wirtschaftsaktivitäten, während sich die Biden-Regierung an die Spitze der Kampagne zur schnellstmöglichen Wiederöffnung der Schulen gestellt hat.

Die Bilanz der World Socialist Web Site stellt die unbestreitbarste Widerlegung aller Behauptungen dar, dass nichts hätte getan werden können. Auf der Grundlage öffentlich zugänglicher Informationen gab die WSWS, das Organ des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, vor einem Jahr eine Reihe von Erklärungen heraus, die vor den kommenden Ereignissen warnten und die notwendige programmatische Antwort herausarbeiteten.

Am 13. März, zwei Tage nach der offiziellen Ausrufung der Pandemie, verurteilte die WSWS die Reaktion der herrschenden Klasse: „Während die tödliche Pandemie Fahrt aufnahm, wurde kostbare Zeit verschwendet.“ Die WSWS beharrte darauf, dass „die Bedürfnisse der arbeitenden Menschen auf der ganzen Welt unbedingten Vorrang vor Profitstreben und privatem Reichtum haben“ müssen, und forderte sofortige Notfallmaßnahmen, einschließlich einer international koordinierten Mobilisierung sozialer Ressourcen und der Stilllegung der nicht lebensnotwendigen Produktion bei vollem Lohnausgleich für alle Arbeiter.

Wären diese Maßnahmen umgesetzt worden, hätten unzählige Leben gerettet werden können.

Der Kampf gegen die Pandemie ist nicht nur eine medizinische Frage. Die Eindämmung der Pandemie kann nicht losgelöst von einem Kampf gegen das kapitalistische System erreicht werden.

Wie alle Krisen dieses Charakters hat die Pandemie die gesamte politische Situation tiefgreifend verändert. Sie hat den weitreichenden Verfall demokratischer Herrschaftsformen enorm beschleunigt. Das internationale Wachstum des Faschismus steht in direktem Zusammenhang mit der mörderischen Politik der herrschenden Eliten. Der Aufstand vom 6. Januar in Washington war nicht einfach das üble Produkt von Trump und seinen Mitverschwörern, sondern die Realität der Klassenherrschaft.

Darüber hinaus wendet sich die herrschende Klasse, die mit einer massiven sozialen Krise im eigenen Land und wachsender Wut in der Arbeiterklasse konfrontiert ist, als Ausweg immer offener militärischen Konflikten zu. In ihren ersten beiden Monaten im Amt hat die Biden-Regierung die Verschärfung ihrer aggressiven Provokationen im Nahen Osten und gegen Russland und China zu einer zentralen Priorität gemacht.

Alle offiziellen Institutionen der kapitalistischen Gesellschaft wurden entlarvt. Die Regierungen, ob sie nun von der extremen Rechten oder der vermeintlichen „Linken“ geführt werden, haben die gleiche grundlegende Politik verfolgt. In den Vereinigten Staaten hat es keine einzige Anhörung im Kongress oder auch nur eine ernsthafte mediale Untersuchung zu den Ursachen der Katastrophe oder den Verantwortlichen gegeben. Die korporatistischen Gewerkschaften, die in Wirklichkeit Instrumente des Managements sind, haben alles getan, um den Widerstand zu unterdrücken und die Politik der herrschenden Klasse durchzusetzen.

Wie im Ersten Weltkrieg bewirkt die Pandemie eine tiefgreifende soziale und politische Radikalisierung einer ganzen Generation von Arbeitern und Jugendlichen. Während Biden noch die Rückkehr zur „Normalität“ verkündet, wächst bereits der Widerstand unter Lehrern und Erziehern gegen die Bemühungen, Schulen und Kitas wieder zu öffnen, und in der gesamten Arbeiterklasse wächst die Opposition gegen die mörderische Politik, auf deren Fortsetzung die herrschende Klasse besteht.

Und so katastrophal die Pandemie auch ist, sie kündigt noch weitere und tiefere Krisen an – darunter den Klimawandel und weitere, noch schlimmere und tödlichere Pandemien, sowie die Gefahr eines Atomkriegs. Sie alle resultieren aus denselben fundamentalen Ursachen, die auch dem Versagen bei der Pandemiebekämpfung zugrunde liegen.

Die Pandemie hat bewiesen, dass es notwendig ist, das kapitalistische Nationalstaatensystem abzuschaffen. Die Verteidigung der grundlegendsten Lebensinteressen der Gesellschaft ist untrennbar damit verbunden, die Finanzoligarchie zu enteignen und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln ein Ende zu setzen. Sie macht die dringende Notwendigkeit einer wissenschaftlich gelenkten, rational organisierten und demokratisch kontrollierten Weltwirtschaft deutlich.

Der Kampf für Sozialismus ist ein globaler Kampf für eine Gesellschaft, die das Leben über den Profit, die menschlichen Bedürfnisse über den Reichtum der Oligarchen und die internationale Zusammenarbeit über nationale Konflikte stellt.

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