Ein Gespräch mit einem Heilerziehungspfleger

“Die Pandemie kann nur weltweit besiegt werden“

Die Covid-19-Pandemie hat weltweit den wirtschaftlichen und moralischen Bankrott des Kapitalismus in den Augen von Milliarden Menschen entlarvt. Seine Unterordnung sämtlicher Aspekte des gesellschaftlichen Lebens unter das private Gewinnstreben fand seinen offensten Ausdruck in der kriminellen Profite-vor-Leben-Politik, die laut einer aktuellen Studie des Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) weltweit zu mehr als 6,9 Millionen überwiegend vermeidbaren Todesfällen geführt hat.

Die Regierungen Europas und Nordamerikas haben sich nicht nur geweigert, die Pandemie mit einem international koordinierten Notfallprogramm zu bekämpfen und einzudämmen, sie haben die Krise als Vorwand für ein Klassenkriegsprogramm benutzt, das in der Nachkriegsgeschichte Europas ohne Beispiel ist.

Mit den sogenannten „Corona-Rettungspaketen“ schenkte die deutsche Bundesregierung den Banken und Konzernen mehr als 1,2 Billionen Euro Steuergelder, um die Kapitalmärkte zu stabilisieren und die Vermögen der kapitalistischen Eliten abzusichern. Wirtschaft, Politik und Medien beharrten anschließend darauf, dass Schulen und Fabriken ohne adäquate Schutzmaßnahmen geöffnet bleiben, während die öffentlichen Etats für Bildung, Soziales und Gesundheit inmitten der Pandemie zugunsten des Militärhaushalts gekürzt wurden.

Diese Politik erfolgte im Interesse der superreichen Oligarchie – die von der Krise profitierte und ihr Vermögen um mehr als 60 Prozent vermehren konnte – und diente zugleich dazu, die weltweiten geopolitischen Interessen des deutschen Imperialismus im „Wettstreit der Großmächte“ zu verfolgen.

Während Arbeiter in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen über Monate hinweg an vorderster Front gegen das Virus kämpften, bereicherten sich die oligarchischen Eigentümer der Impfstoff- und Pflegeunternehmen hemmungslos am weltweiten Massensterben. So wird etwa der milliardenschwere Medizin- und Pflegekonzern Fresenius noch im Mai die voraussichtlich 28. Dividendenerhöhung in Folge bekannt geben, finanziert durch ein weiteres „Sparprogramm“. Bei den Sana-Kliniken, Deutschlands drittgrößtem Klinikkonzern, protestierten Pfleger kürzlich gegen die drohende Streichung von mehr als eintausend Stellen.

Dieselbe Politik der Profitmaximierung und Durchseuchung herrscht auch in den Pflege- und Betreuungseinrichtungen für Menschen mit Behinderung. Die World Socialist Web Site sprach darüber mit einem Heilerziehungspfleger aus Bayern, der auf eigenen Wunsch anonym bleiben will.

Kannst du uns berichten, welche Auswirkungen die Covid-19-Pandemie auf deine Arbeit hatte?

In der Pandemie war bei uns jedes Heim von Anfang an auf sich allein gestellt. Durch die dezentrale Organisation der kleinen Häuser war eine effektive Abstimmung mit anderen Heimen nicht möglich – alle sollten einzeln für ihre Einrichtungen eine Lösung finden. Die Hygieneregeln und getroffenen Maßnahmen waren daher sehr unterschiedlich, und dementsprechend auch unterschiedlich erfolgreich. Wir einfachen Pfleger haben keine Verbindung zu Kollegen in anderen Heimen, obwohl genau das nötig gewesen wäre, um Erfahrungen auszutauschen.

Anfang Januar dieses Jahres, als die ‚zweite Welle‘ ihren Höhepunkt erreichte, wurde die gemeinsame Arbeit in den Werkstätten ausgesetzt und die Bewohner erhielten Arbeit in ihren Wohnungen. Doch mit dem Argument, dass Menschen mit Behinderung ‚Struktur brauchen‘, wurden die Pfleger und Bewohner vor einigen Wochen unter unsicheren Bedingungen wieder zusammengebracht.

Die Werkstätten wurden inmitten enorm steigender Infektionszahlen und einem der bundesweit höchsten Inzidenzwerte geöffnet, ohne dass ausreichende Schutzvorkehrungen getroffen wurden oder Pfleger geimpft worden wären. Man hat die Bewohner ohne Masken in Stadtbussen abgeholt. Als Folge haben sich unzählige Pfleger infiziert. Mehrere Kollegen und Bewohner sind sogar gestorben oder haben noch mit der Krankheit zu kämpfen. Über die genauen Todeszahlen unter unseren Kollegen in anderen Städten und Einrichtungen erhalten wir keine Informationen.

Welche Folgen hatten die Ausbreitung des Virus und der Mangel von Sicherheitsvorkehrungen auf das Wohlergehen deiner Kollegen und der Bewohner?

Durch die Infektionen brach die Versorgung zusammen und es kam zu wiederholten Gruppenwechseln. Die 'Struktur', die man angeblich aufrechterhalten wollte, wurde zerstört. Darunter litten die Bewohner dann wirklich. Bei der Arbeit mit Menschen geht es ja nicht nur um ihre physiologischen Bedürfnisse, sondern auch um Dinge wie Kommunikation und Zuhören, um psychischen Problemen vorzubeugen.

Das ist nun aber kaum noch möglich. Innerhalb weniger Wochen wurde die pädagogische Arbeit von mehreren Jahren und Jahrzehnten zerstört. Bewohner haben neue psychische Probleme und Krankheiten entwickelt, die sie vorher nicht gehabt haben.

Wir arbeiten am Limit. Viele der wichtigen Arbeiten schaffen wir nicht mehr. Es ist uns nicht mehr möglich, adäquat mit den Leuten zu sprechen und ihr Bedürfnis nach Kommunikation zu erfüllen. Die Arbeit läuft nicht mehr nach dem vorgesehenen Muster. Wir sind oft mit zwölf Bewohnern allein und können den Menschen nicht mehr gerecht werden. Ein Bewohner mit einer psychischen Erkrankung hätte sich fast umgebracht, während ich noch auf die anderen aufpassen musste. Es sterben Bewohner und Mitarbeiter, nur damit die Arbeit weitergehen kann.

Hat sich dein Verständnis vom Kapitalismus in der Pandemie verändert?

Die Corona-Krise hat Probleme offengelegt, die schon zuvor bestanden haben: Ein kaputtgespartes Gesundheitssystem, fehlende Kapazitäten und akuter Personalmangel – ob im Krankenhaus, der Psychiatrie oder der Wohnpflege. Die Krise hat aber auch gezeigt, dass selbst in augenscheinlich ‚sozialen‘ Bereichen wie der Behindertenarbeit für die Chefs der Einrichtungen dennoch der Profit das Wichtigste ist. Es geht der Geschäftsführung nicht um die Menschen, sondern nur um das Geld, das mit diesen Menschen verdient werden kann. Und das müssen wir grundlegend ändern.

Mein Arbeitgeber, der eigentlich ein Verein ist, hat sich in den letzten Jahren so verändert, dass der Profit im Mittelpunkt steht. Anstatt einfache Mietshäuser im Stadtzentrum als Wohnheime zu verwenden, werden jetzt zunehmend große graue Betonkomplexe gebaut, wo dreißig Leute wie eine Ware behandelt werden: Weg von der Normalität, hin zu einem Krankenhaus-Feeling.

Du hast erzählt, dass du die Maikundgebung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) verfolgt hast. Das IKVI ruft zum Aufbau der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees auf, um Arbeiter unabhängig von den Gewerkschaften gegen die Durchseuchungs- und Kriegspolitik zusammenzuschließen. Kannst du uns dazu etwas sagen?

Ich bin überzeugt davon, dass die Pandemie nur weltweit besiegt werden kann. Das Virus kennt keine Grenzen. Wir als Personal sind sogar innerhalb einer Stadt durch die vorhandenen Strukturen voneinander getrennt. Die Arbeiterklasse muss aber beginnen, sich als gesellschaftliche Kraft zu begreifen – und sie muss politisch bewusst handeln. Das kapitalistische System hat immer wieder bewiesen, dass es gegen die Wissenschaft arbeitet, nur damit die Betriebe geöffnet bleiben und die Kapitalisten weiter Geld verdienen. Menschen werden dabei als Ware angesehen, als bloße Zahl.

Wie ich das sehe, ist der internationale Zusammenschluss der Arbeiterklasse aus zwei Gründen notwendig. Zum einen, um die Pandemie zu beenden: Wenn man das Virus nicht international bekämpft, wird es nie verschwinden. Zweitens muss die Arbeiterklasse aufstehen, um zu verhindern, dass es wieder zu einem globalen Krieg kommt. In der Öffentlichkeit wird bereits immer mehr Wert auf Nationalitäten gelegt und von den Medien wird das Nationale regelrecht herbeigeredet.

Wie schnell es zu einem Krieg kommen kann, zeigen die jüngsten Ereignisse in Gaza und der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan im vergangenen Jahr. Das kann auch in Europa passieren. In Ungarn, Polen, Österreich und unzähligen anderen europäischen Ländern kommen zunehmend Autokratien und Faschisten an die Macht. Sie werden nicht zögern, Gewalt einzusetzen, um ihre Macht und das korrupte System des Kapitalismus aufrecht zu erhalten. Das hat die Geschichte aufs Deutlichste gezeigt. Ich bin der Meinung, dass nur die Arbeiterklasse einen Krieg verhindern kann, wenn sie geschlossen ist und das auf Krieg basierende System des Kapitalismus stürzt.

Die World Socialist Web Site ruft Arbeiter und Jugendliche dazu auf, an allen Arbeitsplätzen, Schulen und sozialen Einrichtungen unabhängige Aktionskomitees zu gründen, um der Politik von Massenentlassungen, Durchseuchung und Krieg entgegenzutreten. Schließt euch der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees an und nehmt an unseren regelmäßigen Online-Treffen teil!

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