Öffnungspolitik sabotiert Impffortschritt

Die Covid-19-Pandemie fordert in Deutschland seit mittlerweile mehr als zwei Monaten jeden Tag durchschnittlich rund 200 Todesopfer. Nachdem die bundesweite 7-Tage-Inzidenz in den letzten Wochen durch Erstimpfungen und ein Gegensteuern der Bevölkerung endlich unter die Marke von 100 gebracht werden konnte, überbieten sich Bund und Länder bereits mit neuen Öffnungsvorstößen, die die Opferzahlen weiter in die Höhe treiben werden. Das neue „Bundesinfektionsschutzgesetz“ hat dafür die Grundlage geschaffen.

So werden etwa in Niedersachsen derzeit die Hotels für Einwohner des Bundeslandes wieder geöffnet, während die Bundesländer Bayern und Schleswig-Holstein ab Freitag bzw. seit letztem Samstag wieder Urlauber aus dem gesamten Bundesgebiet empfangen.

Schüler drängen sich an einem Schulzentrum in Dortmund-Hacheney

Im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen, das im bisherigen Verlauf der Pandemie immer wieder die Rolle des Pioniers gespielt hat, sollen die Schulen bereits ab dem 31. Mai in den vollen Präsenzunterricht übergehen, sofern die Inzidenz in den Landkreisen unter 100 liegt. Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) erklärte, dies müsse „so schnell wie möglich“ und „noch vor den Sommerferien“ geschehen.

Dass zehntausende Schüler und ihre Familien durch diese Politik zusätzlich bedroht und möglicherweise schwer geschädigt werden, ist der Landesregierung dabei bewusst. Wie der CDU-Abgeordnete Bodo Löttgen gestern im Landtag berichtete, haben sich in Nordrhein-Westfalen bereits 135.421 Kinder unter 19 Jahren infiziert – dies entspreche 17,2 Prozent aller Infektionen. Zehn Prozent der ambulanten Patienten, so Löttgen, „klagen sechs Monate nach ihrer Infektion immer noch über Langzeitsymptome“. Zwölf Kinder seien derzeit mit Covid-19 auf einer Intensivstation des Landes.

Obwohl die Ansteckungszahlen unter Schülern katastrophal sind und in der Regel weder Lehrer und Schüler noch deren Eltern geimpft sind, drängen Bund und Länder auf eine schnellstmögliche Rückkehr zu regulärem Präsenzunterricht. So forderte Franziska Giffey (SPD) – die gestern ihren Rücktritt als Bundesfamilienministerin erklärte – noch am Dienstagabend gegenüber dem Sender RBB sofortige Gespräche über eine Rückkehr zum Regelbetrieb an den Schulen: „Wenn wir über Außengastronomie reden, dann müssen wir genauso darüber reden, wie kommen wir jetzt wieder zu einem vollen Regelbetrieb zurück“, verlangte sie.

Die ungesicherte Öffnung der Schulen ist ein Rezept für weiteres unsägliches Leid. Sie schlägt einer wissenschaftlichen Einschätzung der Infektionslage ins Gesicht. Laut einer Umfrage unter 723 Epidemiologen, die am Samstag von der New York Times veröffentlicht wurde, bezeichnet die Hälfte der Befragten eine umfassende Impfung der Bevölkerung – und insbesondere der Kinder – als Voraussetzung für eine sichere Aufhebung anderer Schutzmaßnahmen, wie etwa einer Rückkehr zum Präsenzunterricht.

Bereits im April hatte die Kultusministerkonferenz (KMK) beschlossen, Lernstress und Prüfungsdruck inmitten der Pandemie unverändert aufrechtzuerhalten und zu diesem Zweck „so viel Präsenzunterricht wie möglich“ durchzuführen. Im Beschluss der Minister hieß es dazu, die Schülerinnen und Schüler hätten sich auf die Abschlussprüfungen „trotz der aktuellen Pandemiesituation gut vorbereiten“ können – eine Behauptung, die trotz größter Anstrengungen der Lehrer nur als dreiste Lüge bezeichnet werden kann.

KMK-Präsidentin Britta Ernst (SPD) wies am Montag im ARD-Mittagsmagazin die flächendeckende Anschaffung von Luftfilteranlagen mit der Bemerkung zurück, sie würden „nicht den Durchbruch bringen“, und man werde trotzdem weiter lüften müssen. Die regelmäßige Testung der Schulkinder bezeichnete Ernst hingegen als „großen Beitrag, um unsere Schulen sicherer zu machen“, obwohl die eingesetzten Schnelltests nachweislich bei Weitem nicht jede Infektion entdecken.

Das offene Eintreten für eine Politik, die Kinder und Eltern mit Krankheit und Tod bedroht, ist ein Alarmsignal. Mit ihrer Agenda von Profitmaximierung und sozialer Ungleichheit droht die herrschende Klasse, eine weitere Ansteckungswelle einzuleiten und Tag für Tag unzählige weitere Menschen den nationalen Kapitalinteressen zu opfern.

Das zeigt sich täglich in immer neuen Ausbrüchen, die in der lokalen Presse zwar für Schlagzeilen sorgen, von den verantwortlichen Politikern jedoch mit einem sprichwörtlichen Achselzucken quittiert werden. So musste im nordrhein-westfälischen Arbeiterbezirk Velbert-Birth am Dienstag eine Hochhaussiedlung vollständig abgeriegelt werden, nachdem es dort zu einem Massenausbruch und Infektionen mit der Virusmutante B.1.617 gekommen war. Von den knapp 200 Bewohnern hatten sich 26 Menschen innerhalb kürzester Zeit infiziert.

Der zunächst in Indien festgestellte Virusstamm B.1.617 wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als „besorgniserregend“ und besonders schwer zu bekämpfen eingestuft. Er ist in Deutschland bereits für knapp 2 Prozent aller Neuinfektionen verantwortlich und könnte laut gegenwärtigem Kenntnisstand noch ansteckender als B.1.1.7 sein, das sich innerhalb weniger Wochen mit verheerenden Folgen zur dominanten Variante in ganz Europa entwickelt hatte. In Großbritannien macht die „indische“ Coronavirus-Variante bereits 5 Prozent aller Neuinfektionen aus.

Die verheerende Clusterinfektion wirft ein Schlaglicht auf den Klassencharakter der Pandemie, die Arbeiterfamilien und Menschen in prekären Lebensverhältnissen besonders schwer trifft. Verstärkt wird diese permanente Gefahr durch die Weigerung der deutschen und europäischen Regierungen, die Wirtschaft auf das lebensnotwendige Niveau herunterzufahren, die Impfstoffpatente freizugeben und die bereits verfügbaren Impfstoffe in sozial gerechter Art und Weise zu verteilen.

Tatsächlich haben in Deutschland auch knapp fünf Monate nach Beginn der Impfkampagne bislang erst 38,2 Prozent der Einwohner mindestens eine Impfung erhalten – bei den Zweitimpfungen sind es nach offiziellen Angaben derzeit insgesamt 11,9 Prozent. Laut Schätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) haben nur rund fünf Prozent der unter-59-Jährigen eine Zweitimpfung erhalten, und selbst unter den über-80-Jährigen ist fast jeder Dritte noch nicht vollständig geimpft.

Doch die Regierung ignoriert den mangelhaften Schutz der gefährdetsten sozialen Gruppen und schickt sich stattdessen an, die künftige Verteilung der Impfstoffe dem „freien Markt“ und dem „Recht des Stärkeren“ zu überlassen.

So kündigte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) an, die bislang gültige Impfpriorisierung bis zum 7. Juni vollständig aufzuheben, und begründete dies mit der Notwendigkeit, die Impfkampagne zu „beschleunigen“. Bereits zuvor hatten Baden-Württemberg, Bayern, Berlin und Sachsen angekündigt, in den Arztpraxen ohne Rücksicht auf Priorisierungsregeln impfen zu lassen.

Die Maßnahme – die sowohl vom Deutschen Ethikrat als auch von der Stiftung Patientenschutz verurteilt wird – zielt in Wirklichkeit darauf ab, wohlhabenden Schichten einen bevorzugten Zugang zur Immunisierung zu verschaffen und zugleich die Tourismusindustrie zu stärken.

Der Linkspartei-Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch plädierte sogar dafür, die Priorisierung noch in diesem Monat fallen zu lassen. In der Talkshow „Anne Will“ begründete er dies mit der Lüge, dass verfügbare Impfdosen gegenwärtig „verfallen und vernichtet werden müssen“ – ein Faktencheck des Redaktionsnetzwerks Deutschland ergab anschließend, dass das nicht der Fall ist.

Im Gegenteil: Laut einem Bericht des Spiegels werden „Millionen Ungeimpfte“ auf ihre Erstimpfung vielmehr „noch monatelang warten“ müssen. Ulrich Weigeldt, der Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes, erklärte gegenüber dem Nachrichtenmagazin: „Es gibt nicht mehr Impfstoff für Erstimpfungen, sondern erst mal weniger.“ In einer Mitteilung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung heißt es demnach, die Bestellmenge für Erstimpfungen mit dem Vakzin der Firma Biontech sei in dieser Woche auf höchstens zwei Ampullen pro Praxis limitiert. Das entspricht lediglich zwölf bzw. maximal 14 wöchentlichen Dosen je Arztpraxis.

Die Versorgung mit Impfstoffen des US-amerikanischen Herstellers Johnson & Johnson und des britisch-schwedischen AstraZeneca wird zudem von einem handelspolitischen Kräftemessen zwischen der Europäischen Union (EU), Großbritannien und den Vereinigten Staaten behindert. Nachdem US-Behörden vor einigen Wochen die Fabrik eines Johnson-Zulieferers nach einer Panne stillgelegt hatten, gab die EU zuletzt bekannt, keine weiteren Liefervereinbarungen mit AstraZeneca mehr abzuschließen.

Unter Verweis auf die in Aussicht stehenden Liefermengen und die derzeit geltenden Priorisierungsregeln für Zweitimpfungen schlussfolgert der Spiegel: „Bis zum 4. Juli, also innerhalb der ersten vier Wochen nach dem Ende der Priorisierungen, stehen insgesamt nur gut zehn Millionen Dosen Biontech und Moderna für noch nicht geimpfte Menschen bereit.“

Die Folgen des Mangels zeichnen sich bereits jetzt ab. So wird es etwa in Bayern in den Impfzentren wochenlang keine neuen Erstimpfungen geben, da der knappe Impfstoff dort vollständig für Zweitimpfungen eingesetzt werden soll. Grund dafür war die geänderte Stiko-Empfehlung gegen AstraZeneca, sowie die Verlängerung der Impfintervalle von Biontech und Moderna, die zuvor zu überdurchschnittlich vielen Erstimpfungen im April geführt hatte.

Viola Priesemann, Leiterin einer Forschungsgruppe am Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, warnte am Dienstag gegenüber dem Spiegel davor, die durch den „Immunitätsgewinn“ erzielten sinkenden Fallzahlen durch weitere Öffnungen „wegzulockern“. Ausschlaggebend für die Verlangsamung der Pandemie sei insbesondere „das Verhalten der Menschen“ gewesen. Unter diesen Bedingungen, so Priesemann, könne man ohne weitere Öffnungen „eine Inzidenz von 50 in etwa drei Wochen“ erreichen. „Lockern wir aber mehr, als der Impffortschritt es erlaubt, dann kann der Rückgang noch acht Wochen dauern, oder sogar umgekehrt werden.“

Der schreiende Widerspruch zwischen einem wissenschaftlichen und rationalen Programm gegen die Pandemie auf der einen Seite und der Durchseuchungspolitik der Regierungen auf der anderen Seite macht deutlich, dass eine unabhängige Intervention der Arbeiterklasse notwendig ist. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale ruft aus diesem Grund zum Aufbau der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees auf, um Arbeiter weltweit gegen die menschenverachtende Politik der herrschenden Eliten zusammenzuschließen.

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