Perspektive

600.000 Tote durch Covid-19 in den USA: Massensterben soll im Kapitalismus zum „Normalzustand“ werden

Mit 600 Glockenschlägen der National Cathedral in Washington wurde am Donnerstag der 600.000 Menschen gedacht, die in den USA an Covid-19 gestorben sind. Diese kaum beachtete Zeremonie, die es nicht einmal in die Abendnachrichten schaffte, gehört zu den wenigen Ereignissen, mit denen der Tod von 600.000 Menschen öffentlich zur Kenntnis genommen wurde.

Fotos von Opfern der Covid-19-Pandemie in Detroit, 31. August 2020 (AP Photo/Carlos Osorio) [AP Photo/Carlos Osorio]

Am 22. Februar, nur einen Monat nach seinem Amtsantritt, hielt US-Präsident Joe Biden eine Rede zum Gedenken an die 500.000 Menschen, die bis zu diesem Zeitpunkt gestorben waren. „Wir bekämpfen diese Pandemie nun schon so lange“, erklärte Biden, „dass wir uns dagegen wehren müssen, gegenüber dem Leid gefühllos zu werden. Wir müssen uns dagegen wehren, jedes Menschenleben als eine statistische Angabe oder eine flüchtige Meldung in den Nachrichten zu betrachten.“

Genau dieser Zustand hat sich nun, hunderttausend Todesfälle später, eingestellt. Allerdings sind die Todesfälle in den Nachrichten nicht einmal mehr eine „flüchtige Meldung“ wert. Meistens wird gar nicht erwähnt, wie viele Menschen an diesem Tag gestorben sind, geschweige denn, dass man an einzelne Verstorbene erinnert.

Die Entscheidung der Medien, die Pandemie hinter sich zu lassen, wurde durch die New York Times veranschaulicht, die Anfang des Monats ankündigte, ihre Rubrik „Those We've Lost“ einzustellen. „Das Bedürfnis, die Opfer zu dokumentieren, ist weniger dringend geworden, da die Zahlen in weiten Teilen der Welt zurückgegangen sind“, schrieb die Times. „Denn die Impfquoten sind gestiegen und die Menschen sind in großer Zahl zu einem normaleren Leben zurückgekehrt.“

Aus den Abendnachrichten erfährt man nicht, dass allein in den letzten 30 Tagen 15.000 Menschen in den USA an Covid-19 gestorben sind – mehr, als in einem ganzen Jahr an AIDS sterben. Als das Institute for Health Metrics and Evaluation an der University of Washington letzten Monat schätzte, dass die tatsächliche Covid-19-Todesrate näher bei 900.000 liegt, wurde diese Zahl von den Medien weitgehend ignoriert.

Was die „weiten Teile der Welt“ angeht, so wütet die Pandemie entgegen den Behauptungen der Times ungebremst. Noch vor Ende der ersten Jahreshälfte sind 2021 mehr Menschen an der Pandemie gestorben (1.884.000) als im gesamten Jahr 2020 (1.880.000). Indien verzeichnete in dieser Woche mit 6.148 neuen Todesfällen pro Tag die höchste Zahl aller Zeiten, nachdem einer der ärmsten Bundesstaaten, Bihar, die Zahl der Todesfälle nach oben korrigiert hatte, um auch die Menschen zu berücksichtigen, die zu Hause oder in privaten Krankenhäusern starben.

Mit der Feststellung, dass „eine große Zahl von Menschen zu einem normaleren Leben zurückgekehrt“ seien, spielt die Times auf die Tatsache an, dass im gesamten politischen Establishment und in den Medien bewusst versucht wird, eine Feierstimmung zu erzeugen und die Pandemie für beendet zu erklären, obwohl jeden Tag Hunderte Menschen sterben.

Oder, wie Biden es in einer Rede Anfang des Monats ausdrückte: „Amerika geht in einen Sommer, der sich deutlich vom Sommer im letzten Jahr unterscheidet. Ein Sommer der Freiheit, ein Sommer der Freude, ein Sommer des Beisammenseins und des Feierns. Ein typisch amerikanischer Sommer, den dieses Land verdient hat.“

Mit dieser Kampagne soll die Aufhebung aller ernsthaften Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie gerechtfertigt werden, um die vollständige Wiederöffnung von Schulen und Betrieben zu gewährleisten. Denn nur so können weiterhin Profite für die Finanzoligarchie erwirtschaftet werden.

Als die Vereinigten Staaten den Meilenstein von 300.000 Toten überschritten hatten, stellte die World Socialist Web Site fest, dass versucht werde, den Tod im großen Stil zu „normalisieren“. Wir schrieben damals:

Die Normalisierung des Todes ergibt sich aus der Entscheidung, basierend auf Klasseninteressen, die „Gesundheit der Wirtschaft“ und „menschliches Leben“ als vergleichbare Phänomene zu behandeln, wobei Ersteres Vorrang vor Letzterem hat. Sobald man diesen Vergleich und die Priorisierung als legitim akzeptiert – so wie es das politische Establishment, die Oligarchen und die Medien tun –, wird der Tod als unvermeidlich angesehen.

Seither wurden fast alle verbliebenen Maßnahmen zur physischen Distanzierung oder auch nur zum Tragen von Masken abgebaut. Am 13. Mai revidierten die Centers for Disease Control and Prevention ihre Richtlinien für Masken und forderten geimpfte Personen auf, in überfüllten Bereichen keine Masken mehr zu tragen und nicht länger auf Abstand zu achten.

Epidemiologen sprachen sich gegen die Abschaffung der Maskenpflicht aus. Sie warnten, dass die Mehrheit der Menschen in den Vereinigten Staaten noch nicht geimpft ist, während gefährliche neue Varianten des Virus weltweit auf dem Vormarsch sind.

Auf der ganzen Welt breitet sich die besonders ansteckende Delta-Variante aus. Sie verursacht mittlerweile 91 Prozent der Infektionen in Großbritannien, wie die Regierung Johnson am Donnerstag mitteilte. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen in Großbritannien hat sich in den letzten zwei Wochen verdoppelt. Die die Financial Times warnte, dass die Krankenhauseinweisungen „exponentiell“ zunehmen.

Die Delta-Variante ist mittlerweile auch die sich am schnellsten ausbreitende Variante in den USA, wo ungefähr der gleiche Prozentsatz der Gesamtbevölkerung geimpft ist wie in Großbritannien (42 Prozent).

Epidemiologen warnen, dass infolge von sinkenden Impfquoten, großen ungeimpften Bevölkerungsgruppen vor allem im Süden der USA und der Abschaffung von Maskenpflicht und sozialer Distanzierung die Vereinigten Staaten möglicherweise vor einem massiven Wiederaufleben der Pandemie stehen.

Angesichts dieser drohenden Katastrophe hören die Bundesstaaten auf, die Zahl der Infizierten überhaupt zu zählen. Das Wall Street Journal berichtete am Mittwoch: „Eine wachsende Zahl von Staaten verlangsamt die Meldungen über wichtige Pandemie-Daten wie Infektionen, Todesfälle und Krankenhauseinweisungen.“ Das Journal stellte fest, dass „die Hälfte der Staaten keine täglichen Berichte mehr liefert. Einige sind von täglicher Datenerfassung auf fünf Tage pro Woche übergegangen. Mindestens drei Bundesstaaten haben diese Häufigkeit auf dreimal pro Woche reduziert, und Florida und Alabama sind diese Woche zu einem Einmal-pro-Woche-Zeitplan übergegangen.“

Epidemiologen verurteilten diesen Abbau von Mechanismen zur Erfassung der Infektionen. „Das Letzte, was wir im Kampf gegen den Anstieg der hyper-übertragbaren Delta-Variante brauchen, ist, die Daten nicht im Griff zu haben“, schrieb Eric Topol, Direktor des Scripps Research Translational Institute. Topol warnte: „Da die Impfungen in den USA nachgelassen haben, ist die Zahl der Neuinfektionen nicht mehr rückläufig.“

Epidemiologen warnen auch davor, dass die Delta-Variante junge Menschen aggressiver angreift als frühere Varianten, was die Gefahren unterstreicht, die von dem Bestreben ausgehen, die Schulen wieder zu öffnen.

Aber trotz der Gefahr hat die Biden-Administration nur ihre Bemühungen verdoppelt, zum 100-prozentigen Präsenzunterricht zurückzukehren. Dahinter steht die Forderung der herrschenden Klasse nach der Verfügbarkeit billiger Arbeitskräfte durch den Missbrauch der Schulen als Verwahranstalten für die Kinder.

Arbeiter müssen die Kampagne der herrschenden Klasse zurückweisen. Sie dient nur dazu, die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie aufzugeben. Ihr Ziel besteht darin, das Massensterben zum Normalzustand zu machen, damit sich die Finanzoligarchie weiter bereichern kann. Da die Vereinigten Staaten von einem erneuten Aufflammen der globalen Pandemie bedroht sind, ist es umso dringlicher, dass sich die Arbeiter gegen das Aufgeben der physischen Distanzierung und des Maskentragens zur Wehr setzen. Auch der fortschreitende Abbau der Infrastruktur des Gesundheitswesens zur Nachverfolgung und Isolierung von Covid-19-Fällen muss gestoppt werden.

Das Bestreben, das Massensterben zum Normalzustand zu machen, spiegelt die grundlegende soziale Dynamik des Kapitalismus und die Unterordnung des menschlichen Lebens unter die Bereicherung der Finanzoligarchie wider. Diese Gesellschaftsordnung ist verantwortlich für die riesige Zahl der Pandemie-Toten, in der auf grausame Weise zum Ausdruck kommt, dass die Bedürfnisse der Gesellschaft mit dem Kapitalismus nicht vereinbar sind.

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