Eine „Parodie auf die Gerechtigkeit“

Vier Asylbewerber als angebliche Brandstifter im Flüchtlingslager Moria zu zehn Jahren Haft verurteilt

Vier afghanische Asylbewerber wurden als angebliche Verantwortliche für den verheerenden Brand im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos im letzten Jahr wegen vorsätzlicher Brandstiftung zu zehn Jahren Haft verurteilt. Drei der vier Angeklagten konnten durch Dokumente beweisen, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung minderjährig waren, sie wurden aber dennoch nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt. Im März wurden zwei afghanische Jugendliche im gleichen Fall schuldig gesprochen und zu je fünf Jahren Haft verurteilt.

Der Schuldspruch und das Urteil wurden von einem dreiköpfigen Gericht unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhängt. Journalisten und internationale Beobachter durften nicht an der Verhandlung teilnehmen. Ein Richter rechtfertigte die Maßnahme mit Verweis auf Covid-19-Maßnahmen. Der wichtigste Beweis der Staatsanwaltschaft war die Aussage eines weiteren afghanischen Flüchtlings, der vor Beginn des Prozesses aus Griechenland geflohen ist. Angeblich hatten Quarantänemaßnahmen, die nach einem Ausbruch des Coronavirus in dem Lager verhängt wurden, die Jugendlichen dazu veranlasst, das Feuer zu legen.

Bei dem Brand im letzten September wurde das gesamte Lager Moria zerstört, und 13.000 Flüchtlinge wurden obdachlos, die im Lager Moria unter elenden Bedingungen lebten. Zwar gab es keine Todesfälle, allerdings wurde ein Großteil der Habseligkeiten der Bewohner zerstört. Danach mussten tausende Flüchtlingen, ein Drittel davon Kinder, wochenlang im offenen Hügelland um das Lager leben.

Zum Zeitpunkt des Brands machten einige Flüchtlinge aus Moria griechische Faschisten verantwortlich, zumal zuvor Berichte über einen Ausbruch von Covid-19 in dem Lager aufgekommen waren. Kleine Gruppen von Faschisten haben – mit stillschweigender Unterstützung der Polizei und Vertreter der EU – regelmäßig Flüchtlinge und humanitäre Helfer im Umfeld des Lagers angegriffen. Viele Augenzeugen berichteten zudem von einer beträchtlichen Verzögerung zwischen der Meldung des ursprünglichen Brandes und der Reaktion der Behörden, wodurch sich das Feuer auf das ganze Lager ausbreiten konnte. Nach dem Vorfall verbreitete ein Sprecher der rechten Regierung unter Führung der Nea Dimokratia die unbelegte Behauptung, die Flüchtlinge hätten die Brände selbst gelegt: „[Die Asylsuchenden] haben gedacht, sie könnten die Insel verlassen, wenn sie Moria ganz einfach anzünden.“

Die einzigen Beweise gegen die schuldig gesprochenen Jugendlichen und Männer, die allesamt der verfolgten Minderheit der Hazara angehören, ist die Aussage eines anderen afghanischen Flüchtlings. Dieser gehört, wie die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung, der Ethnie der Paschtunen an. Die Verteidigung argumentierte, er sei dazu gebracht worden, die Angeklagten wegen der anhaltenden ethnischen Spannungen zwischen Flüchtlingen unterschiedlicher Ethnien im Lager zu bezichtigen. Laut der Website infomigrants.net stammten mehr als 70 Prozent der Bewohner des Lagers aus Afghanistan, gehörten allerdings mehreren ethnischen Gruppen an.

Die Verteidigung hatte nicht einmal die Möglichkeit, den Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen, da er kurz nach seiner Aussage bei der Polizei aus Moria geflüchtet ist und weder im März noch bei den Verhandlungen letzte Woche erschien, um den Angeklagten persönlich gegenüberzustehen. Verteidigerin Natascha Dailiani erklärte, die Aussage des Zeugen sei „voller Ungereimtheiten“ und bezeichnete das endgültige Urteil gegen die vier Flüchtlinge als „unbegreiflich“ und „ohne Beweise“.

Patrikios Patrikounakis, einer der Anwälte der Asylbewerber, erklärte nach dem Schuldspruch: „Das ist eindeutig von oben gekommen, es war eine Entscheidung des Staates. Die Minister hatten bereits Schuldsprüche gefordert, bevor auch nur eine Untersuchung begonnen hatte.“ Neun Monate vor den Urteilen erklärte das griechische Migrationsministerium gegenüber CNN: „Das Lager wurde von sechs afghanischen Flüchtlingen in Brand gesetzt, die daraufhin verhaftet wurden.“

Zu der Tatsache, dass drei der Verurteilten zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung minderjährig waren, aber dennoch nach Erwachsenenstrafrecht angeklagt wurden, erklärte Patrikounakis: „Laut dem griechischen Strafgesetzbuch hätte ihr Alter berücksichtigt werden müssen. Stattdessen haben wir eine Parodie auf die Gerechtigkeit erlebt.“

Es kam bereits früher zu Bränden im Lager Moria. Im Jahr 2016 wurden etwa 60 Prozent des Lagers durch einen Brand zerstört. Im September 2019 wurden bei zwei Bränden eine Frau und ein Kind getötet, im März 2020 bei einem weiteren Brand ein sechsjähriges Mädchen. Bei keinem dieser Brände wurde die Ursache geklärt.

Selbst wenn es der Fall wäre, dass das letzte Feuer von den Angeklagten gelegt wurde, so läge die Verantwortung für diesen verzweifelten Akt des Protests bei der Europäischen Union und ihren Regierungen, nicht bei ihren Gefangenen. Der Name Moria ist zum Synonym für die unmenschliche Behandlung von Flüchtlingen durch die EU geworden. Die schrecklichen Bedingungen im Lager Moria sollen andere Flüchtlinge davon abschrecken, nach Europa zu kommen.

Zum Zeitpunkt des letzten Brandes lebten 13.000 Flüchtlinge in einem Lager, das für 3.000 Bewohner ausgelegt war. Die Insassen mussten selbst für Trinkwasser und vor Toiletten stundenlang anstehen. Nach dem Brand wurden tausende nach Kara Tepe verlegt, wo es monatelang kein fließendes Wasser und kein Abwassersystem gab. Anfang des Jahres wurde Kara Tepe geschlossen und die Flüchtlinge zurück nach „Moria 2.0.“ verlegt.

Der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, beschrieb die Bedingungen im Februar 2020 mit folgenden Worten: „Menschenrechtsverletzungen und völlige Verzweiflung sind in dem Lager allgegenwärtig. Die Täter in Brüssel lassen zu, dass sich in den Hotspots Lebensbedingungen entwickeln, die an die schrecklichen Konzentrationslager erinnern.“

Die Verschlechterung der Bedingungen in Moria und anderen Flüchtlingslagern in ganz Griechenland sowie die Verschärfung der EU-Seepatrouillen in der Ägäis wurden sowohl von der offen rechten Regierung unter der Nea Dimokratia als auch von der Vorgängerregierung unter der pseudolinken Syriza organisiert, die Griechenland bis 2019 regierte.

Die Verurteilung der sechs Asylbewerber, von denen fünf zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung minderjährig waren, auf der Grundlage eines höchst zweifelhaften und nicht nachprüfbaren Augenzeugenberichts ist Teil eines kriminellen Versuchs, die Rolle der griechischen Regierung und die Rolle der EU in der Moria-Krise zu vertuschen.

Gleichzeitig haben die griechische und die europäische herrschende Klasse ihre rechtsextremen Verbündeten und deren Angriffe auf Flüchtlinge und humanitäre Helfer immer verteidigt und unterstützt.

Aufgrund der immigrantenfeindlichen Kampagne „Festung Europa“ der EU sind in den letzten sieben Jahren schätzungsweise mehr als 20.000 Flüchtlinge im Mittelmeer zwischen Marokko und der Ägäis ertrunken. Vermutlich ist die tatsächliche Zahl der Toten noch deutlich höher.

Die Versuche der griechischen Regierung, diese Asylbewerber zu Sündenböcken zu machen, ist die folgerichtige Weiterentwicklung der mörderischen immigrantenfeindlichen Politik, mit der die EU in ganz Europa versucht, die sozialen Spannungen, die die enormen Austeritätsmaßnahmen zu Lasten der Bevölkerung hervorgerufen haben, auf ein äußeres Ziel zu lenken. Im Rahmen dieser Kampagne, die sich letzten Endes gegen die gesamte Arbeiterklasse richtet, schützt und fördert die EU aktiv rechtsextreme Gruppen.

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