Steigende Infektionszahlen an britischen Schulen: Eine Warnung für die Welt

Kurz vor dem Ende des Sommersemesters diese Woche steht das britische Bildungssystem am Rande des Zusammenbruchs. In allen Regionen des Landes mussten sich hunderttausende Schüler, Lehrer und Schulangestellte in Isolation begeben, weil sie entweder engen Kontakt mit einer positiv auf Covid-19 getesteten Person hatten oder selbst positiv sind. Diese Entwicklung ist eine Folge der Pandemiepolitik der britischen Regierung getreu dem Motto: „Lasst es krachen!“.

Am 8. Juli fehlten in den öffentlichen Schulen Englands laut den jüngsten offiziellen Zahlen fast 840.000 Schüler (ca. 11,2 Prozent) aufgrund einer Erkrankung mit dem Corona-Virus. Es ist der höchste Wert seit März, der außerdem um 31 Prozent höher liegt als noch in der Vorwoche. Von den fehlenden Schülern wurden 39.000 positiv getestet, bei rund 35.000 wird eine Infektion vermutet. Weitere 630.000 fehlten aus anderen Gründen.

Es ist anzunehmen, dass sich die Situation nochmals dramatisch verschlimmert hat. Bei der großen Mehrheit der Infektionen handelt es sich um die hochgradig ansteckende und tödlichere Delta-Variante, die in Großbritannien vorherrschend ist. In hunderten Schulen begannen die Sommerferien wegen Personalmangel oder vermehrten Corona-Fällen in verschiedenen Klassen und Jahrgängen bereits vorzeitig. Fast 18.000 Schüler sind zuhause, weil ihre Schulen am 8. Juli geschlossen wurden. Gleichzeitig haben tausende Eltern angesichts des rapiden Anstiegs der Infektionen mit den Füßen abgestimmt und ihre Kinder aus den Schulen genommen.

Pendler laufen am 19. Juli, dem sogenannten „Freedom Day“, während der morgendlichen Rush Hour über die London Bridge zur U-Bahn (AP Photo/Matt Dunham)

Die ohnehin schon gefährliche Lage hatte sich bereits verschlimmert noch bevor die konservative Regierung am 19. Juli – der zynisch als „Freedom Day“ bezeichnet wird – alle Maßnahmen zur Eindämmung des Virus aufgehoben hat. Der derzeitige Anstieg von Corona-Fällen unter Kindern wird massiv zum Infektionsgeschehen in der Gesamtbevölkerung beitragen, der in den kommenden Wochen erwartet wird.

Der britische Premierminister Boris Johnson erklärte Anfang des Monats unverblümt, die Zahl der täglichen Infektionen könnte auf 50.000 ansteigen und Großbritannien müsse sich „an mehr Tote gewöhnen“. Die von Johnson genannte Zahl wurde bereits erreicht. Gesundheitsminister Sajid Javid, der positiv auf das Virus getestet wurde, forderte die Bevölkerung dazu auf, „zu lernen mit der Existenz von Covid zu leben“. Weiterhin gab er zu, dass die Zahl der täglichen Neuinfektionen bis Ende des Sommers auf 100.000 ansteigen könnte. Der Epidemiologe Professor Neil Ferguson, der Modellstudien für die Regierung anfertigt, warnte am Wochenende vor einem potenziellen Anstieg der Zahlen um 150.000 bis 200.000 pro Tag.

Laut dem Guardian könnte es in den sechs noch verbleibenden Sommerwochen weitere zwei Millionen Fälle geben. Dies basiert jedoch auf einer konservativen Schätzung von durchschnittlich 35.000 Fällen pro Tag bis zum 19. Juli sowie 60.000 vom 19. Juli bis zum 16. August. Die Zahl der Covid-Patienten, die in ein Krankenhaus eingeliefert werden mussten, liegt mittlerweile bei über 4.000 und damit 26 Prozent höher als vor einer Woche.

Die am stärksten betroffenen Schulen befinden sich im Norden Englands, wo Sekundarschüler durchschnittlich bereits dreimal so viel Unterricht verpassen wie ihre Altersgenossen in London. Allein in der Woche bis zum 9. Juli verpassten Schüler 37 Prozent der Unterrichtsstunden, 27 Prozent davon aufgrund von Isolations- oder Quarantänemaßnahmen wegen Covid-19; wobei die Zahl der Fehlstunden derzeit in allen Regionen steigt.

In Gateshead im Nordwesten Englands ist die Zahl der Infizierten innerhalb von sieben Tagen seit dem 9. Juli auf 1.823 angestiegen, sprich von 237,1 Fällen pro 100.000 Einwohner in der Vorwoche auf 902,2 Fälle pro 100.000 Einwohner.

Eltern bringen Kinder nach der landesweiten Öffnung der Schulen zu einer Grundschule in Bournemouth (März 2021, WSWS Media)

Sarah Muckle, die Direktorin für öffentliche Gesundheit in Bradford (West Yorkshire), gab letzte Woche bekannt, dass das Durchschnittsalter der positiv getesteten bei 28 Jahren liegt. Rund 126 der jüngsten Ausbrüche des Virus erfolgten in Schulen und Bildungseinrichtungen.

Mit der Abschaffung der Corona-Maßnahmen am 19. Juli, die außerdem ohne nennenswerte Richtlinien des Bildungsministeriums erfolgten, müssen die Schulleitungen nun improvisieren. Die zusätzliche Belastung wird für Eltern, die gemeinsam mit ihren Kindern in die Isolation müssen, noch größer. Lehrer und Schulpersonal sind besorgt, dass sie die ersten Wochen der Sommerferien in Isolation oder mit der Pflege von Angehörigen verbringen müssen; gleichzeitig steigt die Zahl der Fälle und der Krankenhauseinweisungen auch bei Kindern. Die jüngsten Statistiken zeigen, dass acht Prozent der neu mit Covid-19 aufgenommenen Krankenhauspatienten Kinder sind. Ein Viertel von ihnen leidet im Durchschnitt achteinhalb Monate unter Long Covid-Symptomen.

Sammie McFarland von der Unterstützungs- und Beratungsorganisation Long Covid Kids UK erklärte: „Wir taumeln in eine Long Covid-Katastrophe, in der Kinder zu vertretbaren Opfern des Wirtschaftsaufschwungs erklärt werden.“

Die Regierung von Boris Johnson hat als erste vollständig auf die mörderische „Politik der Herdenimmunität“ gesetzt, die bereits von sämtlichen Regierungen in unterschiedlicher Ausprägung ausgeführt wird. In der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet warnten Wissenschaftler eindringlich vor der „Herdenimmunität durch Masseninfektionen“: durch diese „werden 48 Prozent der Bevölkerung (einschließlich Kinder, Risikogruppen sowie Menschen, deren körpereigenes Abwehrsystem unterdrückt wird), die noch nicht vollständig geimpft sind, einem unzumutbaren Risiko ausgesetzt.“ In den Schulen ist dies für Kinder, Lehrer und Angestellte bereits der Fall.

Die Regierung erachtet dieses Risiko allerdings offenkundig als zumutbar. Ein Modell der Scientific Advisory Group on Emergencies (SAGE) vom Februar deutet darauf hin, dass weitere Übertragungen von Covid-19 bis zum Sommer 2022 zu mehr als 35 Prozent der Herdenimmunität beitragen könnten. Aufgrund der unzureichenden Zahl der Geimpften in Großbritannien wird die Herdenimmunität laut den Spekulationen des Dokuments „nicht ohne einen starken Anstieg der Übertragungen“ möglich sein, die sich außerdem größtenteils unter jungen Menschen ereignen würden.

Mitschuldig daran sind auch die Gewerkschaften im Bildungsbereich, weil sie nichts gegen diese Katastrophe unternehmen. Letzten September unterstützten sie uneingeschränkt die Öffnung der Schulen und lehnten im Mai jede Mobilisierung des weit verbreiteten Widerstandes gegen die Abschaffung der Maskenpflicht ab, obwohl sich die Delta-Variante bereits wie ein Lauffeuer ausbreitete. Auch ansonsten ordnete sie alle Bedenken hinsichtlich Gesundheit und Sicherheit der Beschäftigten dem „Profite vor Leben“-Kurs der Regierung unter.

Die Gewerkschaft National Education Union (NEU) erklärte diesen Monat, dass die von Bildungsminister Gavin Williamson beschlossenen Maßnahmen (darunter die Abschaffung von geschlossenen Lerngruppen sowie regelmäßige Corona-Tests statt Isolation) zu einer explosionsartigen Ausbreitung des Virus führen werden. Zu mehr als einer rhetorischen Frage ließen sich die Gewerkschaftsführer jedoch nicht hinreißen: „Gibt es keine Schwellen bei Fallzahlen, Hospitalisierungen oder Todesfällen, bei denen das Bildungsministerium ab September etwas anders machen wird?“

Der Präzedenzfall, der in Großbritannien geschaffen wurde, wird sich in einem Land nach dem anderen wiederholen. Lehrkräfte, Schüler und ihre Eltern werden trotz hoher Ansteckungsgefahr zur Rückkehr in das schulische Umfeld gezwungen, weil die Regierungen fest entschlossen sind, ohne Rücksicht auf Verluste die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Sicherheitsmaßnahmen werden abgeschafft, um die Behauptung zu bestärken, dass „alles wieder so wird wie vorher“. Die Zahlen der Infektionen, Krankenhauseinweisungen und Todesfälle steigen unaufhaltsam an, und die Gewerkschaften im Bereich Bildung unterstützen dieses Verbrechen.

Nur die Arbeiterklasse kann diese Katastrophe beenden. Lehrer, Dozenten, Eltern, Schüler und Studierende aller Schulen, Colleges und Universitäten müssen den Kampf zur Bildung von Aktionskomitees aufnehmen, um die Arbeiterklasse unabhängig von den korporatistischen Gewerkschaften zu organisieren. Sie müssen die Wiedereinführung Corona-Maßnahmen und die Schließung der Schulen fordern, bis alle Beschäftigten und Schüler geimpft werden können. Allen Betroffenen muss eine Lohnfortzahlung und qualitativ hochwertiger Onlineunterricht garantiert werden, der auf Kosten der Konzerne und Banken bezahlt wird.

Wir rufen alle Lehrkräfte und andere Beschäftigte auf, diesen Kampf aufzunehmen. Setzt euch noch heute mit der World Socialist Web Site in Verbindung, um weitere Infos zu erhalten.

Loading