Corona-Öffnungen trotz drohender Delta-Variante

Obwohl sich die neue Delta-Variante des Coronavirus in Europa rasch ausbreitet, hält die Bundesregierung an einer Politik der Verharmlosung und Vertuschung fest, um ihre „Back-to-work“-Politik fortzusetzen.

Die Delta-Variante (B.1.617.2) ist zuerst in Indien aufgetaucht und hat dort einen fast senkrechten Anstieg der Corona-Zahlen und eine Todeszahl von fast 400.000 Corona-Opfern bewirkt. Seither hat sie auf Großbritannien übergegriffen, wo die hochansteckende Mutante für einen neuen Anstieg der Infektionszahlen sorgte und die Boris-Johnson-Regierung zwang, das angekündigte Ende der Corona-Maßnahmen um vier Wochen zu verschieben.

Corona-Testzentrum der Universität Lissabon

Am gestrigen Freitag haben die Behörden von Portugal die Hauptstadt Lissabon für dieses Wochenende abgeriegelt. „Die Zahlen nehmen sehr rapide zu“, erklärte Vitor Almeida vom Krisenstab der portugiesischen Ärztekammer der Tagesschau. „Der Grund ist eindeutig auch die Delta-Variante, die in Lissabon dominant ist. Daher die Entscheidung der Regierung, am Wochenende um Lissabon einen Sicherheitskordon aufzubauen.“ Das Hauptproblem sieht Almeida in den Arbeitervorstädten der Stadt, wo die Menschen sehr dicht zusammenleben und keinen Abstand wahren können.

Was aber tun die deutschen Behörden, um die Bevölkerung zu warnen und Vorsorge zu treffen? Die Antwort lautet: Nichts. Das Thema wird systematisch in den Hintergrund gedrängt und verharmlost. Selbst in den Nachrichten über Portugal beeilt sich die Tagesschau, die „Urlauberinnen und Urlauber aus Deutschland“ über die Situation in Lissabon zu beruhigen, sie seien „nur in Ausnahmefällen betroffen“.

Gerade ist die Fußball-Europameisterschaft das alles beherrschende Thema auf allen TV-Kanälen und Nachrichtensendungen, und die Stadien sind zunehmend gefüllt. Zusammen mit den ständigen Berichten über Urlaub, Tourismus und Sommer-Events vermittelt dies eine Stimmung, als sei die Pandemie vorbei. In Berlin wird gerade das Tanzverbot aufgehoben, und bei Open-Air-Veranstaltungen sind 250 Gäste ohne Masken und Abstand erlaubt.

Dabei sind die Nachrichten alles andere als beruhigend. Immer mehr Hinweise deuten darauf hin, dass sich Delta auch in Deutschland ausbreitet.

In München wurden 45 Fälle mit der Variante offiziell nachgewiesen. Das RKI berichtet über eine Verdoppelung des Anteils der Delta-Variante von 3 Prozent auf über 6 Prozent aller Corona-Infektionen, beruft sich aber auf Zahlen, die schon einige Tage alt sind. Dagegen meldet eine süddeutsche Laborgemeinschaft, die Corona-Abstriche an mehreren Standorten sequenziert hat, dass die hochansteckende Mutante im Raum München bereits für elf Prozent aller SARS-CoV-2-Neuinfektionen zuständig sei.

In Baden-Württemberg warnte das Landesgesundheitsamt in Stuttgart am Freitag, dass seit zwei Wochen ein deutlicher Anstieg zu beobachten sei. Im Landkreis Heidenheim mussten zwei Schulklassen und eine Kita-Gruppe in Quarantäne geschickt werden, nachdem ein größerer Ausbruch festgestellt worden war. Der Hinweis auf die Delta-Variante wurde bei nicht weniger als 89 Infizierten festgestellt.

In Nordrhein-Westfalen wurden in den Nachbarstädten Soest und Werl am Mittwoch und Donnerstag etwa 150 Schülerinnen und Schüler in Quarantäne geschickt, nachdem bei vier Corona-Infektionen die Delta-Mutante nachgewiesen worden war. Betroffen sind die Abschlussklassen der Sekundarschule in Soest und eine ganze Grundschule in Werl.

Es hatte eine Abschlussfeier gegeben, und danach sei „eine klare Kontaktpersonenverfolgung nicht mehr möglich“ gewesen, erklärte das Gesundheitsamt Soest. Schon seit dem 12. Mai gibt es in diesem Kreis immer wieder Corona-Fälle, bei denen das Delta-Virus nachgewiesen wird. Auch an einer Hamburger Grundschule wurde das Delta-Virus nachgewiesen.

Seit langem fordern Ärzte und Virologen nachdrücklich, die neue Variante ernst zu nehmen. Einer von ihnen ist Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie (DGfI).

„Es ist fest davon auszugehen, dass spätestens im Herbst die Delta-Variante die dominierende Variante in Deutschland sein wird“, sagte Watzl am 17. Juni der Augsburger Allgemeinen. Er forderte nachdrücklich, das Tempo der Impfungen zu beschleunigen. Dringend sei der Einbau von Luftfiltern und anderen baulichen Konzepten an den Schulen, mahnte der Immunologe. Vor allem „wenn sehr viele Kinder nicht geimpft sind und die Delta-Variante im Herbst kommt, droht in den Schulen wieder ein stärkeres Ausbruchsgeschehen.“

Besonders beunruhigend an der Delta-Variante ist die Tatsache, dass sie auch Personen bedroht, die bereits einmal geimpft worden sind. Erst eine vollständige, zweimalige Impfung bietet im Fall dieser Mutante einen gewissen Immunschutz.

Vor dem Hintergrund dieser Gefahr ist es besonders alarmierend, dass in Deutschland erst ein so kleiner Anteil der Bevölkerung doppelt geimpft ist. Gerade mal 50 Prozent haben die erste Impfung erhalten, und erst 25 Prozent die zweite Impfung. Und so sind viele Millionen 20- bis 50-Jährige, die besonders aktiv am Berufs- und Gesellschaftsleben teilnehmen, immer noch ungeimpft und ohne jeden Immunschutz.

Dennoch wird so getan, als sei die Pandemie ausgestanden. Die arbeitende Bevölkerung wird zurück an die Arbeit geschickt und die Schulen und Kitas werden uneingeschränkt und ohne Maskenpflicht noch vor den Sommerferien wieder geöffnet.

„Als ich das gehört habe, war ich erschüttert“, so Virologin Melanie Brinkmann im Gespräch mit dem Spiegel. „Die Masken sind doch das geringste Übel. Eigentlich sind wir in einer guten Ausgangslage: Es ist Sommer, man kann in Klassenräumen die Fenster aufreißen, die Inzidenzen sind niedrig, wir haben Impfungen, wir testen.“ Aber anstatt mit Bedacht vorzugehen, handelten die Politiker „schon wieder ungeduldig und ohne einen Plan“.

In demselben Spiegel-Artikel wird Dirk Brockmann, Physiker am Biologie-Institut der Humboldt-Universität, mit den Worten zitiert: „Wir machen die gleichen Fehler noch einmal, dabei haben wir jetzt die Chance, intelligente Öffnungsstrategien anzuwenden. (…) Stattdessen wird jetzt wieder wild alles auf einmal gelockert.“

Die Regierung ist sich über die Gefahren ihres skrupellosen Handelns voll bewusst. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) erklärte am gestrigen Freitag auf einer Pressekonferenz mit RKI-Chef Lothar Wieler, es sei „nicht die Frage ob, sondern wann sich die Delta-Variante in Deutschland und ganz Kontinentaleuropa durchsetzt“. Dennoch setzen alle Politiker der Bundes- und Landesregierungen ihre gefährliche Öffnungspolitik uneingeschränkt fort.

Obwohl die täglichen Inzidenzzahlen gerade zurückgehen und am Freitag 10,3 erreichten, sind die Todeszahlen nach wie vor sehr hoch; sie liegen seit Tagen im Bereich von etwa hundert Corona-Verstorbenen pro Tag. Mehr als 90.000 Menschen sind bisher an Corona gestorben, und Hunderttausende werden ihr Leben lang an den Folgen leiden. Mindestens jeder zehnte Infizierte hat mit Long Covid zu kämpfen.

Dies alles hat keine Auswirkungen auf die Politik. Es wird nicht zum Anlass genommen, die enorme Gefährlichkeit der Pandemie öffentlich bekannt zu machen, alles zu tun, um sie in Schach zu halten und die Ausbreitung neuer Virus-Mutanten zu verhindern. Die Interessen der Wirtschaft, der Bankenwelt und der Superreichen gehen vor. Für sie war das letzte Jahr ein sehr gutes Jahr. Laut dem aktuellen Global Wealth-Bericht stieg die Zahl der Superreichen der Welt um etwa zehn Prozent auf 60.000, und ihnen gehört jetzt gut 15 Prozent des weltweiten Vermögens.

Wie gnadenlos die Banken und Konzerne von den Regierungen eine „Back-to-work“-Politik fordern, geht aus einem neuen Vorschlag des Chefs des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Prof. Michael Hüther, hervor. Sein Institut hat die in Deutschland geleisteten Arbeitsstunden mit denjenigen der Schweiz und Schwedens verglichen. Um „schlummernde Wachstumspotenziale im deutschen Arbeitsmarkt“ zu heben, schlägt Hübner jetzt vor, dass Arbeiter und Angestellte durchschnittlich zwei Stunden pro Woche mehr arbeiten und 1,5 Wochen weniger Urlaub nehmen. „Am deutschen Arbeitsmarkt liegen Potentiale frei“, heißt es in einer Pressemitteilung des IW vom 14. Juni 2021.

Es liegt auf der Hand, dass dies auch der Grund ist, warum Kitas und Grundschulen um jeden Preis wieder vollständig offen sein müssen. IW-Chef Hüther machte das in einem Interview mit Bild deutlich. „Viele Frauen beispielsweise arbeiten unfreiwillig in Teilzeit, weil Kitaplätze fehlen.“ Es sei an der Zeit, die Versäumnisse der Vergangenheit zu beheben und dafür zu sorgen, dass hunderttausende Frauen voll arbeiten könnten.

Es ist auch kein Zufall, dass dieses Wirtschaftsinstitut die deutschen Arbeitsstunden mit denjenigen in der Schweiz und in Schweden vergleicht. Das sind die Länder, die in der Pandemie die „Back-to-work“-Politik mit am rücksichtslosesten durchgesetzt und damit eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an Corona-Toten verursacht haben.

Der politische Umgang mit Corona hat in den letzten sechzehn Monaten deutlich gemacht, dass in Deutschland, wie in jedem kapitalistischen Land, eine skrupellose Profite-vor-Leben-Politik verfolgt wird, die sich durch ein hohes Maß an krimineller Nachlässigkeit und einem Hang zur systematischen Verschleierung auszeichnet. Dies wird sich erst ändern, wenn die Arbeiterklasse selbst in das Geschehen eingreift und den Kampf für eine Arbeiterregierung aufnimmt.

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