Staatsstreich des tunesischen Präsidenten angesichts von Protesten gegen massenhafte Corona-Todesfälle

Der tunesische Präsident Kaïs Saïed hat am Sonntag die Regierung der islamistischen Ennahda-Partei entlassen, das Parlament aufgelöst und die Armee zur Bewachung staatlicher Gebäude eingesetzt. Zuvor hatte es in ganz Tunesien Proteste gegen Arbeitslosigkeit und den katastrophalen Umgang der Regierung mit der Corona-Pandemie gegeben.

Im Laufe des letzten Monats nahm die Wut zu, als die Delta-Variante verheerende Auswirkungen zeigte und zu einem Zusammenbruch der medizinischen Versorgung führte, da die Krankenhäuser mit Kranken und Toten überfüllt waren. Mit fast 19.000 Toten bei einer Bevölkerung von 11,9 Millionen – das sind 1.587 bestätigte Covid-19-Tote pro eine Million Einwohner – hat Tunesien die höchste Todesrate in Afrika. Darüber hinaus wurde auch die Wirtschaft von der Pandemie schwer getroffen. Die Arbeitslosigkeit ist auf fast 18 Prozent und die Jugendarbeitslosigkeit auf über 40 Prozent angestiegen.

Demonstranten in Tunis am Sonntag, 25. Juli 2021 (AP Photo/Hedi Azouz)

Vor einem Jahrzehnt, im Dezember 2010, brachen in den verarmten Bergbaugebieten im Süden Tunesiens Proteste aus, nachdem der junge Obst- und Gemüsehändler Mohamed Bouazizi sich selbst angezündet hatte. Diese Proteste hatten vollkommen unabhängig vom politischen Establishment begonnen, bezwangen die blutige Unterdrückung durch die Sicherheitskräfte und lösten schließlich eine Massenmobilisierung der tunesischen Arbeiter und Jugendlichen aus, die im Januar 2011 zum Sturz von Präsident Zine El Abidine Ben Ali führte. Im darauffolgenden Monat brachte die Arbeiterklasse in Ägypten Hosni Mubarak mit Massenprotesten und einem Generalstreik zu Fall.

Zwar ist die Ennahda-Regierung bei Arbeitern und Jugendlichen äußerst unbeliebt, doch Berichte über die Proteste vom Sonntag vor Saïeds Staatsstreich machen deutlich, dass es sich nicht um eine Massenmobilisierung von Arbeitern und Jugendlichen wie bei der Bewegung im Januar 2011 handelte. Die Proteste waren viel kleiner und es waren auch Kräfte beteiligt, die eng mit dem Präsidenten zusammenarbeiten.

Am Sonntag marschierten Hunderte von Demonstranten zum Parlament in Tunis und wurden von der Bereitschaftspolizei aufgehalten. Mehrere Tausend nahmen an einem Marsch im Ferienort Sousse teil. Anschließend stürmten kleinere Gruppen von Demonstranten die Ennahda-Zentrale in der Stadt und brannten sie nieder. Die Proteste in Sidi Bouzid wurden Berichten zufolge von Aktivisten der Zivilgesellschaft organisiert, die „den Rücktritt und die Auflösung der Regierung“ forderten. Ähnliche Proteste gegen Parteibüros der Ennahda gab es in Monastir, Sfax und El Kef, und in Sidi Bouzid und Tozeur wurden Ennadha-Büros niedergebrannt.

Während in einigen Presseberichten behauptet wird, die Bewegung sei von keiner Partei unterstützt worden, rief die arabisch-nationalistische Partei Volksströmung am Samstag zu Protesten auf, um Ennahda zu stürzen. Bereits im Frühjahr hatte sie Saïed aufgefordert, die Regierung abzulösen. An diesem Wochenende appellierte sie an die „politischen Parteien, Organisationen und die gesellschaftliche Elite Tunesiens, eine Mobilisierung der Bevölkerung zu organisieren“ und rief „alle nationalen Kräfte zu einer massiven Mobilisierung auf, um eine nationale Übergangsregierung und eine kurzfristige wirtschaftliche und soziale Strategie durchzusetzen, um das Land vor dem Bankrott und der Zwangsverwaltung zu retten“.

Saïed reagierte mit einem Staatsstreich, setzte verfassungswidrig die Arbeit des Parlaments aus und befahl der tunesischen Armee, das Parlament und die staatlichen Gebäude zu bewachen sowie die Pandemiepolitik zu leiten. Das Parlament wurde mit bewaffneten Fahrzeugen umstellt.

Auch wenn die Wut der Arbeiter und Jugendlichen auf die Ennahda berechtigt ist, muss vor dem Vorgehen Saïeds aufs Schärfste gewarnt werden. Er hat die Macht nicht den Arbeitern übertragen, sondern dem Präsidenten und den Streitkräften, die in die reaktionäre Politik von Ennahda eingebunden sind.

Aus den Erfahrungen der ägyptischen Revolution, die mit den Ereignissen in Tunesien eng verbunden sind, lassen sich wichtige Lehren für die heutige Situation ziehen. Im Jahr 2013 putschte die ägyptische Armee mit Unterstützung der bürgerlichen Koalition Tamarod („Rebellen“) und stürzte den unpopulären islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi. Tamarod und seine Verbündeten feierten den Putsch auf den Straßen, der zur Errichtung der blutigen Diktatur von General Abdel Fattah Al-Sisi führte. Noch heute foltert Al-Sisi Zehntausende politische Gefangene in seinem riesigen Gefängnissystem.

Alles deutet darauf hin, dass Saïed ohne eine politische Intervention der Arbeiterklasse ebenfalls eine konterrevolutionäre Diktatur errichten wird.

Saïed kündigte drakonische Maßnahmen an, die ihm weitreichende Befugnisse verleihen. Er löste das Parlament auf, hob die parlamentarische Immunität aller Abgeordneten auf und kündigte an, dass er die Staatsanwaltschaft leiten werde, die Anklagen gegen Parlamentarier vorbereitet. Er kündigte außerdem an, er werde alle Minister persönlich ernennen und die Sitzungen des Ministerrats leiten. Saïed gab bekannt, er werde dann „Dekrete ausarbeiten, um die Rückkehr zum sozialen Frieden zu gewährleisten“.

Saïed ist ein Verfassungsrechtler, der das Ben-Ali-Regime bei der Arabischen Liga und in internationalen Menschenrechtsgremien vertreten hat. Er warnte vor weiteren Protesten gegen sein Regime und verbreitete im Fernsehen ein Statement, in dem er erklärte: „Ich warne alle, die daran denken, zu den Waffen zu greifen ... wer auch immer eine Kugel abschießt, die Streitkräfte werden mit Kugeln antworten.“

Angesichts der blutigen Bilanz der tunesischen Sicherheitskräfte während des Aufstands von 2011 ist dies eine eindeutige Drohung, mit Gewalt gegen Proteste der Arbeiterklasse wegen der Corona-Pandemie vorzugehen.

Saïeds Behauptung, er verhänge einen Ausnahmezustand gemäß Artikel 80 der Verfassung von 2014, die er mitverfasst hat, ist falsch. Tatsächlich heißt es in diesem Artikel: „Im Falle einer unmittelbaren Gefahr, die die territoriale Integrität, die Sicherheit oder die Unabhängigkeit der Nation bedroht und das ordnungsgemäße Funktionieren der Staatsgewalt verhindert, kann der Präsident der Republik nach Rücksprache mit dem Regierungschef und dem Präsidenten der Versammlung der Volksvertreter und nach Unterrichtung des Präsidenten des Verfassungsgerichts Maßnahmen zur Verhängung des Ausnahmezustands ergreifen.“

Rechtlich gesehen hätte sich Saïed mit Premierminister Hichem Mechichi und dem Präsidenten der Volksversammlung, Rached Ghannouchi, die beide Mitglieder der Ennahda sind, beraten müssen, um sich auf Artikel 80 zu berufen. Ghannouchi gab jedoch gestern eine öffentliche Erklärung ab, in der er bestritt, dass Saïed ihn konsultiert habe, und nannte Saïeds Vorgehen „verfassungswidrig“ und „illegal“. Ghannouchi sprach von „einem Putsch gegen die Revolution [von 2011] und die Verfassung“.

Dies entlarvt die reaktionäre Heuchelei der imperialistischen Mächte, die alle Erklärungen abgaben, in denen sie Saïeds Putsch deckten und ihn aufforderten, die Verfassung zu respektieren. Der Spiegel stellte fest: „Bisher kamen aus Berlin, Paris und Brüssel nur sehr allgemeine Statements, die dazu aufriefen, die Verfassung zu respektieren. Und es ist sehr zu hoffen, dass dort nicht heimlich die irrige Meinung verbreitet ist, die Lösung sei – zehn Jahre nach dem Sturz von Diktator Ben Ali – ein neuer starker Mann.“

Auch die Bürokratie des tunesischen Gewerkschaftsverbands UGTT, ein langjähriges Werkzeug des alten Ben-Ali-Regimes, unterstützte Saïed und forderte ihn auf, „die verfassungsrechtliche Legitimität aller in diesen schwierigen Zeiten getroffenen Maßnahmen zu garantieren“.

Saïed schützt jedoch nicht die Verfassung, sondern tritt sie mit Füßen. Die Gefahr einer Diktatur beschränkt sich aber nicht nur auf neokoloniale Länder in Afrika. Deutliche Hinweise in Richtung Diktatur sind auch die Putschdrohungen rechtsextremer französischer und spanischer Offiziere, die empört über den Widerstand der Bevölkerung gegen die Politik der „Herdenimmunität“ sind. Und in den USA fand am 6. Januar Trumps Putschversuch und Sturm auf das Kapitol in Washington statt.

Der Kampf gegen die Pandemie und die Gefahr einer Militärdiktatur erfordern eine internationale revolutionäre Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen den Imperialismus und für den Sozialismus. Die Pandemie und die Durchseuchungspolitik der herrschenden Klasse weltweit haben offengelegt, wie die Kapitalistenklasse in allen Ländern das Leben der Menschen missachtet. Der Einsatz von Gesundheitstechnologie und die Anwendung der sozialen Distanzierungsmaßnahmen, die zur Ausrottung des Virus notwendig sind, können nur erfolgreich sein, wenn die Arbeiterklasse weltweit die Macht übernimmt.

Die entscheidende Frage, die sich heute wie beim ersten Sturz Ben Alis vor mehr als zehn Jahren stellt, ist der Aufbau einer internationalen revolutionären Avantgarde, die die Arbeiterklasse in diesem Kampf anführen kann.

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