Noch bis am Freitagmorgen um 02:00 Uhr setzen Eisenbahnerinnen und Eisenbahner ihren bundesweiten Streik fort. Sie wehren sich dagegen, dass die Deutsche Bahn die Kosten der Corona-Pandemie auf das Bahnpersonal abwälzt.
Der Bahnvorstand weigert sich nicht nur, das Minimum an notwendigen Bedingungen zum Schutz des Personals vor Sars-CoV-2 zur Verfügung zu stellen, sondern nutzt die Pandemie, um Löhne, Schichtpläne und Errungenschaften frontal anzugreifen. Eine Nullrunde für das Jahr 2021 bedeutet in Anbetracht der aktuellen Inflation von 3,8 Prozent eine faktische Reallohnsenkung. Sogar Betriebsrenten werden angegriffen.
Was das alles für sie bedeutet, darüber sprachen streikende Lokführer und Zugbegleiter am Berliner Ostbahnhof und am Frankfurter Hauptbahnhof mit Korrespondenten der World Socialist Web Site.
In Frankfurt steht eine Gruppe Streikender schon seit halb sechs Uhr früh am Bahnhofsvorplatz. „Bisher haben wir sehr guten Zuspruch von Passanten bekommen“, berichtet Lokführer Mike. „Vielleicht bewirkt die Pandemie auch, dass viele Arbeiter es gut finden, dass endlich jemand Widerstand leistet.“ Er bestätigt wie die ganze Gruppe: „An Corona-Prämien haben wir alle hier noch keinen Pfennig gesehen.“
Ein junger Lokführer sagt: „Der Vorstand und die Medien versuchen, Stimmung gegen uns zu machen mit dem Argument: ‚Ihr habt ja trotz Corona noch euren sichern Job, warum seid ihr unzufrieden?‘ Aber wir mussten unter Corona-Bedingungen durcharbeiten, als andere sich im Homeoffice schützen konnten. Das war eine beschissene Zeit. Für uns Lokführer gab es am Bahnhof nicht mal was zu Essen. Wir hatten Kollegen mit Corona-Infektionen. Jetzt, nach all der Zeit, kommen sie mit dem Angebot an, wir könnten uns kostenlos impfen lassen – das ist lächerlich. Das haben wir alle schon privat gemacht.“
Ein GDL-Streikführer, Bernd Steindorf, Lokführer seit 40 und Eisenbahner seit 47 Jahren, bestätigt: „Wir sind die ganze Corona-Zeit über, 18 Monaten lang, komplett durchgefahren. Jetzt erklärt uns der Bahnvorstand: ‚Wir haben kein Geld mehr, ihr müsst den Gürtel enger schnallen.‘ Gleichzeitig kassieren dreieinhalbtausend Manager allein als Boni je 60.000 Euro. Soviel verdient ja keiner von uns.“
In Berlin berichteten Lokführer, die Bedingungen seien so hart, dass viele, die die Ausbildung als Lokführer anfangen, enttäuscht wieder hinschmeißen. „Wir hatten sogar Piloten unter uns, die wegen der Krise im Luftverkehr entlassen wurden und versuchten, sich als Quereinsteiger zum Lokführer ausbilden zu lassen. Die sind allesamt wieder gegangen, nachdem sie gesehen hatten, wie hart unsere Arbeitsbedingungen sind.“
Überall versichern die Streikenden, dass es ihnen nicht allein ums Geld gehe, sondern dass sie bessere, menschenwürdigere Bedingungen forderten. Das bestätigen in Frankfurt auch eine Zugführerin und eine Lokführerin, beide mit Namen Sabine.
Zugführerin Sabine, seit 16 Jahren bei der Bahn, sagt: „In jedem Unternehmen gibt es gute und schlechte Zeiten. Aber wenn’s schlecht geht, muss man zusammenhalten. Die Bedingungen müssten verbessert werden, nicht verschlechtert. Es geht auch um Anerkennung und Wertschätzung der Mitarbeiter, davon spüren wir nichts.“
„Wir arbeiten seit zwei Jahren im Ausnahmezustand durch“, ergänzt die Lokführerin, „und viele von uns hatten eine Infektion. Aber das zählt alles nichts.“ Ihre Kollegin erklärt: „Uns geht es nicht nur ums Geld, es geht auch um unsere Altersvorsorge – die Bahn will ja sogar unsre Betriebsrente angreifen! Es geht um unsere Gesundheit.“
Sie erläutert: „Unsre Arbeit ist das, was man ‚unregelmäßigen Wechseldienst‘ nennt. Die meisten kommen schon mit regelmäßiger Wechselschicht auf Dauer nicht klar, aber bei uns ist oft Früh-, Spät- und Nachtdienst in einer Woche. Und als Lokführerin musst du immer zu 100 Prozent aufmerksam sein! Keiner von uns kann mehr richtig schlafen.“
Die Zugführerin bestätigt: „Ich hätte zum Beispiel diese Woche mehrere Frühdienste, dann einen langen Tag und von Sonntag auf Montag Nachtschicht.“ – „Es hat alles seine Grenze“, kommentiert die Kollegin. Ein Kollege ergänzt: „Ein Privatleben zu organisieren, ist wirklich super-super-schwierig.“
Auch Bernd Steindorf bestätigt diese Angaben. „Als Lokführer arbeitest du im Wechseldienst, rund um die Uhr, auch Samstag-Sonntag und Feiertags.“ Die Arbeit sei in den letzten Jahren viel hektischer geworden: „Die Schichten sind heute auf die Minute getaktet: 10 Stunden 38 Minuten, oder 11 Stunden 27 Minuten. Darin ist eine Dreiviertelstunde Pause enthalten.“ Die Kollegen „staunen bei jedem Fahrplanwechsel über die Kreativität des Managements bei der Erstellung der Dienstpläne. Es geht wirklich um Minuten.“
Die Familie bleibe definitiv auf der Strecke, fährt er fort. „Vor etlichen Jahren hat man uns versprochen, 1000 Lokführer einzustellen, aber die haben wir bis heute nicht gesehen.“ In Deutschland hätten die Lokführer im europäischen Vergleich die längste Lebensarbeitszeit. „Wir sollen bis 67 arbeiten, aber das hält keiner durch!“
Alle bestätigen, dass eine Nullrunde beim Gehalt einfach unakzeptabel sei. Die Lokführer und Zugbegleiter werden trotz ihrer verantwortungsvollen und herausfordernden Tätigkeit extrem schlecht bezahlt, so dass es kaum zum Nötigsten reicht, zum Beispiel nicht dazu, in Frankfurt am Main eine Wohnung zu finanzieren.
Dazu sagt ein älterer Lokführer aus Sachsen: „Frankfurt ist mittlerweile keine Wohnstadt mehr, nur noch eine Stadt für Leute mit dicker Brieftasche. Wir liegen in der Gehaltsstudie für Deutschland im untersten Drittel, das ist, gemessen an der Verantwortung, die wir haben, eine Schande für so ein Land. Ich wohne eigentlich in Sachsen, habe aber in Frankfurt eine Unterkunft, ein ‚Appartement in Eisenhüttenstadt‘, auch Wellblechviertel genannt [gemeint ist eine Containerburg für Eisenbahner an der Frankfurter Galluswarte].
Ein Bahnarbeiter berichtet, dass er in Frankfurt in einer alten Eisenbahnersiedlung wohne: „Die war billig. Aber die SPD hat sie an die Vonovia verkauft.“
Lokführer Stefan, seit zwölf Jahren im Beruf, bestätigt: „In Frankfurt kriegst du keine bezahlbare Wohnung. Eine Zeitlang war viel die Rede von einer Ballungszulage für Frankfurt, und in den 1990er Jahren hat es so etwas wohl auch mal gegeben, aber heute nicht mehr. Wir können aber gar nicht ins Umland ziehen, denn wir haben manchmal Dienstbeginn um 02:40 oder Schichtende nachts um 03:10. Mit meinem Gehalt könnte ich wohl in Leipzig leben wie Gott in Frankreich, aber nicht in Frankfurt am Main.“
Dann erläutert Stefan, worum es vielen Lokführern beim Streik unter anderem geht, und dass die Bahn entschlossen sei, den Lokführern die Errungenschaften der letzten Streiks von 2008 und 2014–2015 wieder wegzunehmen.
Die Deutsche Bahn AG ist bisher das einzige Großunternehmen, welches seit April 2021 das Tarifeinheitsgesetz (TEG) anwendet. Das bedeutet, dass in jedem Betrieb nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft zur Anwendung kommt, die die meisten Mitglieder hat. Die GDL, die aktuell den Streik führt, hat sich aus dem Konflikt mit der Eisenbahner- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) entwickelt, die dem DGB angehört und aufs Engste mit der Deutschen Bahn kooperiert.
Stefan erklärt: „In der Bezahlung und Planbarkeit hat die GDL mit den Streiks, die wir geführt haben, viel erreicht. Vor dem letzten großen Streik kam man ja bei den Dienstplänen überhaupt nicht mehr hinterher, und wir wurden wahllos eingesetzt. Ich wusste damals am Tag A nicht, wo und was ich am Tag B und C arbeiten würde. Nach dem Streik wurde uns die ‚Jahres-Ruhetags-Planung‘ zugestanden, welche die gesetzlichen Ruhetage, die uns zustehen, auf ein Jahr voraus abbildet. Auch heute noch gibt es zwar Schichtänderungen, die uns nur 48 Stunden vorher mitgeteilt werden. Dennoch war das eine spürbare Verbesserung, die man uns jetzt wieder entziehen will.“
Er ist der Meinung, dass die Bahn das Auslaufen eines Vertrags „zum willkommenen Anlass nimmt, sich der ungeliebten GDL zu entledigen“.
Bernd Steindorf ergänzt: „Wir wollen unsern alten Tarifvertrag behalten, der war einfach bedeutend besser als das, was die Bahn mit ihrer Haus-und-Hof-Gewerkschaft [EVG] abkaspert. Auch die Absicherung ist bei uns besser.“ Stefan kommt zum Schluss: „Die Bahn will alle Errungenschaften, die wir uns erkämpft haben, kaputtmachen.“
Das bestätigt in der Diskussion auch Marianne Arens, Bundestagskandidatin der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) in Hessen: „Was ihr beschreibt, ist richtig, aber es ist kein Einzelfall. Nicht nur die Bahn, auch andere große Konzerne und die Regierung nutzen die Corona-Pandemie, um die Errungenschaften der Arbeiterklasse zu zerschlagen. Deshalb ist euer Streik so wichtig.“
Sie berichtete über die Arbeiter am Frankfurter Flughafen, wo die Bodenarbeiter von WISAG gegen ihre Entlassung sogar in einen Hungerstreik getreten waren. „Die Arbeiter sind aus Verdi ausgetreten, weil die Gewerkschaft sie nicht verteidigt hat. Auch die GDL ist nicht bereit, einen umfassenden Streik zu führen, und den notwendigen politischen Kampf gegen die Regierung aufzunehmen, die als Eigentümerin voll hinter dem Management und den sozialen Angriffen steht.“
Das zeigten schon die Forderungen der GDL, fuhr Arens fort. „Die GDL fordert bloß eine kleine Lohnerhöhung, die nicht einmal die Inflation ausgleichen wird. Sie akzeptiert den kapitalistischen Rahmen der Sozialpartnerschaft, das Tarifeinheitsgesetz und richtet verzweifelte Apelle an die Große Koalition und Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer.“
Um den Streik zum Erfolg zu führen, bräuchten die Arbeiter nun eine klare Strategie. „Ihr müsst euch in unabhängigen Aktionskomitees organisieren, die den Streik der GDL-Führung entziehen, ihn ausweiten und Unterstützung unter anderen Verkehrsarbeitern und der gesamten deutschen und internatioalen Arbeiterklasse organisieren.“
Vertreter der WSWS und SGP werden auch am Donnerstag wieder mit streikenden Arbeitern über diese Fragen sprechen. Kontaktiert uns hier, um über euren Arbeitskampf zu berichten, den Aufbau von Aktionskomitees voranzutreiben und die Notwendigkeit einer sozialistischen Perspektive zu diskutieren.