Nach dem Afghanistan-Debakel: Medien und Bundestagsparteien auf Kriegskurs

Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan arbeiten deutsche Medien und Parteien rund um die Uhr im Propagandamodus. Der schmähliche Zusammenbruch des afghanischen Regimes und seiner Armee, die die Bundesregierung und ihre westlichen Verbündeten mit mehr als 1000 Milliarden Dollar hochgepäppelt und bewaffnet haben, hat breiten Bevölkerungsschichten vor Augen geführt, dass sie zwanzig Jahre lang systematisch belogen wurden.

Es gibt für den Kollaps des Ghani-Regimes und seiner Armee nur eine plausible Erklärung: Es hatte – mit Ausnahme einer schmalen Ober- und Mittelschicht in Kabul – nicht die geringste soziale Unterstützung. Korrupt, kriminell und tief in den Drogenhandel verstrickt, diente es den imperialistischen Mächten als Marionette, um ihre Vorherrschaft in einer Region von herausragender geostrategischer Bedeutung zu festigen.

Sein Kollaps ist ein schwerer Schlag für den deutschen Militarismus, der den bisher längsten und blutigsten Kampfeinsatz der Bundeswehr stets damit begründet hat, dass deutsche Soldaten am Hindukusch für Freiheit, Demokratie, Frauenrechte und Sicherheit kämpften.

Die Kampagne, die jetzt eingesetzt hat, verfolgt zwei Ziele:

Erstens soll die Fiktion neu belebt werden, dass der Kriegseinsatz zivilisatorischen Zwecken diente, und nicht dem Aufbau eines brutalen Kolonialregimes, das im Luxus schwelgte, während drei Viertel der Bevölkerung in bitterer Armut lebten.

Und zweitens soll die ideologische Grundlage für eine beschleunigte militärische Aufrüstung Deutschlands und Europas geschaffen werden, indem der Rückzug der USA für das Debakel verantwortlich gemacht wird.

Claus Kleber, Caren Miosga und andere Fernsehmoderatoren haben ihre halbstündigen Nachrichtensendungen in Werbeveranstaltungen verwandelt, in denen sorgfältig ausgewählte Interviewpartner die Wohltaten des Besatzungsregimes den (befürchteten) Verbrechen der Taliban entgegenstellen.

Bundeswehrsoldaten verfolgen die Afghanistan-Debatte im Bundestag

Dieselbe Linie verfolgte der Bundestag, als er am Mittwoch über den Afghanistaneinsatz diskutierte und mit einer überwältigenden Mehrheit von 538 Stimmen (bei 9 Nein und 89 Enthaltungen) im Nachhinein den „Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan“ billigte.

Bundestagspräsident Schäuble eröffnete die Sitzung mit einer Hommage an die Soldaten, die in Afghanistan „die Saat der Freiheit gesät“ hätten. Die Verzweiflung der Menschen am Flughafen in Kabul zerreiße ihm das Herz und erschüttere das Selbstverständnis des Westens, fuhr Schäuble fort. „In wenigen Tagen brach zusammen, was wir im Bündnis über zwei Jahrzehnte mitaufgebaut haben. Es ist eine Tragödie für die Afghanen, die nun um ihr Leben fürchten – unter ihnen Frauen und Mädchen, die lernen durften, selbstbestimmt und selbstbewusst zu leben.“ Mit dem Anspruch, „Afghanistan nach unseren Vorstellungen und Werten umzugestalten“, seien „wir“ gescheitert.

Bundeskanzlerin Angela Merkel, die die Debatte mit einer Regierungserklärung eröffnete, behauptete, die „internationale Gemeinschaft“ habe es sich in Afghanistan zum Ziel gesetzt, „freiheitliche Strukturen aufzubauen, Sicherheitskräfte auszubilden, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu stärken, Menschenrechte – allen voran die Rechte von Mädchen und Frauen – zu verteidigen, Journalisten, Künstler und Unternehmer zu fördern und bürgerliche Freiheiten zu stärken“.

Ins selbe Horn stieß die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, die sich zum Sprachrohr der Soldaten aufschwang. Diese fühlten sich „moralisch verletzt“ von der Bundesregierung, die innenpolitische Erwägungen höher gewichtet habe als „Deutschlands außenpolitische Verantwortung“.

Auch Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch behauptete, „zwanzig Jahre Krieg gegen den Terror“ und „der Versuch, Demokratie zu exportieren“, seien gescheitert. Der Regierung warf er – wie die Grünen – vor, dass sie Zivilisten und lokale Hilfskräfte nicht früher evakuiert habe.

AfD-Fraktionschef Alexander Gauland hielt ebenfalls an der Fiktion fest, die Bundeswehr habe versucht, westliche Werte nach Afghanistan zu exportieren – und zog daraus rassistische Schlussfolgerungen: Das Scheitern des Einsatzes zeige, dass sich unterschiedliche Kulturen nicht versöhnen ließen. Statt, wie Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) einst verkündet habe, Deutschlands Sicherheit am Hindukusch zu verteidigen, werde nun der Hindukusch nach Deutschland geholt. Gauland wandte sich strikt dagegen, außer einigen wenigen Hilfskräften afghanische Flüchtlinge nach Deutschland zu lassen.

Der wirkliche Charakter des Afghanistankriegs

Nur ganz selten erscheinen in deutschen Medien Berichte, die ein Licht auf den wirklichen Charakter des Afghanistankriegs werfen. Eine solche Ausnahme ist die Titelstory der letzten Ausgabe des Spiegels. Verfasst von Spiegel-Reporter Christoph Reuter, der das Land seit zwanzig Jahren immer wieder bereiste, zeichnet er ein verheerendes Bild des Besatzungsregimes.

Er schildert, wie Hochzeitsgesellschaften von den Besatzern bombardiert und niedergemetzelt wurden. Oder wie der US-Sondergesandte Zalmay Khalilzad 2002 dafür sorgte, dass verschiedene Warlords in die Große Ratsversammlung aufgenommen wurden: „Milizführer, die vor den Taliban durch Angst und Schrecken geherrscht hatten. Männer wie der Tadschike Mohammed Fahim, dem Massaker und Entführungen vorgeworfen wurden, oder Usbekenführer Raschid Dostum, der viele Hundert gefangene Taliban ermorden und später seine Gegner mit Flaschen vergewaltigen ließ, wurden später Vizepräsidenten.“ Diese gingen als Erstes daran, „sich ausgiebig an ihren einstigen Feinden zu rächen und die neue Regierung als Beutegut zu plündern“.

Massaker von Kundus: Durch einen Bombenangriff auf Befehl eines Bundeswehroffiziers wurden am 4. September 2009 über 100 Zivilisten getötet

So geht es über mehrere Seiten weiter. Während die neuen Herrscher „Milliardensummen für Bauprojekte, Straßen, Kraftwerke“ in ihren Taschen versickern ließen und Gerichtsurteile kauften, blieben die Bauern „arm und wurden kujoniert von den Milizionären der neuen Herrscher, die einfielen, um Taliban zu jagen, aber dann die Mandelbäume abhackten und die Dörfer plünderten“.

Zur Rolle der Bundeswehr schreibt Reuter, sie habe anfangs noch von „der Ruhe in ihren Provinzen“ geschwärmt. „Als dann ein neuer Polizeichef ernannt wurde und sein Schreckensregime in Kunduz errichtete, Bauern und ihre Marktstände niederprügeln ließ, wenn sie nicht genug Schmiergeld abgaben, schauten die Soldaten tatenlos von ihrem Hügel über der Stadt aus zu. … So kamen die Taliban auch in Kunduz wieder, übernahmen Dorf um Dorf.“

Er schildert auch, wie Attentäter 2009 30 Uno-Mitarbeiter sowie amerikanische Sicherheitsbeamte ermordeten, die 2009 die Präsidentenwahl überwachen sollten, nachdem Präsident Hamid Karzai den ersten Wahlgang gefälscht hatte. Die Sache wurde vertuscht, Karzai im Amt bestätigt. Als später britische Elitesoldaten „auf ein riesiges Opiumlager in einem Gehöft bei Kandahar stießen, das dem Halbbruder des Präsidenten gehörte, wurde allen britischen Diplomaten ein Maulkorb verpasst“.

Reuter war schon 2007 zum Schluss gekommen, dass die Taliban wieder vorrückten, weil der „Groll gegen alles Fremde, gegen Amerikaner, Tadschiken, Polizisten … von echtem Unrecht“ genährt werde.

Röttgen plädiert für Aufrüstung

Diese politische Realität wird von den meisten Medien und den Bundestagsparteien unterdrückt, weil sie alle zukünftigen Kampfeinsätze der Bundeswehr diskreditiert. Stattessen versuchen sie die Verantwortung für ihre Niederlage in Afghanistan den afghanischen Sicherheitskräften oder dem plötzlichen Abzug der US-Truppen zuzuschieben.

So erklärte Bundeskanzlerin Merkel im Bundestag, man habe unterschätzt, „wie atemberaubend schnell die afghanischen Sicherheitskräfte nach dem Truppenabzug ihren Widerstand gegen die Taliban aufgeben würden“. Das habe sich „noch einmal beschleunigt in dem Moment, als die politische Führung Afghanistans aus dem Land geflohen war“.

Während sich Merkel mit offenen Angriffen auf die USA zurückhielt, wies ihnen der CDU-Abgeordnete Norbert Röttgen – ein möglicher zukünftiger Außenminister – umso heftiger die Schuld zu: „Dass der amerikanische Präsident diesen Einsatz zur Verhinderung der Taliban-Herrschaft ohne Not, ohne zwingenden Grund beendet hat, darin sehe ich das moralische und politische Versagen des Westens“, sagte er.

Röttgen bezeichnete es als „Katastrophe“, dass der Afghanistaneinsatz abgebrochen worden sei. Die Europäer hätten den USA folgen müssen, „weil es keine europäischen militärischen Fähigkeiten gibt, uns selber abzusichern“. Diese „europäische Ohnmacht“ gelte es zu beenden, dies sei „ein nationales Gebot“.

„Wir müssen die Voraussetzung schaffen, dass wir das, was wir außenpolitisch für richtig halten, auch verwirklichen können“, betonte Röttgen. „Nicht nur in den Fällen, in denen wir mit den USA übereinstimmen, sondern auch in den Dissensfällen. … Wir werden unsere Ziele nicht verwirklichen können, wenn wir nicht in der Lage sind, sie militärisch abzusichern.“

Ähnlich wie Röttgen äußerste sich auch Wolfgang Ischinger, der wohl einflussreichste deutsche Diplomat, in einem Beitrag für den Munich Security Report. „Das bisherige Geschäftsmodell Deutschlands ist sicherheitspolitisch und außenwirtschaftspolitisch obsolet geworden“, folgert er aus dem Debakel in Afghanistan.

„Wir stehen vor einer schicksalhaften Entscheidung: Entweder setzen wir uns für den ‚europäischen Imperativ‘ ein, für eine handlungsfähigere EU. Oder Deutschland verzichtet auf die Gestaltung des Wandels, belässt es beim Status quo, und stellt sich darauf ein, dass wir und unsere EU-Partner international bestenfalls als Hilfsbremser in einem System gesehen werden, das von anderen Mächten zu unserem Nachteil dominiert wird.“

Linkspartei schwenkt ins Lager des Militarismus

Mit diesen Schlussfolgerungen stimmen im Grundsatz alle Parteien überein. Nicht ein einziger Redner, am allerwenigsten von der Linkspartei oder den Grünen, widersprach Röttgen. Angesichts des Desasters in Afghanistan und der breiten Opposition gegen den Militarismus rücken alle im Bundestag vertretenen Parteien enger zusammen.

Das zeigt sich auch in der Entscheidung über die Entsendung von bis zu 600 deutschen Einsatzkräften nach Kabul, die der Bundestag nachträglich genehmigen musste, nachdem sie die Bundesregierung mit der Begründung, es sei „Not im Verzug“, bereits vor zwei Wochen losgeschickt hatte. Noch nie war sich der Bundestag so einig.

Von den Abgeordneten der Regierungsparteien CDU/CSU und SPD, der Grünen und der FDP stimmten alle Anwesenden geschlossen mit Ja. Die AfD war mit 26 Ja, 45 Enthaltungen und einem Nein gespalten.

Die Linke, die bisher sämtliche Auslandseinsätze der Bundeswehr abgelehnt hat, empfahl ihren Abgeordneten erstmals, sich der Stimme zu enthalten. 43 hielten sich daran, sieben stimmten mit Nein und fünf – Klaus Ernst, Matthias Höhn, Thomas Nord, Helin Evrim Sommer und Kersten Steinke – votierten für den Militäreinsatz.

Die Linke hat damit einen Schritt getan, von dem es kein Zurück gibt. Er erinnert an die Entscheidung der Grünen vor 23 Jahren, den Jugoslawienkrieg zu unterstützen. Danach hat sich die Partei zur eifrigsten Befürworterin deutscher Militäreinsätze entwickelt.

Bei den Grünen hatte es damals allerdings noch tumultartige Auseinandersetzungen auf einem Parteitag gegeben, einschließlich eines Farbbeutelwurfs ans Ohr von Außenminister Joschka Fischer. Die Linke hat diesen Schritt geräuschlos und routinemäßig vollzogen. Sie ist – wie die WSWS immer erklärt hat – längst integraler Teil des deutschen Militarismus.

Loading