Sondierungspapier der Ampel: Eine Kampfansage an die Arbeiterklasse

Die Konturen einer zukünftigen Ampel-Koalition zeichnen sich ab. Unter den Parolen Modernisierung, Innovation und Klimaschutz planen SPD, Grüne und FDP „eine umfassende Erneuerung unseres Landes“, an deren Ende von den Rechten und Errungenschaften, die sich die Arbeiterklasse in den Nachkriegsjahrzehnten erkämpft hat, nichts übrig bleiben wird.

Die Parteivorsitzenden der Grünen, SPD und FDP sowie Scholz stellen das Sondierungspapier vor

Am gestrigen Freitag haben die Vorsitzenden der drei Parteien sowie der designierte Kanzlerkandidat Olaf Scholz (SPD) ein zwölfseitiges Papier vorgestellt, das die Ergebnisse der Sondierungsgespräche der vergangenen Tage zusammenfasst. „Wir sind davon überzeugt, dass wir einen ambitionierten und tragfähigen Koalitionsvertrag schließen können,“ heißt es darin. Nach der Zustimmung der zuständigen Parteigremien am Wochenende, die als reine Formsache gilt, sollen am Montag die eigentlichen Koalitionsverhandlungen beginnen.

Das Sondierungspapier besteht größtenteils aus unverbindlichen Phrasen, nebulösen Bekenntnissen, Auslassungen und schlichten Lügen. So, wenn sich die Koalitionäre ganz am Schluss zur „humanitären Verantwortung“ in der Flüchtlingspolitik bekennen. Zur Corona-Pandemie und ihren 95.000 Todesopfern in Deutschland findet sich – außer einem Lippenbekenntnis zu „mehr Pflegepersonal“ – keine Silbe. Auch die rechtsextremen Terrornetzwerke und die AfD werden nicht erwähnt.

Trotz seiner Phrasenhaftigkeit schlägt das Sondierungspapier einige Pflöcke ein. Liest man es im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realität, ist es eine Kampfansage an die Arbeiterklasse, die die Agenda 2010 der letzten rot-grünen Bundesregierung von Gerhard Schröder weit in den Schatten stellt.

Am deutlichsten zeigt sich das im Kapitel über „nachhaltige Staatsfinanzen“. Das Papier bekennt sich ausdrücklich zur Einhaltung der Schuldenbremse, die eine Neuverschuldung von Ländern und Kommunen strikt verbietet und die des Bundes eng beschränkt. Nur die Milliardensummen, die die EZB jeden Monat in die Finanzmärkte pumpt, um die Aktienkurse nach oben zu treiben, sind davon nicht betroffen.

Gleichzeitig lehnt das Papier jede Besteuerung der gewaltigen Vermögen und Einkommen ab, die während der Pandemie zusammengerafft wurden. „Wir werden keine neuen Substanzsteuern einführen und Steuern wie zum Beispiel die Einkommen-, Unternehmens- oder Mehrwertsteuer nicht erhöhen,“ heißt es darin.

Was dies bedeutet, lässt sich leicht ausrechnen. Auf den Bundeshaushalt kommen gewaltige zusätzliche Ausgaben zu – die Rückzahlung der hohen Schulden, mit denen die „Corona-Hilfen“ an die Großkonzerne finanziert wurden; zahlreiche neue Geldgeschenke an Unternehmen, die als „Zukunftsinvestitionen“ deklariert werden; und eine massive Steigerung der Rüstungsausgaben. Ohne Neuverschuldung oder höhere Besteuerung der Reichen lässt sich das nur durch drastische Einschnitte bei den Sozialausgaben finanzieren.

Hier bleibt das Sondierungspapier äußerst vage und beschränkt sich auf Andeutungen. So soll die bisherige Grundsicherung (Hartz IV) durch ein „Bürgergeld“ abgelöst werden, das „die Würde des und der Einzelnen achtet, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigt“ und die „Rückkehr in den Arbeitsmarkt in den Mittelpunkt“ stellt. Mit ähnlichen Worten war vor zwanzig Jahren die Ablösung der Sozialhilfe durch Hartz IV begründet worden, das sich dann als Hebel für Zwangsarbeit und die massenhafte Einführung von Niedriglöhnen entpuppte.

In der Gesundheitspolitik will die Ampel zwar für mehr Pflegepersonal sorgen, gleichzeitig aber das System der Fallpauschalen zur Krankenhausfinanzierung „weiterentwickeln“, das maßgeblich zur Misere in Krankenhäusern und Pflege beigetragen hat. Die Gesetzliche Rentenversicherung soll von der bisherigen Umlagefinanzierung teilweise auf Anlagen am Kapitalmarkt umgestellt werden, was der Finanzindustrie zusätzliche Einnahmen verschafft und die Renten weiter unterhöhlt.

Auch der Klimaschutz, der im Papier weit vorne steht, wird ganz in den Dienst der Profitanhäufung gestellt. In der Bewältigung der Klimakrise lägen „große Chancen für unser Land und den Industriestandort Deutschland“, heißt es im Sondierungspapier. „Neue Geschäftsmodelle und Technologien können klimaneutralen Wohlstand und gute Arbeit schaffen.“

Das Papier verspricht den Energiekonzernen, „alle Hürden und Hemmnisse aus dem Weg zu räumen“, die den beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren Energien behindern. Deutschland soll „zum Leitmarkt für Elektromobilität“ werden. Im Interesse der Autolobby verzichtet die Ampel auch auf die Einführung eines generellen Tempolimits auf den Autobahnen.

Zentrale Achse des Papiers bildet die Umgestaltung der Industrie und Arbeitswelt. Unter dem zynischen Titel „Respekt und Chancen in der modernen Arbeitswelt“ wird einer vollständigen Flexibilität das Wort geredet, die Arbeiter zwingt, dem Unternehmen rund um die Uhr zur Verfügung zu stehen.

„Flexibilität ermöglicht, dass sich ein kreatives Klima für Innovationen entfalten kann,“ heißt es im Papier. Unter anderem sollen „flexible Arbeitszeitmodelle“ gefördert und „Möglichkeiten zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit“ geschaffen werden.

Dabei zählen die Koalitionäre fest auf die Unterstützung der Gewerkschaften: „Eine historisch gewachsene Sozialpartnerschaft und die darauf gründende Fähigkeit zum Kompromiss sind zentrale Voraussetzungen dafür, dass dieser Veränderungsprozess gelingen kann. … Die Mitbestimmung werden wir weiterentwickeln.“

Während die Arbeiter die „Transformation“ durch unbegrenzte „Flexibilität“ unterstützen sollen, verspricht die Ampel den Konzernen großzügige Hilfen. „Die Industrie steht vor einer weitreichenden Transformation, dabei werden wir sie unterstützen,“ heißt es in dem Papier. Die „Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland“ soll erhöht, „Innovation“ gefördert und „neues Zutrauen in Gründergeist, Innovation und Unternehmertum“ geschaffen werden.

Vertreter der Wirtschaft reagierten begeistert. „Insgesamt ein gutes Paket“, twitterte Ifo-Präsident Clemens Fuest. Er verwies auf das Festhalten an der Schuldenbremse, den Verzicht auf Steuererhöhungen sowie die Zusage der Förderung von Investitionen. Der Chefvolkswirt der ING-Bank Carsten Brzeski sprach von einem „verheißungsvollen Start“, er sei „definitiv ein Schritt in die richtige Richtung“.

SPD, Grüne und FDP sind sich bewusst, dass ihr Regierungsprogramm auf heftigen Widerstand stoßen wird. Und während sie sich der Unterstützung der Gewerkschaften sicher sind, sind sie sich weniger sicher, ob die Gewerkschaften diesen Widerstand unter Kontrolle halten können. Deshalb haben sie „eine Generalrevision der Sicherheitsarchitektur“ vereinbart.

„Wir wollen unser sicheres Land noch sicherer machen,“ heißt es in dem Papier. „Jede und jeder in Deutschland soll sich sicher fühlen – ob auf der Straße, zu Hause oder im Netz. Dafür kommt es vor allem auf mehr präventive Sicherheit an. Dazu brauchen wir motivierte, gut ausgebildete und ausgestattete Polizistinnen und Polizisten. Ihre Präsenz und Bürgernähe macht sie für uns zu einem unerlässlichen Partner. … Wir wollen dafür sorgen, dass sie die verdiente Anerkennung und den Respekt für ihre wichtige Arbeit erfahren.“

Das letzte Kapitel des Sondierungspapiers trägt den Titel „Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt“. Es tritt für eine europäische Großmachtpolitik unter deutscher Führung sowie eine beschleunigte militärische Aufrüstung ein und knüpft direkt an die entsprechende Politik der Großen Koalition an.

„Wir wollen die Europäische Union stärken, um Deutschland zu stärken,“ heißt es dort. „Wir werden deshalb deutsche Interessen im Lichte der europäischen Interessen definieren.“ Die Partnerschaft mit Frankreich und Polen und die „Zusammenarbeit der nationalen europäischen Armeen“ sollen gestärkt werden. Das transatlantische Bündnis sei „dabei zentraler Pfeiler und die NATO unverzichtbarerer Teil unserer Sicherheit“.

Die deutsche Außenpolitik soll „künftig aus einem Guss agieren und ressortübergreifend gemeinsame Strategien erarbeiten“. Dazu soll „eine Nationale Sicherheitsstrategie“ vorgelegt werden.

Auch die Zensur des Internets soll europaweit angegangen werden: „Wir befähigen die liberalen Demokratien Europas dazu, Desinformation, Fake-News- Kampagnen, Propaganda sowie Manipulationen aus dem In- und Ausland besser abwehren zu können.“ Und die berüchtigte Austeritätspolitik des früheren Finanzministers Wolfgang Schäuble soll neu belebt werden: „Wir wollen dafür Sorge tragen, dass Europa auf der Grundlage solider und nachhaltiger Staatsfinanzen gemeinsam wirtschaftlich stark aus der Pandemie herauskommt.“

Das Sondierungspapier wird nicht nur von Vertretern der Wirtschaft, sondern auch von den meisten Medien positiv bewertet. Die meisten Vertreter der herrschenden Klasse halten eine Ampel-Koalition derzeit für am besten geeignet, die Angriffe auf die Arbeiterklasse und die militärische Aufrüstung durchsetzen.

Die FDP und die Grünen, die sich früher in gegenseitiger Abneigung begegneten, sind plötzlich engste Freunde. Beide stützen sich auf begüterte Mittelschichten, die auf die wachsende Wut der Arbeiterklasse mit einem Rechtsruck reagieren. Die SPD ist eng mit den Gewerkschaften verbunden und Expertin für Sozialabbau und andere soziale Angriffe.

Auch die Linke ist indirekt in die Ampel eingebunden. Es ist bezeichnend, dass sich die SPD sowohl in Berlin als auch Mecklenburg-Vorpommern, wo zeitgleich mit dem Bundestag die Landesparlamente neu gewählt wurden, für ein Regierungsbündnis mit der Linkspartei entschieden hat. In Berlin setzt sie die Koalition mit Linkspartei und Grünen fort, obwohl die SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey eine Ampel vorgezogen hätte. In Mecklenburg-Vorpommern, wo sie 15 Jahre mit der CDU regierte, bildet sie ein Zweierbündnis mit der Linken.

Wie zuvor die Große Koalition wird auch die Ampel im Kern das Programm der rechtsextremen AfD in die Tat umsetzen, die nach dem Rückzug ihres langjährigen Vorsitzenden Jörg Meuthen immer stärker unter den Einfluss ihres offen faschistischen Flügels gerät. Bezeichnenderweise wird im Sondierungspapier der „Linksextremismus“ als „Form der Menschenfeindlichkeit“ denunziert und auf eine Stufe mit „Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus“ gestellt.

Die Arbeiterklasse wird unweigerlich in Konflikt mit Scholz‘ Ampel geraten. Diese Auseinandersetzung muss politisch vorbereitet werden. Darin besteht die Bedeutung des Wahlkampfs der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP), die als einzige Partei für ein internationales, sozialistisches Programm eintritt.

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