Die Gewerkschaft Verdi hat die einmonatigen Streiks bei den Berliner Landeskliniken Charité und Vivantes abgewürgt. Trotzdem brechen die Auseinandersetzungen im Gesundheitswesen nicht ab. Miserable Arbeitsbedingungen und schlechte Löhne führen zu immer neuen Streiks und Protesten.
Verdi beendete den Arbeitskampf der Pflegekräfte bei der Charité am 7. Oktober und bei Vivantes am 12. Oktober. In beiden Fällen hat die Gewerkschaft nur ein vage formuliertes Eckpunktpapier vereinbart, auf dessen Grundlage in den nächsten Wochen ein Tarifvertrag ausgehandelt werden soll.
Den Streik bei den Tochtergesellschaften von Vivantes, die für Reinigung, Verpflegung und andere Dienstleistungen zuständig sind, brach Verdi den Streik am 14. Oktober ohne Vereinbarung ab. An diesem Tag wurden unter Vermittlung des ehemaligen brandenburgischen SPD-Ministerpräsidenten Matthias Platzeck die Verhandlungen wieder aufgenommen.
Verdi hat die Streiks in Berlin auch deshalb abgebrochen, weil sie neuaufflammende Kämpfe isolieren und verhindern will, dass sich ein Flächenbrand gegen die unhaltbaren Zustände an den Kliniken entwickelt, der die Verhandlungen über eine Ampel-Koalition im Bund empfindlich stören könnte. SPD, Grüne und FDP bereiten unter dem Schlagwort „Modernisierung“ eine neue Runde sozialer Angriffe vor, die die Agenda 2010 der Regierung Schröder in den Schatten stellen. Verdi unterhält sowohl zur SPD wie zu den Grünen enge Beziehungen.
Vom 21. bis zum 27. Oktober sind in den Fachkliniken des Asklepios-Konzerns in Brandenburg rund 1300 Beschäftigte zum Streik aufgerufen. Die Pflegekräfte in Brandenburg an der Havel, Teupitz und Lübben erhalten bis zu 20 Prozent weniger Lohn und müssen im Jahr elf Tage mehr arbeiten als beispielsweise die Beschäftigten in Hamburg.
Seit April verhandelt Verdi mit dem privaten Klinikbetreiber für die insgesamt 1450 Beschäftigten. Dabei hat sich Asklepios, das zu den drei größten Klinikkonzernen des Landes gehört, kategorisch geweigert, die Löhne auch nur ansatzweise auf das Niveau des Tarifvertrages für den Öffentlichen Dienst (TVÖD) anzuheben. Die Kliniken weigerten sich auch, für die Streiktage eine Notdienstvereinbarung zu unterzeichnen.
Da die Vergütung von Leistungen psychiatrischer Krankenhäuser bundesweit einheitlich erfolgt, verweigert Asklepios die Erhöhung der Löhne aus reinen Profitinteressen. Am 5. Oktober sprachen sich die Beschäftigten in einer Urabstimmung mit fast 91 Prozent für einen unbefristeten Streik aus, nachdem es seit Juni bereits an zehn Tagen zu Warnstreiks gekommen war. Zum Zeitpunkt der Urabstimmung befanden sich die Beschäftigten von Charité und Vivantes noch im Streik für bessere Arbeitsbedingungen.
Verdi sah sich nur aufgrund des starken Drucks der Belegschaften in den Kliniken gezwungen, den Streik auszurufen. Und trotz des eindeutigen Votums für einen unbefristeten Streik begrenzt ihn Verdi auf sechs Tage.
„Wir hatten eine sehr hohe Beteiligung an der Urabstimmung und ein deutliches Ergebnis. Der Arbeitgeber hat aber die Zeit seit Veröffentlichung des Urabstimmungsergebnisses nicht für ein verhandlungsfähiges Angebot genutzt,“ sagte Ralf Franke, Streikleiter und Verhandlungsführer auf Seiten der Gewerkschaft. „Wir wollen auf dem Verhandlungsweg ein gutes und faires Ergebnis erzielen. Aber weil der Arbeitgeber wiederum nicht reagiert hat, bleibt nur der Streik übrig.“
Die 150 Ärzte an den Kliniken wurden bewusst nicht einbezogen. Dies geschah mit der hanebüchenen Begründung, dass für sie neben dem gekündigten Tarifvertrag noch ein weiterer Tarifvertrag mit der Ärztegewerkschaft Marburger Bund bestehe. Tatsächlich versucht Verdi die ärztlichen und nicht-ärztlichen Berufsgruppen strikt zu trennen, obwohl beide vor denselben Problemen stehen.
Die schlechten Bedingungen für die Beschäftigten in den Asklepios-Kliniken sind seit langem bekannt, und Verdi trägt dafür eine Mitverantwortung. Der Berliner Gewerkschaftssekretär Uwe Ostendorff ist stellvertretender Vorsitzender und einer von mehreren Gewerkschaftern im Aufsichtsrat von Asklepios, der die Geschäftsleitung überwacht und den Kurs des Unternehmens bestimmt.
Verdi hat für diesen Arbeitskampf die Lehren aus dem Streik an den Berliner Landeskliniken gezogen. Dort rechnete Verdi zu Beginn, wenn überhaupt, nur mit kurzen, überschaubaren Streikaktionen. Tatsächlich erfuhr der Streik aber eine riesige Beteiligung und große Unterstützung. Sämtliche Kliniken und Campus wurden bestreikt. Da an den Vivantes-Kliniken neben den Pflegekräften auch die Beschäftigten der Tochterunternehmen, die für Reinigung, Catering, Labore usw. verantwortlich sind, in den Ausstand traten, geriet das Klinikmanagement, hinter dem die Berliner Regierungsparteien stehen, enorm unter Druck. Verdi reagierte darauf, indem sie den Streik schrittweise abwürgte.
Die Eckpunkte, auf die sich Verdi und der Vivantes-Konzern geeinigt haben, lehnen sich an die Vereinbarung mit der Charité an. Laut Verdi wurden Besetzungsregeln für bettenführende Stationen vereinbart – also wie viele Pflegekräfte pro Schicht im Dienst sein müssen. Nähere Informationen teilte Verdi dazu allerdings nicht mit. Auch hier wurden so genannte Belastungspunkte als Eckpunkt vereinbart. Eine Pflegekraft, die eine Schicht lang auf einer unterbesetzten Station gearbeitet hat, erhält demnach einen „Vivantes-Freizeitpunkt“.
Für neun angesammelte Punkte gibt es eine Schicht Freizeitausgleich oder alternativ 150 Euro. 2023 soll dies ab sieben Punkten gelten. Für die Klinik bleibt es aber weiterhin höchst rentabel, unterbesetzte Schichten zu planen, zumal die Anzahl der möglichen freien Tage – wie an der Charité – gedeckelt wird.
Weitere Vereinbarungen, die getroffen wurden und zum 1. Januar nächsten Jahres in einen Tarifvertrag fließen sollen, sind weitgehend kosmetischer Natur. So werden für Auszubildende Zeiten definiert, in denen künftig eine Praxisanleitung vorgesehen ist, und sie erhalten ein Notebook.
Bei den Tochterunternehmen von Vivantes, wo unter der Moderation des SPD-Politikers Matthias Platzeck verhandelt wird, stehen die Zeichen ebenfalls auf Ausverkauf. Die Berliner Krankenhausgesellschaft (BKG) warnte am Freitag davor, auf die Forderungen der Beschäftigten einzugehen, die gegen Hungerlöhne streiken. Würden die Beschäftigten der Servicegesellschaften der landeseigenen Kliniken nach TVÖD bezahlt, könnte das den „Wettbewerb“ zu Lasten anderer Krankenhäuser verzerren, so die BKG.
Wie an der Charité soll der Tarifvertrag auch bei Vivantes eine Laufzeit von drei Jahren haben und die Beschäftigten in dieser Zeit ruhigstellen. Doch nicht nur in Brandenburg, auch in anderen Bundesländern kommt es zu weiteren Streiks und protesten..
Jüngstes Beispiel ist das Uniklinikum Marburg. Hier haben auf einer chirurgischen Station 15 von 16 Pflegekräften gleichzeitig gekündigt. Grund dafür ist die massive Überlastung. Laut Betriebsrat könnte dies nur die erste Welle gewesen sein, da die Situation auf anderen Stationen ähnlich ist.
Die Zahl der Überlastungsanzeigen durch das Personal habe sich in manchen Monaten „nahezu verdreifacht“, erklärte der Betriebsrat. Mitarbeiter seien „stellenweise so fertig“ gewesen, dass sie „weinend zum Dienst kamen – oder zu Hause völlig erschöpft nichts mehr tun konnten“.
Vertreter aller etablierten Parteien, die für diese Zustände verantwortlich sind, vergießen zwar – wie zuletzt im Berliner Wahlkampf – Krokodilstränen über die vollständige Überlastung der Pflegekräfte und die daraus resultierende mangelhafte Patientenversorgung, sind aber gleichzeitig fest entschlossen, Krankenhäuser und andere Einrichtungen im Gesundheitswesen nach reinen Profitinteressen zu betreiben.
Im Sondierungspapier der Ampel-Koalition wird dies deutlich. Zwar sind in dem Papier, das zu großen Teilen aus Phrasen besteht, nur 18 Zeilen dem Thema Gesundheitspolitik gewidmet, doch es ist abzusehen welche Richtung die SPD, Grüne und FDP einschlagen wollen.
In der Gesundheitspolitik solle künftig die „Vorsorge und Prävention zum Leitprinzip“ gemacht werden, heißt es in dem Papier. Schon vorherige Regierungen führten unter solchen Schlagworten radikale Kürzungen bei der Versorgung ein. In der stationären Versorgung soll das System der diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRG) „weiterentwickelt“ werden. Damit stellen sich die Parteien ausdrücklich hinter ein System, dass die gegenwärtige Misere verschuldet hat.