Kurz vor der dritten Verhandlungsrunde am Wochenende in Potsdam haben in dieser Woche erneut mehrere Tausend Beschäftigte des öffentlichen Dienstes die Arbeit niedergelegt. Seit zwanzig Monaten halten Pflegekräfte, Pädagogen und weitere öffentliche Bedienstete das soziale Leben trotz Corona-Pandemie am Laufen. Sie sind mehr als bereit, den Kampf für bessere, sicherere Arbeitsbedingungen aufzunehmen. Allerdings sind die Gewerkschaften gerade dabei, diesen Kampf übel auszuverkaufen.
Inmitten der explosiven vierten Corona-Welle sind die Finanzminister der Länder entschlossen, die Staatskassen auf Kosten der Beschäftigten von den Pandemie-Schulden zu entlasten. Auf die gewerkschaftlichen Forderungen nach 5 Prozent mehr Lohn, mindestens aber 150 Euro (im Pflegedienst 300 Euro) ist die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) bis heute nicht eingegangen. Die Verhandlungsführer, der niedersächsische Finanzminister Reinhold Hilbers (CDU) und der Hamburger Finanzsenator Andreas Dressel (SPD), haben drei Tage vor der dritten Verhandlungsrunde noch immer kein Angebot vorgelegt.
Die neue Ampel-Regierung aus SPD, FDP und Grünen hat die Richtung klar vorgegeben: Die mörderische „Profite-vor-Leben“-Politik wird fortgesetzt und noch verschärft. Mehr als 100.000 Corona-Patienten sind bisher in Deutschland gestorben, aber die Ampel hat die „epidemische Notlage nationaler Tragweite“ beendet. Sie hat sich gegen ein Lockern der Schuldenbremse und gegen höhere Steuern für die Reichen entschieden und will darüber hinaus viele Milliarden für die Bundeswehr bereitstellen. Für das Personal des öffentlichen Dienstes bleibt dabei kein Cent übrig, ganz zu schweigen von der Finanzierung einer Corona-sicheren Kursänderung.
Gegen diese aggressive Regierungspolitik ist es nicht möglich, auf Gewerkschaften wie Verdi oder die GEW zu bauen, deren Funktionäre selbst den Ampel-Parteien angehören. Sie werden den nötigen Kampf gegen die Regierungen nicht führen. Dazu müssen Arbeiter und Angestellte im öffentlichen Dienst unabhängige Aktionskomitees aufbauen, die sich auf einer sozialistischen Grundlage mit anderen Arbeiterschichten und der internationalen Arbeiterklasse verbinden.
Weder die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, noch die Lehrergewerkschaft GEW, der Beamtenbund dbb, die IG Bau oder gar die Gewerkschaft der Polizei werden Arbeiterinteressen prinzipiell verteidigen. Sie führen die Tarifrunde weiterhin als starres Ritual, um „Dampf abzulassen“ und den sozialen Widerstand aufzufangen. Dies hat sich in diesen Tagen erneut an allen Warnstreiks und Protestaktionen erwiesen.
In Düsseldorf versprach Verdi-Chef Frank Werneke vor mehreren tausend Streikenden, die sich vor dem nordrhein-westfälischen Landtag versammelt hatten: „Wir werden keinen Corona-Notabschluss akzeptieren!“ Damit verriet er gleichzeitig, worüber hinter verschlossener Tür längst geredet wird: über einen „Corona-Notabschluss“.
Der Presse sagte Werneke, dass es eine Einigung nur dann geben werde, „wenn das Gesundheitspersonal spürbare finanzielle Verbesserungen erhält“. Auch diese Formulierung riecht schon verdächtig nach Ausverkauf. Was sind „spürbare finanzielle Verbesserungen“? Die geforderten 5 Prozent Lohnerhöhung wären angesichts der Inflation von nahezu 6 Prozent eine Reallohnsenkung. Den Minimalbetrag von 300 Euro monatlich mehr für Pflegekräfte haben die Länderchefs von vorneherein als „unrealistisch“ vom Tisch gewischt. Dennoch sagte Reinhold Hilbers, Verhandlungsführer der Arbeitgeberseite, dem Handelsblatt, er sehe „auf beiden Seiten den Willen zu einer Einigung“.
In Berlin praktizierten die Gewerkschaften die Methode „Trotta, cavallino“ (Lauf, Pferdchen, lauf). Sie ließen ihre Mitglieder über drei Kilometer weit durch den Tiergarten laufen, wobei die Lautsprecheransagen mit den Tarifforderungen außer für einige verschreckte Vögel und Eichhörnchen nur für die Demonstrierenden selbst zu hören waren. Jedem Streikenden war klar, dass die Forderung der Gewerkschaft nach 5 Prozent Lohnerhöhung – wenn sie denn erfüllt würde, was nicht der Fall sein wird – nicht einmal die aktuelle Inflation abdecken würde.
Eine Gruppe von Kita-Erzieherinnen unterhielt sich über ihre Erfahrungen mit der GEW-Tarifpolitik. „Der vorhergehende Tarifvertrag war ein Witz“, sagte Katrin (38). „Mit den drei Jahren Laufzeit wurden wir ruhiggestellt, und die Lohnerhöhung war kaum ein Ausgleich für die Preissteigerungen.“ Ihre Kollegin Stefanie (35) ergänzte: „Wenn man die heutige Inflationsrate von etwa 5 Prozent bedenkt, sollten wir eigentlich mit einer Forderung von 15 Prozent beginnen, damit wir wirklichen Verhandlungsspielraum haben.“
Julia (41) erklärte: „Die Verdi-Verhandlungsführer sind ja über Parteikontakte mit den Senatsparteien befreundet. Da kann es keine harten Verhandlungen geben. Und sie loben sich dann für den Abschluss, den sie erreicht haben. Beim letzten Tarifabschluss wurde gesagt, das sei der ‚bestmögliche Abschluss‘, aber wenn man hinschaut, ist es gar kein guter Abschluss. Weihnachtsgelder wurden ‚eingefroren‘, die wurden nicht erhöht, sondern gesenkt.“
Und Melanie ergänzte: „Der letzte Abschluss von 8 Prozent verteilte sich über drei Jahre. So zerrinnt er zwischen den Fingern. Aber die Medien haben das als große Lohnsteigerung verkauft.“
Außer Pädagogen und Beschäftigten im Sozialdienst waren in Berlin unter den etwa 2.000 Teilnehmern auch Forstarbeiter, Bibliothekare und Angestellte verschiedener Bezirksämter. Daniel (51), ein Brandenburger Forstarbeiter, der mit der Gewerkschaft IG Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau) nach Berlin gekommen war, sagte der World Socialist Web Site: „Ich halte die Forderung von 5 Prozent angesichts der Inflationsrate für viel zu gering. Wir brauchen auch viel stärkere Streiks, und zwar gleichzeitig in allen Städten.“
Christian (35), der in einer Bibliothek arbeitet, erklärte: „Wir brauchen definitiv mehr Personal. Alle Kollegen sind überlastet, gerade unter Corona-Bedingungen, wo es immer wieder unterschiedliche Regelungen gibt.“ Er räumte ein, dass Verdi in den letzten Jahren „immer auch neoliberale Politik zugelassen“ habe. Er bezeichnete die Vertretung der Arbeiterinteressen durch Verdi als „eher mäßig“ und schloss auch den Gedanken, eine unabhängige Organisation neu aufzubauen, nicht aus: Bisher habe er davon abgesehen, weil er fürchte, dass dies „unheimlich viele Ressourcen binden würde“.
Michael (28) berichtete über die vorsintflutliche Ausstattung in den öffentlichen Ämtern. „Wir arbeiten im Bezirksamt mit einer digitalen Ausstattung, die dem Anfang der 1990er Jahre entspricht. Keine ordentliche Drucktechnik, EDV oder Telefonanlage.“ Das sei alles bei der täglichen Arbeit sehr belastend und zeige sich auch im durchschnittlichen Krankenstand: „Im Bezirksamt haben die Mitarbeiter im Durchschnitt 45 Krankheitstage pro Jahr!“
In der Pandemie habe es sehr lange gedauert, bis der Arbeitgeber die Möglichkeit für die Arbeit im Home Office geschaffen habe. „Erst im März dieses Jahres haben wir digitale Endgeräte zur Verfügung gestellt bekommen, sodass wir wenigstens rudimentär ein wenig von zu Hause arbeiten können.“ Sein Kollege Stefan (29) ergänzte: „Ich habe erst seit ein paar Tagen die Möglichkeit, im Home Office zu arbeiten.“
Alexander (47), der in der Poststelle des Finanzamts arbeitet, kritisierte die Forderungen von Verdi mit den Worten: „Ich wäre eher für eine Lohnsteigerung mit einem Fixbetrag, der den unteren Lohngruppen eine wirkliche Verbesserung einbringt. Denn 5 Prozent von wenig Basislohn bleibt auch wenig. Die Lohnschere sollte nicht so weit auseinandergehen. Dabei sprechen wir gar noch nicht von den Unsummen, die sich Manager heute in die Tasche stecken. Eigentlich müsste man höhere Forderungen stellen als die 5 Prozent.“
Melanie, Erzieherin an einer Vorschule in Berlin-Kreuzberg, kritisierte, dass die Gewerkschaften nichts unternommen hatten, als ihre Schule vor zwei Jahren zurückgestuft wurde. „Früher waren wir als Brennpunktschule gelistet, und vor zwei Jahren wurden wir zurückgestuft. Damit wurde auch unsere Gehaltsstufe zurückgestuft, und die Lehrkräfte erhielten weniger Gehalt.“
Sie habe sich schriftlich bei Verdi und der GEW, bei der sie selbst Mitglied ist, beschwert, aber: „Die Gewerkschaften unternahmen nichts. An unseren Problemen hat sich seither nichts zum Guten geändert. Zwar sind wir immer noch ein Brennpunkt, aber jetzt wird von uns erwartet, dass wir unsere Arbeit mit weniger Personal verrichten. Jetzt zum Beispiel sind etwa 30 Prozent der Mitarbeiter krankgemeldet – infolgedessen muss ich zusätzliche Stunden übernehmen, ohne dafür bezahlt zu werden!“
An den Gewerkschaften kritisierte Melanie: „Gestern hat die GEW gestreikt und heute Verdi. Das ist eine Politik des Teilens und Herrschens unter Bedingungen, in denen wir dringend unsere Kräfte bündeln müssen.“
Auch im Ruhrgebiet finden seit Wochen immer neue Warnstreiks statt. Die Gewerkschaften tun alles, um die Wut der Beschäftigten in isolierten, kleinen Alibiaktionen verpuffen zu lassen.
Vor wenigen Tagen erreichte uns der Bericht über den Warnstreik der GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) am Donnerstag, 18. November. Die GEW rief an diesem Tag Pädagogen in Essen, Düsseldorf, Hagen und Duisburg zu Aktionen auf. Die Streikversammlung von Duisburg-Rheinhausen fand auf einem geschlossenen, von außen nicht einsehbaren Vorort-Schulhof statt, wodurch sich der völlig falsche Eindruck aufdrängte, als seien die Streikenden von der übrigen Gesellschaft isoliert. Die Mehrheit der beamteten Lehrkräfte war wie immer vom Warnstreik – und damit praktisch auch von der Teilnahme an der Versammlung – ausgeschlossen.
Unbemerkt von der Duisburger Öffentlichkeit nahmen in diesem Bezirk mit etwa einer Million Einwohnern und tausenden von Pädagogen maximal 150 Streikende teil. Gerade mal zwei Schulen blieben vollständig geschlossen.
An diesem Tag, dem 18.11., an dem die Covid-19-Infektionen den neuen Rekord von bundesweit fast 65.000 erreichten, erhoben die GEW-Sprecher, darunter die „Tarifexpertin“ Gabi Wegener, keine einzige konkrete Forderung bezüglich der Corona-Pandemie. Die DGB-Vorsitzende der Region Niederrhein, Angelika Wagner, lobte einige mitstreikende Gewerkschaften, besonders die Polizeigewerkschaft, und vergaß gleichzeitig, den Kampf der Pflegekräfte an den Unikliniken zu erwähnen.
Die Unzufriedenheit der Streikenden mit einer solchen Alibi-Politik war mit Händen zu greifen. Mehrere Teilnehmer der Kundgebung wiesen im Gespräch wütend darauf hin, dass die nordrhein-westfälische Landesregierung darauf besteht, dass an den Schulen auf das Maskentragen ganz verzichtet wird. Dies sei für die Pädagogen, die sehr viele ganz engagierte Coronaschutzmaßnahmen ergriffen hätten, ein Schlag ins Gesicht und „wirklich bedenklich“ (so eine Sonderschullehrerin).
Auch eine Krankenschwester und sozialpädagogische Fachkraft bezeichnete die Entscheidung als „völlig unverantwortlich“. Sie berichtete, schon bisher sei das Maskentragen an den Schulen nicht ernst genommen worden, und die Masken der Schüler seien dem ständigen Auf- und Absetzen während des Tages zwischen den Räumen und dem Hof einfach nicht gewachsen, so dass die Befestigungen einreißen würden und der Schutz verloren gehe, während die Inzidenzen bei den Grundschülern ins Astronomische steigen.
Eine Lehrerin berichtete über Klassenstärken von 27 bis 32 Kindern, die zusammen in einen Raum gepfercht werden. „Da fühle ich mich nicht besonders sicher.“ Die Lehrkräfte würden „im Stich gelassen“.
Eine ältere Grundschullehrerin wies vor dem Hintergrund der Long-Covid-Gefahr für Lehrer und Schüler darauf hin, dass die angestellten Pädagogen – anders als die verbeamteten KollegInnen – im Krankheitsfall nach einigen Monaten nur ein verkürztes Krankengeld und keine Gehaltsfortzahlung erwarten können, was sie als eine „wahnsinnige Ungerechtigkeit“ bezeichnete. Auch berichtete sie, dass die seit Monaten angekündigten Luftfilter an ihrer Grundschule zwar geliefert, aber nicht montiert worden seien, weil die Stadt keine passenden Aufhängungen dazu geliefert habe.
Mehrere Lehrkräfte bestätigten, dass ihre schlechte finanzielle und medizinische Absicherung insgesamt zu einem großen Lehrermangel geführt haben. Beispielsweise werde „am unteren Ende“ der Verträge der muttersprachliche Unterricht für Migranten seit vielen Jahren von Arbeitskräften mit befristeten Verträgen gegeben. „Die erhalten jedoch einen städtischen Tarifvertrag, und für den wird hier gar nicht zum Streik aufgerufen“ – ein weiteres Beispiel dafür, dass auch die GEW in ihren Tarifrunden die Belegschaften spaltet, demobilisiert und ihre Kämpfe ins Leere laufen lässt.