Perspektive

Bidens Botschaft an die Wall Street: Profite werden vom Massensterben nicht beeinträchtigt

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt vor „sehr hohen“ Risiken, die von der Omikron-Variante von Covid-19 ausgehen. Gleichzeitig trat US-Präsident Joe Biden am Montag vor die Fernsehkameras mit der Ansage, dass die US-Regierung jegliche Maßnahmen zum Schutz von Menschenleben als Reaktion auf die neue Gefahr ablehnt.

US-Präsident Joe Bidens Rede zu der Covid-19-Variante namens Omikron; im Hintergrund Dr. Anthony Fauci, Direktor des National Institute of Allergy and Infectious Diseases. Roosevelt Room des Weißen Hauses, 29. November 2021 (AP Photo/Evan Vucci)

Biden erklärte, dass seine Regierung keine „Shutdowns oder Lockdowns“ durchführen werde, und versprach, „unser Land wieder zu öffnen ... unsere Unternehmen wieder zu öffnen“ und ... „unsere Schulen wieder zu öffnen“.

Am Freitag verzeichneten die US-Finanzmärkte den größten eintägigen Abverkauf des Jahres 2021. Geschürt wurde dieser durch die Befürchtung, dass die Omikron-Variante die Regierungen zu Notmaßnahmen zwingen könnte, denn möglicherweise sind gegen diese Variante die verfügbaren Impfstoffe und bestehende Immunität wenig wirksam.

„Der Freitag hat uns bestätigt, dass Covid immer noch das Narrativ der Investoren ist“, sagte Greg Bassuk, CEO von AXS Investments, gegenüber NBC News. „Bis vor ein oder zwei Monaten sahen wir eine große Stärke auf dem Markt.“ Die Befürchtung der Wall Street – und der Finanzoligarchie – lautet, dass die Omikron-Variante den Spekulationsrausch unterbrechen könnte.

Doch Biden überbrachte der Wall Street eine klare Botschaft: Es gibt kein Ausmaß an Massensterben, das die US-Regierung dazu zwingen würde, die Shoppingsaison zu den Festtagen durch lebensrettende Maßnahmen wie Abstandsregeln und Zugangsbeschränkungen zu unterbrechen.

Der Markt erholte sich sofort. „Der S&P stieg am Montag um bis zu 1,5 Prozent“, so NBC News, „da die Investoren durch die Äußerungen von Präsident Joe Biden beruhigt zu sein schienen“.

Seine Ablehnung von durchgreifenden Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit beruht nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auf den wirtschaftlichen Interessen der herrschenden Kapitalistenklasse. Die Arbeitsplätze müssen offen bleiben, damit die Arbeiter weiterhin Mehrwert und Profit für die Kapitalisten produzieren können. Die Schulen müssen geöffnet bleiben, damit die Eltern bei der Arbeit bleiben können. Betriebe und Schulen sind die Haupttreiber für die Verbreitung von Covid-19 in der gesamten Bevölkerung, wobei die Arbeiter und ihre Familien am stärksten betroffen sind.

Mit anderen Worten: Das Leben der amerikanischen Bevölkerung ist für die Finanzoligarchie völlig bedeutungslos.

Biden rechtfertigte seine Erklärung mit dem Hinweis auf die Verfügbarkeit von Impfstoffen, obgleich deren Wirksamkeit durch die Omikron-Variante untergraben werden könnte. „Wenn die Menschen geimpft sind und Masken tragen“, sagte Biden, „gibt es keinen Grund für einen Lockdown“.

Indem er die Impfung den Maßnahmen der öffentlichen Gesundheit gegenüberstellt, untergräbt Biden faktisch die Impfung. Wie die technische Leiterin der WHO, Maria Van Kerkhove, immer und immer wieder betont, muss das Mantra lauten: „Impfstoffe UND, nicht nur Impfstoffe. ... Wir können die Kontrolle über dieses Virus durch eine Kombination von Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit, der Gesellschaft und der Medizin zurückgewinnen.“

Bidens Erklärung, dass Impfstoffe die Öffentlichkeit ohne andere Maßnahmen ausreichend schützen, läuft auch ins Leere, wenn man sich die Impfquote eines Großteils der Weltbevölkerung anschaut. Hier kann nur von kläglichem Versagen gesprochen werden, vor allem mit Blick auf Afrika, wo die neue Variante offenbar ihren Ursprung hat und wo nur 7 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sind.

Darüber hinaus ist ein erheblicher Teil der amerikanischen Bevölkerung nach wie vor nicht geimpft. Dies geht auf das reaktionäre Wirken der faschistischen Rechten zurück, dem die Demokratische Partei nichts entgegenzusetzen hat, und auf das Fehlen einer systematischen Kampagne zur Aufklärung der Bevölkerung.

Biden, der als Präsident den vermeidbaren Tod von 392.000 Amerikanern zu verantworten hat, hielt seine Rede vor einem weihnachtlich geschmückten Weißen Haus und sagte, es sei „großartig zu erleben, wie viele Familien an Thanksgiving zusammenkommen“.

Die Rede strotzte nur so vor Lügen. Nach einem Monat, in dem 75.000 Amerikaner an Covid-19 gestorben sind, sagte Biden: „Wir sehen, dass die Zahl der Todesfälle durch Delta zurückgeht.“ Am Montag gab der US-Bundesstaat Michigan bekannt, dass die Covid-19-Hospitalisierungsrate dort den höchsten Stand aller Zeiten erreicht hatte. Das Militär wurde um Unterstützung gebeten, um dem Pflegepersonal in den Krankenhäusern unter die Arme zu greifen. Auf nationaler Ebene ist der allmähliche Rückgang der Fälle zum Stillstand gekommen und die Kurve neuer Fälle steigt wieder an.

Biden fügte hinzu, dass die neue Covid-19-Variante „kein Grund zur Panik“ sei. Unwillentlich erinnert er damit an Trumps Aussage im Jahr 2020, dass er die Bedrohung durch Covid-19 bewusst „herunterspielt“, um „keine Panik auszulösen“.

Der derzeitige US-Präsident zeichnete ein absurdes Bild vom aktuellen Stand der Pandemie und sagte: „Wir befinden uns zu Beginn des Monats Dezember an einem ganz anderen Punkt als letztes Jahr zur Adventszeit.“

Den schlimmsten Vergleich zwischen heute und vor einem Jahr erwähnte er nicht. Ende November 2020 waren rund 287.000 Amerikaner gestorben, und die Gesamtzahl der registrierten Infektionen lag bei 14,3 Millionen. Zum gleichen Zeitpunkt im Jahr 2021 ist die Zahl der Todesfälle auf fast 800.000 und die Zahl der Infektionen auf fast 50 Millionen angestiegen.

An diesen Festtagen wird es weitaus mehr leere Plätze am Familientisch geben. Einer von 35 Amerikanern im Alter von 85 Jahren oder älter ist bereits an Covid-19 gestorben.

Die US-Propagandamaschine greift Bidens Bemühungen, die von der neuen Variante ausgehende Gefahr herunterzuspielen, sofort auf. In einem Artikel nach dem anderen wird die Öffentlichkeit aufgefordert, nicht in „Panik“ zu verfallen. Ein Artikel von David Leonhardt in der New York Times mag als typisches Beispiel gelten:

„Um es klar zu sagen: Es besteht echte Unsicherheit hinsichtlich Omikron“, schreibt Leonhardt. „Vielleicht wird sich die Variante als schlimmer erweisen, als die ersten Anzeichen vermuten lassen, und schwerere Krankheiten verursachen als Delta. Aber bei jeder beunruhigenden neuen Variante das Schlimmste anzunehmen, ist keine wissenschaftlich fundierte, rationale Reaktion.“

Ein Grundprinzip des öffentlichen Gesundheitswesens ist das „Vorsorgeprinzip“, das besagt, dass bei einer unbekannten Bedrohung maximale Maßnahmen ergriffen werden müssen, bis vollständige Klarheit herrscht. Leonhardt spricht sich für das Gegenteil aus. Auf der Grundlage unbegründeter Behauptungen, die Omikron-Variante sei möglicherweise nicht „besorgniserregend“, plädiert er dafür, nichts zum Schutz der Bevölkerung zu unternehmen – bis es zu spät ist.

Die Delta-Variante tötet jeden Tag 1.000 Amerikaner und Tausende mehr auf der ganzen Welt. Unter diesen Umständen versucht die Times, ihre Leser davon zu überzeugen, dass eine „wissenschaftlich fundierte, rationale Reaktion“ darin besteht, die Warnungen der WHO vor den „sehr hohen“ Risiken der neuen Variante zu ignorieren.

Es besteht kein Zweifel, dass Biden seinen Sieg bei den Wahlen 2020 dem Umstand verdankte, dass die Masse der Bevölkerung Trumps Umgang mit der Pandemie ablehnte. Sie verabscheute Trumps Weigerung, Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zu ergreifen ebenso wie seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Massensterben und seine offene Missachtung der öffentlichen Gesundheit. Doch Bidens heutige Politik unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von Trumps Politik vor einem Jahr.

In einem Tweet am 1. November 2020 erklärte Trump, dass es „KEINE LOCKDOWNS“ geben werde, als die Covid-19-Fälle in den USA auf einen neuen Höchststand kletterten. „Biden will unser Land in den LOCKDOWN schicken, vielleicht für Jahre. Crazy!“ twitterte Trump.

Heute ist es Biden, der „keine Lockdowns“ verspricht und sich wie Trump mit der angeblich boomenden Wirtschaft brüstet. Am Montag lobte er im Weißen Haus „den Rekord bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze, das Rekordwirtschaftswachstum dieses Landes“.

Biden hat sich die von der US-Finanzaristokratie geforderte mörderische Politik zu eigen gemacht. In seiner Rede am Montag machte er deutlich, dass es keine Schwelle bei der Zahl der Toten gibt, die die Wall Street und ihre Regierung in Washington dazu bringen wird, Maßnahmen zu akzeptieren, die das Profitstreben beeinträchtigen.

Die Maßnahmen, die notwendig sind, um die Pandemie zu stoppen, können nur durch eine Massenbewegung der Arbeiterklasse umgesetzt werden, wenn diese die Privilegien des kapitalistischen Systems nicht akzeptiert.

Die Interessen der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten und international stehen der Politik der beiden großen Parteien und der Kapitalistenklasse, der sie dienen, diametral entgegen. Die arbeitende Bevölkerung muss die Umsetzung höchstwichtiger Sofortmaßnahmen fordern, um die Pandemie zu stoppen, und zwar auf der Grundlage einer Strategie der Eliminierung und Ausrottung des Virus.

Diese Forderungen bieten der internationalen Arbeiterklasse einen Weg nach vorn gegen die kapitalistische Perspektive der Masseninfektion und des Massensterbens. Um die Ursachen der Pandemiekatastrophe zu untersuchen und die unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse zu entwickeln, haben die World Socialist Web Site und das Internationale Komitee der Vierten Internationale globale Ermittlungen zur Covid-19-Pandemie durch durch die Arbeiterklasse initiiert.

Die WSWS hat bereits damit begonnen, Zeugenaussagen aus der arbeitenden Bevölkerung und von Wissenschaftlern entgegenzunehmen. Wir fordern Werktätige und Studierende auf, die Arbeit dieser Untersuchung zu unterstützen, sich daran zu beteiligen und den Kampf für den Sozialismus aufzunehmen.

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