Baerbock und Scholz in Paris und Warschau: Werben für europäische Großmachtpolitik

Die neue deutsche Regierung ließ keine Zeit verstreichen, um ihre außenpolitischen Prioritäten zu zeigen.

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) flog an ihrem ersten Tag im Amt nach Paris zum französischen Amtskollegen Jean-Yves Le Drian. Von dort fuhr sie weiter nach Brüssel, wo sie sich mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg traf. Einen Tag später, am Freitag, besuchte sie den polnischen Außenminister in Warschau.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) folgte der Außenministerin auf dem Fuß. Am Freitag besuchte er Paris und Brüssel, am Sonntag wird er in Warschau vom polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki empfangen.

Außenministerin Annalena Baerbock und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg

Die Treffen fanden vor dem Hintergrund wachsender Kriegsgefahr und einer Corona-Pandemie statt, die völlig außer Kontrolle geraten ist. Allein in Europa sind wegen der verantwortungslosen Politik der Regierungen bisher mehr als 1,5 Millionen Menschen an Covid-19 gestorben. Doch die Gespräche wurden allein von der Frage beherrscht, wie Europa seine eigenen Macht- und Wirtschaftsinteressen im eskalierenden Konflikt der USA gegen China und Russland am besten voranbringen kann.

Die Ampel-Koalition betrachtet eine starke Europäische Union als Voraussetzung für eine aggressive, militaristische deutsche Außenpolitik. Das erfordert eine enge Zusammenarbeit mit Frankreich, der nach dem Austritt Großbritanniens einzigen Nuklearmacht und zweitstärksten Wirtschaftsmacht der EU. Der Koalitionsvertrag bekennt sich zu einer „handlungsfähigeren und strategisch souveräneren Europäischen Union“. Das soll mit den Mitteln der „Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs- und Handelspolitik“ erreicht werden.

Diese Botschaft brachte Baerbock auf ihrer Reise mit. Sie freue sich sehr, gleich am ersten Tag über Paris nach Brüssel gekommen zu sein, „um ein deutliches Zeichen dafür zu setzen, dass eine starke deutsche Außenpolitik ein starkes Europa braucht“, sagte sie bei ihrer Ankunft in der belgischen Hauptstadt.

Auch Scholz sagte nach seinem Treffen mit Präsident Emmanuel Macron: „Es geht darum, wie wir Europa stark machen können, die europäische Souveränität in all den Dimensionen, die dazugehören. Da geht es um ökonomische Fragen, um Sicherheitsfragen und Fragen der Außenpolitik.“

So sieht es auch die französische Regierung. Macron hatte schon 2017 in einer Grundsatzrede an der Universität Sorbonne für die Idee einer „europäischen Souveränität“ geworben. Auf dem Gebiet der Verteidigung müsse das „Ziel darin bestehen, dass Europa, ergänzend zur NATO, selbständig handlungsfähig ist,“ forderte er damals.

In Berlin stieß dies anfangs auf Zurückhaltung. Man fürchtete, außenpolitisch und militärisch zu sehr in Abhängigkeit von Frankreich zu geraten. Unter dem Druck des Konflikts mit US-Präsident Donald Trump arbeiteten Präsident Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel aber schließlich eng zusammen.

Der Regierungswechsel in Berlin wird nun in Paris als Chance betrachtet, die „strategische Souveränität“ Europas schneller zu erreichen. „Die Beziehungen zwischen Emmanuel Macron und Angela Merkel hatten einen schlechten Start und kamen nie richtig in Fahrt,“ kommentiert die Finanzzeitung Les Echos. „Mit dem Amtsantritt von Olaf Scholz und der Sehnsucht seiner Dreierkoalition nach Erneuerung könnte sich dies nun ändern.“

Macron selbst präsentierte einen Tag vor dem Treffen mit Scholz auf einer Pressekonferenz sein Programm für die französische EU-Ratspräsidentschaft, die am 1. Januar beginnt. Das Ziel der Präsidentschaft bestehe darin, „dass wir von einem Europa der Zusammenarbeit innerhalb unserer Grenzen zu einem mächtigen Europa in der Welt übergehen müssen, das vollständig souverän, frei in seinen Entscheidungen und Herr seines Schicksals ist,“ erklärte er.

Macron plant neue militärische Interventionen, Handelskriegsmaßnahmen und die gezielte Förderung bestimmter Industriezweige, um Europa gegen seine internationalen Rivalen zu stärken. Er sprach sich für ein „erneutes Engagement“ der EU auf dem Balkan, eine Vertiefung der Beziehungen zu Afrika und eine verstärkte Abschottung der europäischen Grenzen gegen Migranten durch die Entsendung von Sicherheitskräften aus anderen Mitgliedstaaten aus.

Macron will den Stabilitätspakt lockern, um den großen zukünftigen Investitionsbedarf in der Verteidigungs- und Klimapolitik zu finanzieren. In bestimmten Bereichen – Wasserstoff, Batterien, Raumfahrt, Halbleiter, Clouds, Kultur und Gesundheit – will er durch staatliche Förderung „europäische Champions“ schaffen. Europa soll die Standards von morgen setzen und vor allem im Digitalbereich zur globalen Spitze aufschließen.

„Der französische Präsident kritisierte die starke Abhängigkeit von Ländern wie China und münzte das Streben nach ‚europäischer Souveränität‘ somit nicht nur auf die Außen- und Sicherheitspolitik, sondern auch auf die Wirtschaftspolitik,“ schreibt die FAZ.

Ähnliche Ziele verfolgt die Ampel-Koalition. Sie zählt Energieversorgung, Gesundheit, Rohstoffimporte und digitale Technologie zu den „wichtigen strategischen Bereichen“.

Eine zentrale Rolle spielt die Stärkung der Rüstungsindustrie. Frankreich ist nach den USA und Russland der drittgrößte, Deutschland der viertgrößte Rüstungsexporteur der Welt. Bereits die Regierung Merkel hatte mit Frankreich gigantische gemeinsame Rüstungsprogramme vereinbart. So kostet allein das Future Combat Air System (FCAS) zwischen 100 und 500 Milliarden Euro.

Die gegenseitigen Bekenntnisse zu Freundschaft und Zusammenarbeit bedeuten allerdings nicht, dass die Konflikte zwischen Deutschland und Frankreich verschwinden. Der Kampf um politische und wirtschaftliche Weltmacht verschärft vielmehr die Rivalitäten zwischen den früheren Erzfeinden.

Besonders deutlich zeigt dies die Frage des Stabilitätspakts, der der Staatsverschuldung der EU-Mitglieder enge Grenzen setzt. Macron erklärt ihn für „obsolet“, während sich der Koalitionsvertrag der Ampel ausdrücklich dazu bekennt. Vor allem die FDP, deren Chef Christian Lindner neuer deutscher Finanzminister ist, pocht auf seine Einhaltung. Aber auch Bundeskanzler Scholz, der bisherige Finanzminister, gilt in dieser Hinsicht als Falke.

Die Frage ist explosiv, da die Staatsverschuldung in der Euro-Zone so hoch ist wie noch nie. Während der Stabilitätspakt eine Gesamtverschuldung von maximal 60 Prozent des BIP erlaubt, beträgt der Schuldenstand in Deutschland mehr als 70 und in Frankreich fast 120 Prozent. Auch die Neuverschuldung liegt 2021 mit 5 Prozent in Deutschland und 8 Prozent in Frankreich weit über den zulässigen 3 Prozent.

Bei rasch steigenden Militärausgaben und riesigen Geldspritzen in die Wirtschaft lassen sich diese Schulden nur durch massive Kürzungen bei den Sozialausgaben abbauen, die – zusammen mit der wachsenden Opposition gegen die Profite-vor-Leben-Politik in der Pandemie – explosive Klassenauseinandersetzung auslösen werden.

Macron will die Interessen der EU viel stärker als bisher gegenüber China und Russland zur Geltung bringen, ohne sich dabei den USA unterzuordnen. Baerbock vertritt ebenfalls einen aggressiven Kurs gegen Russland und China. Sie drohte Russland, es „würde einen hohen politischen und vor allem wirtschaftlichen Preis für eine erneute Verletzung der ukrainischen Staatlichkeit zahlen“, und kündigte ein „Zusammenspiel von Dialog und Härte“ gegenüber China an.

Bundeskanzler Scholz, der das letzte Wort in der deutschen Außenpolitik hat, hält sich bisher bedeckt. In der SPD gibt es einen starken Flügel, der den Konfrontationskurs mit Russland aus wirtschaftlichen Gründen für falsch hält.

Auch in vielen anderen Fragen gibt es offene oder unterschwellige Konflikte zwischen Berlin und Paris. So setzt Frankreich in der Klimapolitik auf einen massiven Ausbau der Atomkraft und verlangt, dass die EU sie als „grüne Energie“ einstuft. In Deutschland, das den völligen Ausstieg aus der Nuklearenergie beschlossen hat, würde dies zu innenpolitischen Konflikten führen.

Die polnische Regierung bereitete Baerbock einen kühlen Empfang. Außenminister Zbigniew Rau würdigte zwar, dass sie sofort zum Antrittsbesuch nach Polen gekommen war, machte ihr dann aber zahlreich Vorhaltungen und forderte Wiedergutmachung für die Schäden des Zweiten Weltkriegs.

Polen werde niemals einverstanden sein mit einer Welt, die in Einflusssphären von Großmächten aufgeteilt sei, sagte Rau in Anspielung auf die deutsch-französische Dominanz in der EU. Der Chef der nationalistischen Regierungspartei PiS, Jaroslaw Kaczynski, soll Berlin sogar vorgeworfen haben, Europa in ein von Deutschland dominiertes „Viertes Reich“ verwandeln zu wollen.

Baerbock, die im Wahlkampf noch heftig gegen die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch die polnische Regierung gewettert hatte, gab sich diplomatisch. Es gebe hier große „Diskrepanzen“, die im Gespräch aufgelöst werden sollten, sagte sie. Die EU führt derzeit wegen der systematischen Gleichschaltung der Justiz ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen.

Warschau und Berlin arbeiten trotz der öffentlich ausgetragenen Konflikte eng zusammen. Für Deutschland spielt das mit 38 Millionen Einwohnern größte osteuropäische Land eine wichtige Rolle, um seinen Einfluss in ganz Osteuropa, dem traditionellen Expansionsgebiet des deutschen Imperialismus, auszubauen. Polen dient deutschen und europäischen Konzernen als Niedriglohnland, in dem sie gut qualifizierte Arbeiter zu einem Bruchteil der westeuropäischen Löhne ausbeuten können. So betrugen die Arbeitskosten pro geleistete Stunde 2019 in Polen 10,40 Euro, in Deutschland dagegen 35,90 Euro.

Für die polnische Regierung wiederum bilden EU-Fördermittel und Einkünfte von Arbeitern, die in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern arbeiten, eine wichtige Einkommensquelle. Deshalb hat die PiS die EU-Mitgliedschaft bei aller Rhetorik gegen Brüssel und Berlin nie ernsthaft in Frage gestellt, das Schüren von Nationalismus dient ihr vor allem dazu, rechte Kräfte im Innern zu mobilisieren.

In außenpolitischen Fragen steht Baerbock der PiS sogar nahe. Sie teilt ihre Angriffe auf Russland und will wie die PiS die Inbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 2 verhindern.

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