Triage-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Eine zweischneidige Entscheidung

Der Bundestag ist verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass im Fall einer Triage niemand wegen einer Behinderung benachteiligt wird. Das hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gestern entschieden. Der Erste Senat gab damit der Klage von neun Menschen mit Behinderungen statt, die eine Benachteiligung befürchten, wenn es nicht mehr genügend intensivmedizinische Kapazitäten zur Behandlung aller akuten Covid-19-Fälle gibt.

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe

Bisher gibt es keine gesetzliche Grundlage, die regelt, wer in einem solchem Fall behandelt wird und wer nicht. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hat zwar im Frühjahr 2020 eine „Leitlinie zur Priorisierung und Triage bei akuter Ressourcenknappheit“ erlassen und diese in jüngster Zeit aktualisiert. Doch die DIVI ist eine private Vereinigung und ihre Leitlinie hat keine rechtliche Bindung.

Außerdem fürchten die Kläger, dass gerade die DIVI-Leitlinie, die sich vor allem an der Erfolgsaussicht einer Behandlung orientiert, die Grundlage für ihre Diskriminierung schafft. Denn die Erfolgsaussicht eines Behinderten auf Genesung wird oft – und nicht selten fälschlicherweise – geringer eingeschätzt, als die eines nicht Behinderten.

Nancy Poser, eine Richterin aus Trier, die wegen einer angeborenen Muskelerkrankung im Rollstuhl sitzt und zu den neun Klagenden gehört, hatte der taz vor einem Jahr gesagt, sie habe „zwei Probleme mit den Triage-Leitlinien: Zum einen halte ich sie nicht unbedingt für tauglich, um die Erfolgsaussichten der Behandlung zu bewerten. Vor allem aber halte ich diesen Weg – survival of the fittest, der Stärkere soll leben – für falsch.“

Es werde „gerne das Beispiel von dem 90-jährigen Rentner mit Vorerkrankungen und der 25-jährigen Mutter gebracht,“ so Poser. „Aber so eindeutig ist das in der Praxis kaum: Da kommen der 30-jährige Turner und die 40-jährige Rollstuhlfahrerin. Und dann habe ich einen Unterschied von vielleicht 60 und 40 Prozent Überlebenswahrscheinlichkeit. Wo fängt das an, wo hört das auf?“

Das Bundesverfassungsgericht hat sich dieser Sichtweise weitgehend angeschlossen. Das Risiko, behinderte Menschen bei medizinischen Entscheidungen zu benachteiligen, werde durch die fachlichen Empfehlungen der DIVI nicht beseitigt, erklärt es in seinem Beschluss. „Die Empfehlungen sind rechtlich nicht verbindlich.“ Zudem sei „nicht ausgeschlossen, dass die Empfehlungen in ihrer derzeitigen Fassung zu einem Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen werden können.“

Wie der Bundestag die Diskriminierung von Behinderten im Triage-Fall gesetzlich verhindern soll, ließ das Bundesverfassungsgericht weitgehend offen: „Dem Gesetzgeber steht hier grundsätzlich ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.“

Das Urteil stieß bei Sozialverbänden, Ärztevertretern, politischen Parteien und Kirchen auf Zustimmung.

Der Leiter der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Bernhard Franke, nannte es ein „sehr wichtiges Signal“ für Menschen mit Behinderung. Der Chef der Weltärztekammer, Frank Montgomery, begrüßte, dass der Gesetzgeber nun „Leitplanken“ definieren müsse, an denen sich Ärzte orientieren könnten.

Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, kommentierte: „Es kann und darf nicht sein, dass Medizinerinnen und Mediziner in einer so wichtigen Frage allein gelassen werden, dafür braucht es eine gesetzliche Grundlage.“ Und der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, meinte: „Jetzt kann sich der Bundestag nicht mehr drücken“. Bislang habe er Entscheidungen zur Priorisierung im Gesundheitssystem immer etwa an Fachverbände wegdelegiert.

SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese nannte den Beschluss einen „klaren Auftrag an uns als Gesetzgeber“, dem „wir jetzt zügig, aber mit der gebotenen Sorgfalt nachkommen“ sollten. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann twitterte: „Es ist an uns als Gesetzgeber, Vorkehrungen zu treffen. Jetzt wird im Bundestag eine sorgfältige Prüfung und Erörterung nötig sein, wie dies gestaltet werden kann.“

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) kündigte an, die Bundesregierung werde zügig einen Entwurf zum Schutz von Menschen mit Behinderung im Falle einer Triage-Situation vorlegen. Es bedürfe „klarer Regeln, die Menschen mit Handicaps Schutz vor Diskriminierung bieten“. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) begrüßte das Urteil mit den Worten: „Menschen mit Behinderung bedürfen mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat. Erst recht im Falle einer Triage.“

Tatsächlich ist das Urteil ein zweischneidiges Schwert.

Dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf, wie es im Grundgesetz steht und wie es das Bundesverfassungsgericht nun bekräftigt hat, ist richtig und verteidigungswert. Doch die bloße Vorstellung, Triage lasse sich mit diesem Diskriminierungsverbot sowie dem Schutz der Menschenwürde und dem Recht auf Leben und Gesundheit vereinbaren, die ebenfalls im Grundgesetz verankert sind, ist absurd.

Triage bedeutet per se Diskriminierung. Es wird darüber entschieden, wer medizinisch behandelt und wer ohne Behandlung in den Tod geschickt wird.

Der Begriff stammt ursprünglich aus der Militärmedizin. Auf den Schlachtfeldern des 19. und 20. Jahrhunderts, auf denen Soldaten zu Zehntausenden ins gegnerische Feuer gejagt wurden, mussten Sanitäter entscheiden, wer abtransportiert und behandelt und wer liegen gelassen wurde. Auch bei unvorhergesehenen Naturkatastrophen und Großunfällen, bei denen die Zahl der Verletzten die verfügbaren medizinischen Ressourcen übersteigt, können Ärzte zu Triage-Entscheidungen gezwungen sein.

Doch die Corona-Pandemie ist keine unvorhergesehene Naturkatastrophe. Wissenschaftler haben seit Jahren vor einer solchen Pandemie gewarnt und nach der Entdeckung von SARS-CoV-2 immer wieder Maßnahmen erläutert, die notwendig sind, um das Virus einzudämmen und zu eliminieren. Doch mit wenigen Ausnahmen haben alle Regierungen diese Erkenntnisse ignoriert und eine Politik verfolgt, die den Profiten Vorrang vor Menschenleben einräumt. Insbesondere Betriebe und Schulen mussten offenbleiben, damit die Eltern dem Arbeitsmarkt zur Verfügung standen und die Konzerne Rekordprofite scheffeln konnten.

Mit der rasanten Verbreitung der Omikron-Variante droht nun die massenhafte Triage. Der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung in Berlin, Burkhard Ruppert, warnte schon vor einem Monat: „Bei den hohen Infektionszahlen werden uns die Intensivabteilungen um die Ohren fliegen. Wir werden in eine Triage-Situation kommen, wie wir sie noch nie in Deutschland erlebt haben nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir werden an den Punkt kommen, an dem man überlegen muss, gebe ich das letzte Bett jetzt dem 75-Jährigen, der dreimal oder zweimal geimpft wurde und trotzdem noch mal erkrankt ist. Oder gebe ich es dem 25-Jährigen, der sich um nichts gekümmert hat.“

Der explosionsartige Anstieg der Infektionszahlen in den USA, Großbritannien, Frankreich und zahlreichen anderen Ländern bestätigt diese Warnung. Doch die Regierungen tun nichts dagegen. Auch in Deutschland lässt die Ampel-Koalition der Pandemie freien Lauf. Sie hat die Gesundheitsämter in den Weihnachtsurlaub geschickt, damit die steigenden Infektionen nicht registriert werden. Doch Experten sind sich einig, dass mit Omikron nicht nur eine Welle, sondern eine Wand von Infektionen naht – mit entsprechenden Konsequenzen für die Intensivstationen.

Wäre es dem Bundesverfassungsgericht mit dem Schutz von Behinderten, von Menschenwürde und Leben ernst gewesen, hätte es die Bundesregierung auffordern müssen, sofort die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Pandemie einzudämmen. Stattdessen macht es selbst deutlich, dass die Vereinbarung von Triage mit Behindertenschutz und Menschenwürde der Quadratur des Kreises gleichkommt.

In den letzten Absätzen seines Beschlusses skizziert es mehrere Möglichkeiten, wie der Gesetzgeber „dem Risiko der Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Ressourcen wirkungsvoll“ begegnen kann. Dabei sollen „die für die Behandlung zur Verfügung stehenden begrenzten personellen und sachlichen Kapazitäten des Gesundheitswesens nicht zusätzlich in einer Weise belastet werden, dass das letztendlich angestrebte Ziel, Leben und Gesundheit von Patientinnen und Patienten mit Behinderungen wirkungsvoll zu schützen, in sein Gegenteil verkehrt würde“. Gleiches gelte „im Hinblick auf die durch den Gesetzgeber zu beachtenden Schutzpflichten für das Leben und die Gesundheit der anderen Patientinnen und Patienten“.

Und schließlich erklärt das Gericht salomonisch: „Dass aufgrund der Achtung vor der Unantastbarkeit der Menschenwürde Leben nicht gegen Leben abgewogen werden darf, steht einer Regelung von Kriterien, nach denen zu entscheiden ist, wie knappe Ressourcen zur Lebensrettung verteilt werden, nicht von vornherein entgegen.“ Wie man „knappe Ressourcen zur Lebensrettung“ verteilen kann – also entscheiden kann, wer intensivmedizinisch behandelt wird und wer nicht –, ohne „Leben gegen Leben“ abzuwägen, bleibt Geheimnis des Gerichts.

Die Politiker, die den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts jetzt in den höchsten Tönen loben, werden die Debatte über das Triage-Gesetz nutzen, um die Öffentlichkeit an diese menschenverachtende Praxis zu gewöhnen, zu der es in Wirklichkeit nie kommen darf. Es ist bezeichnend, dass FDP-Vize Wolfgang Kubicki, einer der lautesten Gegner von Lockdown-Maßnahmen und Impfflicht, in den Lobeschor auf das Urteil eingestimmt hat.

Nur eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse kann der Profite-vor Leben-Politik Einhalt gebieten, die das Leben und die Gesundheit von gesunden und behinderten Menschen gleichermaßen bedroht.

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