Landkreis Tuttlingen will Triage in Alten- und Pflegeheimen durchführen

Sind wir schon wieder soweit? Diese Frage stellt sich bei der jüngsten Nachricht aus dem baden-württembergischen Tuttlingen: Der Landkreis setzt dort die örtlichen Alten- und Pflegeheime unter Druck, ihre Schutzbefohlenen schon im Vorfeld zu taxieren, ob sich ihre Einweisung ins Krankenhaus bei allfälliger Covid-Infektion auch wirklich lohnen würde. Und alle Parteien bis hin zur Linkspartei verteidigen diese Aufforderung zur vorbeugenden Triage, die an die dunkelste Zeit Deutschlands erinnert.

Tuttlingen in Baden-Württemberg

„Sie kennen Ihre Bewohnerinnen und Bewohner“, heißt es in dem undatierten Brief, der die Pflegeinrichtungen Anfang Dezember erreichte. „Sie können den mutmaßlichen oder tatsächlichen Willen feststellen, und Sie können durch Ihr Handeln sehr viel zur Verhinderung einer Überlastung der zur Verfügung stehenden Behandlungsressourcen beitragen.“

Unterzeichnet ist der Brief des Landkreises Tuttlingen von Dr. Sebastian Freytag, Geschäftsführer der Klinikum Landkreis Tuttlingen gGmbH, sowie von Sozialdezernent Bernd Mager. Letzterer ist sowohl Dezernent des Landkreises für Arbeit und Soziales als auch Beisitzer des örtlichen CDU-Vorstands Tuttlingen.

Es lohnt sich, diesen Brief mit dem Siegel einer offiziellen deutschen Behörde sorgfältig zu studieren. Er beginnt mit dem Hinweis auf die „aktuelle Welle der Corona-Pandemie“ und die „sehr kritische“ Lage im örtlichen Klinikum. Dieses habe „sowohl im Hinblick auf die Auslastung der Intensivstation als auch in personeller Hinsicht die Kapazitätsgrenze erreicht“. Die „Damen und Herren der stationären Einrichtungen und ambulanten Dienste“ und die Angehörigen und Einwohner im Landkreis Tuttlingen sollten doch bedenken, dass „jedes Bett, in welchem intensivpflegebedürftige Menschen versorgt werden (…), eines Personalstammes an Fachkräften [bedarf], einer Ressource, die also kurzfristig limitiert ist!“

Mit der knappen Ressource Intensivpflege wird am Ende folgender „dringende Appell“ begründet: „Wir bitten die Verantwortlichen der stationären Einrichtungen und ambulanten Dienste auch darum, die Bewohnerinnen und Bewohner, Klientinnen und Klienten sowie deren Angehörige dafür zu sensibilisieren, in dieser schwierigen Zeit Krankenhauseinweisungen besonders sorgfältig zu bedenken. Das gilt auch für die Inanspruchnahme des Notarztwesens.“

Durch Zurückhaltung bei den Einweisungen könnten im Endeffekt die Ressourcen der klinischen Intensiv- und Notfallversorgung denjenigen offenstehen, „deren Erkrankungen mit einer guten Prognose mit Blick auf eine Lebensverlängerung bei guter Lebensqualität verbunden ist“.

Um den (wie es im Schreiben heißt) „mutmaßlichen oder tatsächlichen Willen“ festzuhalten, hat der Landkreis dem Brief an die Heimleitungen eine Anlage „Feststellung aus Anlass der Covid-19-Pandemie“ beigefügt. Es handelt sich um ein einseitiges Formular, mit dem eine bereits vorhandene Patientenverfügung „ergänzt“ werden kann. Das Formular kann aber, wie es im Brief ausdrücklich heißt, „auch explizit ohne vorherige Patientenverfügung ausgefüllt und abgegeben werden“ – ein Vorgehen, das sich offensichtlich in einer legalen Grauzone bewegt.

Der Betroffene muss auf dem Formular ankreuzen, ob er „für den Fall einer schweren Covid-19-Erkrankung“ ins Krankenhaus verlegt, einer Notfalltherapie mit oder ohne invasive Beatmung unterzogen oder lediglich zur Schmerz- und Symptomlinderung palliativmedizinisch betreut werden möchte. Er muss ausdrücklich unterzeichnen, dass diese Erklärungen „auch ohne ärztliche Aufklärung bezüglich meiner gewünschten oder abgelehnten Behandlungsform gelten“.

Man reibt sich die Augen: Hier wird das Fachpersonal ziemlich unverblümt aufgefordert, unter den ihm anvertrauten Menschen frühzeitig diejenigen mit einer „guter Prognose mit Blick auf eine Lebensverlängerung bei guter Lebensqualität“ von denen zu unterscheiden, deren Leben man folgerichtig als unwert zu betrachten habe – „vor allem betagte und hochbetagte Menschen, viele mit schweren Begleiterkrankungen“, wie es in dem Brief heißt. Unweigerlich drängen sich Bilder aus der schlimmsten Zeit der Nazidiktatur auf, als im Interesse der „Volksgemeinschaft“ angeblich „unwertes Leben“ vernichtet wurde.

In der Öffentlichkeit ist der Brief des Tuttlinger Kreisamts auf Entsetzen und Empörung gestoßen. Die Stiftung St. Franziskus, die mehrere Einrichtungen betreibt, drückte in einem Brief vom 7. Dezember ihre „große Sorge“ aus und bat das Kreisamt dringend, seinen Appell wieder zurückzuziehen.

„Unser Auftrag als Leistungserbringer ist die Hilfe, Pflege und Unterstützung für sehr vulnerable gesellschaftliche Gruppen sicherzustellen“, schrieb die kirchliche Stiftung. „Wir tragen in dieser Hinsicht auch dazu bei, dass diese Personengruppen ihre Grundrechte wahrnehmen können. Wir sehen unseren Auftrag nicht darin, Menschen von denen ihnen zustehenden Unterstützungs- und Versorgungsstrukturen fern zu halten.“

Auch der Sprecher der Caritas-Behindertenhilfe, Wolfgang Tyrychter, wehrte sich gegen die Zumutung des Tuttlinger Kreisamts. Die Welt zitierte ihn mit den Worten: „Als Leistungserbringer für Menschen im Alter und mit Behinderungen weisen wir die Forderung zurück, vor möglichen Krankenhauseinweisungen eine Vorauswahl zu treffen und das Krankenhaussystem nur zurückhaltend zu nutzen.“

Besonders vulnerable Gruppen herauszugreifen und zu bitten, sich gut zu überlegen, ob sie im Notfall tatsächlich intensivmedizinische Behandlung wünschten, sei diskriminierend, sagte Tyrychter. Im ARD-Mittagsmagazin erklärte er: „Wir müssen uns darauf verlassen können, dass der Mensch im Alter, der Mensch mit Behinderung, die medizinische Hilfe erst einmal bekommt, die jeder andere Mensch auch bekommt.“

Die Organisation AbilityWatch, die die Interessen von Behinderten vertritt, macht auf ihrer Website unter dem Titel „Entsetzen pur! Triage in Tuttlingen“ mobil. Zum Brief des Landkreises Tuttlingen wirft sie die berechtigten Fragen auf: „Wie definiert der Landkreis Tuttlingen Lebensqualität? Stellen wir in Deutschland jetzt ernsthaft wieder solche Fragen? Und das öffentlich und ohne Schamgefühl?“

Das Landratsamt verteidigte seinen Standpunkt am 15. Dezember in einer wütenden „Stellungnahme“, die zusammen mit dem ursprünglichen Brief, dem Festellung-Formular und dem Brief der Franziskus-Stiftung bis heute auf der offiziellen Website des Landkreises abrufbar ist. „An diesem eindringlichen und an der Realität orientierten Appell möchten wir festhalten. Wir halten ihn in der Sache weiterhin für richtig,“ heißt es darin. Es sei nicht zielführend, „mit Grundrechten auf medizinische Versorgung zu argumentieren“.

„Nie wieder!“ hieß es in der Nachkriegszeit. Niemals werde man zulassen, dass die Gesellschaft erneut in die Barbarei absinken werde, Alte, Gebrechliche oder Behinderte gezielt in den Tod zu schicken. Aber Corona hat es möglich gemacht. Die Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leben bestimmt die Reaktion aller Regierungen auf die Pandemie. Anstatt die Pandemie konsequent zu bekämpfen, wird der Profit über das Leben gestellt.

Im April 2020 gab der damalige Bundestagspräsident Wolfang Schäuble (CDU) die Richtung vor, als er dem Tagesspiegel sagte: „Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“

Besonders brutal formulierte es damals auch Boris Palmer (Die Grünen). „Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“, sagte der Tübinger Oberbürgermeister, um seine Forderung nach Beendigung aller Corona-Schutzmaßnahmen, die die Wirtschaft einschränken, zu begründen.

Mit dem jüngsten Brief des Tuttlinger Landkreises ist ein neuer erschreckender Höhepunkt einer Pandemiepolitik erreicht, die selbst gegen die hochansteckende Omikron-Variante keine ernsthaften Maßnahmen ergreift. Die Ampel-Regierung von Olaf Scholz geht noch rücksichtloser vor als Merkels Große Koalition.

Während der Dax in die Höhe klettert, sterben zum zweiten Mal während der Weihnachtstage tausende Covid-Patienten einen verfrühten und grausamen Tod. Die schlimme Zahl von 110.000 Corona-Toten ist schon überschritten. Jetzt wird die völlige Überlastung des Pflegepersonals in den Intensivstationen und der Notfallmedizin auf die Schwächsten abgewälzt, die sich am wenigsten wehren können: die pflegebedürftigen Senioren und Behinderten in den Einrichtungen.

Die Triage-Empfehlung des Landkreises Tuttlingen wird nicht nur von der CDU unterstützt, der der Sozialdezernent angehört. Politiker aller Couleurs bis hin zur Linkspartei haben den Appell verteidigt.

Philipp Polster, der 2021 in Tuttlingen für die Partei Die Linke kandidierte, hat auf Twitter den „Kern der Botschaft“ als „weiterhin richtig“ verteidigt und dabei mit dem „Recht auf Sterben“ argumentiert: „Das Recht auf Sterben gilt auch für Pflegeheimbewohner und gilt auch für Menschen, die ihren Willen nicht mehr äußern können. (…) Das Klinikum /der LK [Landkreis] hat nur dazu aufgerufen, dass alle Heime genau diese Fälle abklären (…) Ich finde das richtig.“ Polsters Tweet wird auch von der lokalen SPD geliked und positiv kommentiert.

Die Triage-Empfehlung in Tuttlingen zeigt einmal mehr, dass die Beendigung der Pandemie einen politischen Kampf und die Mobilisierung der Arbeiterklasse erfordert. Um Corona zu eliminieren, ist ein international koordinierter Lockdown nötig, der alle nicht-lebensnotwendigen Betriebe herunterfährt, Schulen und Kitas schließt und alle sozialen Folgen ausgleicht. Dazu sind die Regierungen und etablierten Parteien in keiner Weise bereit.

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