Große Schriftsteller haben literarische Figuren erschaffen, in denen sich der Niedergang und die Gegensätze einer ganzen Epoche spiegeln. F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby, Honoré de Balzacs Verlorene Illusionen oder Heinrich Manns Der Untertan sind Beispiele dieses Genres. Die Biografie von Österreichs Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz würde den Stoff für einen entsprechenden Roman über das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts liefern.
Kurz verbindet Skrupellosigkeit und verbrecherische Energie mit der Fähigkeit, sich mit den Reichen und Einflussreichen zu vernetzen. Er entstammt einer Generation, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Verwandlung der reformistischen Arbeiterorganisationen in korporatistische Interessenvertreter des Kapitals aufgewachsen ist und glaubt, sie könne sich alles erlauben, ohne auf Widerstand aus der Arbeiterklasse zu stoßen.
Obwohl er erst 35 Jahre alt ist, blickt Kurz auf eine lange, wechselhafte Karriere zurück. Er war Staatssekretär, Außenminister und zweimal Bundeskanzler von Österreich; beide Male musste er wegen eines Korruptionsskandals zurücktreten. Er hat mit einer Gruppe gleichgesinnter Jugendfreunde die etablierte Österreichische Volkspartei gekapert und seinen persönlichen Karrierezielen unterworfen. Er hat der rechtsextremen FPÖ zu einflussreichen Regierungsämtern verholfen und ist europaweit als Vorreiter für eine menschenfeindliche Flüchtlingspolitik eingetreten, für die Tausende mit ihrem Leben bezahlt haben.
Nun hat Kurz, gegen den die österreichische Staatsanwaltschaft wegen Beihilfe zur Bestechlichkeit und Untreue ermittelt, als „Global Strategist“ bei Thiel Capital angeheuert, der Anlagefirma des deutsch-amerikanischen Investors Peter Thiel. Der 54-jährige Thiel, dessen Vermögen von Bloomberg auf 9,3 Milliarden Dollar geschätzt wird, ist eine Schlüsselfigur der Szene, die sich an der Monopolmacht von IT-Unternehmen – und in jüngster Zeit an der Corona-Pandemie – sagenhaft bereichert hat.
Der Gründer und Teilhaber mehrerer Risikokapitalunternehmen gründete 1999 zusammen mit Elon Musk, dem heutigen Tesla-Chef, den Finanzdienstleister PayPal, den er drei Jahre lang leitete und dann an die Börse brachte. Er ist Vorsitzender und größter Anteilseigner von Palantir Technologies, die hoch umstrittene Software zur Analyse großer Datenmengen herstellt und vor allem die US-Geheimdienste beliefert. Thiel war auch der erste externe Geldgeber von Facebook, dessen Chef Mark Zuckerberg als sein Zögling gilt.
Thiel unterscheidet sich von anderen Silicon-Valley-Milliardären dadurch, dass er nicht nur als Firmengründer und Investor, sondern auch als Politiker und Ideologe in Erscheinung tritt. In Frankfurt am Main geboren, wuchs er in den USA und Südafrika auf und studierte an der kalifornischen Stanford University Philosophie und Jura, bevor er sich dem Finanzsektor zuwandte.
Thiel bezeichnet sich selbst als Libertärer und hat mehrere Artikel zu weltanschaulichen Fragen in einschlägigen Publikationen veröffentlicht. 2014 erschien sein Buch „Zero to One“ – die deutsche Ausgabe mit dem Untertitel „Wie Innovation unsere Gesellschaft rettet“.
Unter „libertär“ versteht Thiel den absoluten Vorrang des Individuums gegenüber Staat und Gesellschaft – und zieht daraus faschistische Schlussfolgerungen. Er sei „gegen konfiskatorische Steuern“ und „totalitäre Kollektive“, schrieb er 2009 in einem Beitrag für das Cato Institute, einen rechten Think Tank, der unter anderem von den Koch-Brüdern finanziert wird. Deshalb nenne er sich weiterhin „libertär“. Er glaube aber nicht mehr, „dass Freiheit und Demokratie miteinander vereinbar“ seien.
Im Gegensatz zu anderen Libertären lehnt Thiel auch den freien Markt und den Wettbewerb ab und befürwortet die Herrschaft von Monopolen. Freier Wettbewerb senke die Profite, er sei etwas für Verlierer und eine Ideologie, „die unsere Gesellschaft pervertiert und unser Denken zerstört“, behauptet er. Monopole seien dagegen Motoren des Fortschritts und „die Voraussetzung für jedes erfolgreiche Unternehmen“.
Der Journalist Max Chafkin, der eine Biografie über Thiel geschrieben hat, nennt dessen politische und wirtschaftliche Philosophie „ein wenig beängstigend“. „Sie grenzt an Faschismus“, sagte er im vergangenen September in einem Interview mit dem Time-Magazin. „Er spricht davon, dass Unternehmen besser geführt werden als Regierungen, weil sie einen einzigen Entscheidungsträger haben – im Grunde einen Diktator. Er steht der Idee der Demokratie ablehnend gegenüber.“
Chafkin tritt auch der gängigen Meinung entgegen, dass Thiel ein Sonderfall sei, der einzige Rechte in einer ansonsten liberalen Branche. „Viele der Dinge, an die er glaubt, spiegeln sich in den Handlungen und dem Verhalten vieler seiner Kollegen wider.“ Diese wählten vielleicht die Demokraten, „aber die Idee, dass Unternehmen im Grunde tun können sollten, was sie wollen, dass Demokratie nicht der wichtigste Wert ist, diese Dinge spiegeln sich in den Entscheidungen und Handlungen vieler Silicon-Valley-Unternehmen wider“.
Thiel selbst hat aus seiner ultrarechten Politik nie ein Geheimnis gemacht. Im Präsidentenwahlkampf 2008 und 2012 unterstützte er den libertären texanischen Republikaner Ron Paul. Allein 2012 spendete er 2,6 Millionen Dollar für Pauls Wahlkampf. Auch der Tea-Party-Bewegung gab er Geld.
2016 stellte er sich hinter Donald Trump. Er trat auf dem republikanischen Parteitag als Redner auf und soll 1,25 Millionen Dollar für Trumps Wahlkampf gespendet haben. Nach der Wahl diente er dem neuen Präsidenten als Berater. Später warf er Trump vor, er gehe bei der Reform des Landes zu langsam und „viel zu wenig disruptiv“ vor, unterstützte ihn aber weiter.
Thiel, der fließend deutsch spricht, hat auch in Deutschland zahlreiche Unterstützer. Sein Buch „Zero to One“ erschien im renommierten Campus-Verlag. Im vergangenen Jahr erhielt er den Frank-Schirrmacher-Preis für „herausragende Leistungen zum Verständnis des Zeitgeschehens“. Der Preis ist nach einem früh verstorbenen Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung benannt. Die Laudatio sollte der damalige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz halten, der aber wegen des Korruptionsskandals, der schließlich zu seinem Rücktritt führte, verhindert war.
Eng vernetzt ist Thiel auch mit dem Chef des Springer-Konzerns, Mathias Döpfner. Als Jury-Mitglied des Frank-Schirrmacher-Preises hat Döpfner mit dafür gesorgt, dass der rechte Venture-Kapitalist den Preis erhielt. Döpfners Sohn Moritz arbeitet laut der Business-Website Datanyze als Büroleiter für Thiel. Springer spielt mit seinem Boulevard-Blatt Bild eine Schlüsselrolle dabei, rechtsextreme Corona-Leugner und Impfskeptiker zu mobilisieren.
Sebastian Kurz selbst kennt Thiel seit Jahren. Als Bundeskanzler hielt er stets engen Kontakt zu Aufsteigern, die Millionen scheffelten. Zu seinem näherem Umfeld gehörten der 44-jährige Immobilienspekulant René Benko, der die deutschen Kaufhausketten Karstadt und Kaufhof aufgekauft und ausgeschlachtet hat, sowie die Wirecard-Manager Markus Braun (52) und Jan Marsalek (41), die einen milliardenschweren betrügerischen Bankrott hingelegt haben.
Was Kurzʼ genaue Aufgaben als „Global Strategist“ von Thiel Capital sein werden, ist bisher nicht bekannt. Der abgebrochene Jura-Student hat weder fachliche noch wirtschaftliche Qualifikationen vorzuweisen, dafür verfügt er als ehemaliger Bundeskanzler über ein weit verzweigtes Netz von Kontakten, das er nutzen kann, um Thiels reaktionäre politische Ziele voranzutreiben.
Die soziale Ungleichheit und die Zahl der Corona-Opfer, die täglich den Profitinteressen der Wirtschaft geopfert werden, haben ein Ausmaß erreicht, das sich nicht mehr mit Demokratie vereinbaren lässt. Um den Fluss der Profite und den Anstieg der Aktienkurse in Gang zu halten, greifen die herrschenden Kreise weltweit wieder auf faschistische Methoden zurück. Diese Entwicklung verkörpern Kurz und sein neuer Arbeitgeber Thiel. Deshalb wurden und werden sie von Politikern und Medien weltweit gefeiert, einschließlich der österreichischen Grünen, die mit Kurz koalierten und ihm zu einer zweiten Amtszeit verhalfen, nachdem seine Koalition mit der FPÖ geplatzt war.