Schon vor Corona war der Pflegenotstand in Kliniken, Krankenhäusern und Pflegeheimen unerträglich. Mit Beginn der Pandemie hat sich die katastrophale Lage dramatisch verschärft. Daran hat sich auch nichts geändert, nachdem Regierung und Medien die Pandemie für beendet erklärten und nicht müde wurden, die Omikron-Variante fälschlicherweise als „mild“ zu bezeichnen.
Die Omikron-Welle, in der sich tausende Pflegekräfte infizierten, hat den Druck auf das Pflegepersonal noch einmal stark erhöht. In einzelnen Kliniken fallen bis zu 30 Prozent des Personals wegen Corona aus, so dass manche Stationen, die die ganze Pandemie über durchgehalten haben, jetzt vor dem Kollaps stehen.
Wie angespannt die Versorgungssituation ist, geht aus der jüngsten, regelmäßigen Abfrage des Bundes bei den Ländern hervor, über die der Spiegel berichtet. Demnach sind es zum einen massive Personalausfälle durch Erkrankungen und Quarantäne, die die Kliniken belasten. Über sechs Prozent der Beschäftigten sind im Bundesdurchschnitt aktuell „nicht einsatzfähig“. Dazu kommen die hohen, teilweise wieder steigenden Klinikeinweisungen.
In der Hälfte der Bundesländer werden demnach planbare Operationen und Untersuchungen verschoben. In Thüringen sei das Risiko einer Unterversorgung von Pflegebedürftigen stationär wie ambulant hoch, bemerkt der Spiegel. In Rheinland-Pfalz und im Saarland sei teilweise „keine stabile medizinische Versorgung mehr möglich“. In Rheinland-Pfalz melden Rettungsdienste deutlich längere Wege für Rettungswagen wegen überlasteter Notaufnahmen.
Unter diesen Bedingungen arbeiten Pflegekräfte und ärztliches Personal seit mittlerweile mehr als zwei Jahren am Limit. Permanente Überlastung, Personalmangel, Überstunden und die ständige Gefahr, sich selbst und andere anzustecken, prägen den Alltag der Beschäftigten. Dagegen regt sich wachsender Widerstand.
Zuletzt haben Mitte des Monats fast tausend Pflegekräfte die Arbeit niedergelegt. Sie fordern bessere Arbeitsbedingungen, weniger Stress und mehr Personal. Nach dem Ärztestreik Ende März, an dem sich bundesweit zehntausende Klinikärzte beteiligten, sind nun Krankenschwestern und Pfleger an sechs Unikliniken Nordrhein-Westfalens (Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln, Münster) auf die Straße gegangen.
Bereits in den vergangenen Wochen hatten die Klinikbeschäftigten deutlich gemacht, dass sie hinter diesen Forderungen stehen und bereit sind, dafür zu kämpfen. Fast 12.000 haben das mit ihrer Unterschrift unter einer Petition kundgetan, 63 Prozent aller von der Tarifforderung Betroffenen. Die Petition wurde vor drei Wochen dem Arbeitgeberverband des Landes und den Regierungsfraktionen im Düsseldorfer Landtag übergeben.
Zuvor hatten die Belegschaften ein Hundert-Tage-Ultimatum gestellt, das am 1. Mai ausläuft. Sollten die Arbeitgeber bis dahin kein ernsthaftes Entgegenkommen zeigen, drohen Streiks mit deutlich massiveren Auswirkungen als in dieser Woche.
Die Warnstreiks der letzten Woche haben die tiefe Kluft aufgezeigt, die zwischen den streikenden Pflegekräften und den Gewerkschaften besteht. Krankenschwestern und Pfleger legen die Arbeit nieder, weil sie einfach nicht mehr können. Sie wollen endlich Maßnahmen sehen, die die Bedingungen für das Personal und die Patienten nachhaltig verbessern.
Die Verdi-Bürokraten sind dagegen eng mit den Politikern und Klinikleitungen verbunden, die für den Pflegenotstand verantwortlich sind und den Gesundheitsbereich seit Jahren privatisieren und kaputtsparen. In NRW wollen Verdi und Marburger Bund noch vor der Landtagswahl am 15. Mai zu einer Einigung mit den kommunalen Arbeitgebern (VKA), den Klinikmanagern und den Landespolitikern kommen.
Die enge Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen für die Misere wurde am Mittwoch, den 13. April, auf der Streikversammlung im Stadion Oberhausen deutlich. Verdi hatte nordrhein-westfälische Spitzenpolitiker eingeladen und bot ihnen eine Plattform im Wahlkampf. Selbst NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) durfte dort seine Unterschrift unter eine Petition setzen, die die Einführung eines „Entlastungstarifvertrags“ fordert. Derselbe Vertrag ist bereits in anderen Ländern beschlossen worden, ohne dass sich der Pflegenotstand grundlegend geändert hätte.
Schon die letzten von Verdi vereinbarten Tarifabschlüsse waren eine Frechheit. Im Tarifvertrag der Länder (TV-L) stimmten die Gewerkschaften im vergangenen November einer Laufzeit bis Ende September 2023 und einer Nullrunde bis Dezember 2022 zu. Dann sollen die Tarife um 2,8 Prozent steigen. Angesichts einer offiziellen jährlichen Inflationsrate von 7,3 Prozent (März) bedeutet dies eine massive Lohnsenkung.
Für anderes Klinikpersonal gilt der TVöD bzw. der TVöD-K (Krankenhaus). Hier gab es zuletzt im Oktober 2020 eine Einigung zwischen Verdi und der VKA (Vereinigung Kommunaler Arbeitgeberverbände). Der Tarifvertrag gilt bis Ende dieses Jahres, ist also noch nicht abgelaufen. Die Lohnerhöhung ist auch hier minimal, der zweite Schritt von 1,8 Prozent erfolgte in diesem Monat und bedeutet ebenfalls eine Reallohnsenkung von mehr als 5 Prozent.
Um die große Wut im Pflegebereich aufzufangen, bauscht Verdi jetzt ihren „Kampf für den Entlastungstarifvertrag“ auf, besonders in NRW, wo Mitte Mai die Landtagswahlen stattfinden. In Berlin diente die Unterzeichnung eines Entlastungstarifvertrags im letzten November dazu, einen 50-tägigen Arbeitskampf bei Vivantes und Charité abzuwürgen und für weitere vier Jahre miserable Löhne und Arbeitsbedingungen festzuschreiben.
Gewerkschaften, Klinikleitungen und Berliner Senat versprachen mit Abschluss des Entlastungsvertrages spürbare Verbesserungen. Tatsächlich werden selbst die wenigen, vereinbarten minimalen Verbesserungen nicht verwirklicht.
In den landeseigenen Vivantes-Kliniken wurde der Tarifvertrag, der mit Jahreswechsel offiziell in Kraft trat, nicht in die Praxis umgesetzt. Die Konzernleitung gab dreist technische Probleme als Grund dafür an. „Bei dieser Lösung sind wir noch nicht, denn wir müssen dazu noch neue Software implementieren und das wiederum hat zur Voraussetzung, dass auch der Betriebsrat der Einführung der Software zustimmt,“ erklärte Kliniksprecher Christoph Lang. Hierzu sei man bereits in Gesprächen mit dem Betriebsrat – was nur bedeuten kann, dass dieser das Spiel der Klinikleitung voll abdeckt.
In den Tochtergesellschaften der Vivantes-Kliniken hatten die Beschäftigten für bessere Löhne gestreikt. Der Kampf wurde von Verdi isoliert und ausverkauft. Bis heute hat sich an den miserablen Löhnen nichts geändert.
Wie aus einem Bericht von rbb24 hervorgeht, erhält eine Reinigungskraft nur 11,11 Euro pro Stunde. Der aktuelle Mindestlohn liegt bei 12,50 Euro. Um diesen zu unterlaufen, werden sämtliche Zuschläge für Dienste an Feiertagen, Wochenenden etc. in den Lohn eingerechnet. Diese Lohnbestandteile, die eigentlich besondere Belastungen der Arbeit vergüten sollen, werden genutzt, um die Löhne niedrig zu halten.
In die Entscheidungen im Vivantes-Konzern ist der rot-rot-grüne Senat direkt eingebunden. Finanzsenator Daniel Wesener und Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (beide Grüne) sitzen im Aufsichtsrat des Klinikkonzerns. SPD, Grüne und Linke haben den Kliniken mit dem Doppelhaushalt 2022-23 einen radikalen Sparkurs verordnet, der auf dem Rücken der Beschäftigten durchgesetzt wird.
Nachdem bereits im Bildungssektor empfindliche Kürzungen verordnet wurden, soll nun auch die öffentliche Gesundheit geschröpft werden. Mit 150 Millionen Euro sollen die Kliniken Berlins noch weniger Mittel erhalten als im Vorjahr, in dem die Finanzierung völlig unzureichend war.
Marc Schreiner von der Berliner Krankenhausgesellschaft erklärte gegenüber der Berliner Zeitung, dass bis zum Jahr 2030 jährlich 350 Millionen Euro benötigt würden, um die Krankenhäuser angemessen in Stand zu halten.
Er merkt weiter an: „Das Land Berlin hat jedenfalls die Krankenhäuser über viele Jahre nicht ausreichend finanziert. Die Kliniken mussten Geld, das eigentlich für die Finanzierung der Pflege und des dazu erforderlichen Personals gedacht war, für die nötigen Investitionen aufwenden. Die Politik ist also mit dafür verantwortlich, dass die Kliniken unter einem Personalnotstand leiden.“
In den Berliner Kliniken fehlen coronabedingt noch immer bis zu 20 Prozent des Personals. In den Kinderkliniken ist die Situation besonders dramatisch. Teilweise werden Kinder aus Berliner Kliniken nach Frankfurt/Oder, Eberswalde oder in andere Brandenburger Kliniken verlegt, teilweise weit über 100 Kilometer.
Hinzu kommt, dass durch den Personalmangel Betten nicht belegt werden können und die Kliniken dadurch teilweise in eine finanzielle Schieflage geraten, die wegen des Fehlens von Förderung und staatlichen Geldern weiter zunimmt.
Der Chef der Krankenhausgesellschaft Gerald Gaß erläuterte in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen die Folgen für die Kliniken. Nachdem der sogenannte Corona-Rettungsschirm immer weiter zurückgefahren wurde, schreiben immer mehr Krankenhäuser „rote Zahlen“ und immer mehr „fühlen sich von einer Insolvenz bedroht“. Gaß geht davon aus, dass Kliniken Insolvenz anmelden müssen, wenn nicht rasch Liquiditätshilfen der Bundesregierung folgen.
Dies ist politisch gewollt. Auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ist ein Befürworter von Klinikschließungen. Bereits 2019 forderte eine Studie der Bertelsmann Stiftung, mehr als die Hälfte aller Kliniken in Deutschland zu schließen. Von den momentan rund 1400 Krankenhäusern sollen weniger als 600 erhalten bleiben, heißt es darin. Seither ist die Zahl der Kliniken trotz Pandemie weiter zurück gegangen.
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