Türkei: 100.000 Ärzte streiken inmitten wachsender globaler Bewegung im Gesundheitswesen

Elf Organisationen, die eine Mehrheit der Ärzte und anderen Beschäftigten des türkischen Gesundheitswesens repräsentieren, haben für Mittwoch einen landesweiten Streik geplant, nachdem die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan ihre Forderungen nach besseren Löhnen und Zusatzleistungen zurückgewiesen hat.

Abgesehen vom Türkischen Ärzteverband (TTB) mit etwa 110.000 Mitgliedern beteiligen sich auch Ärzteorganisationen wie Hekimsen, die Gewerkschaft Hekim Birğli und Tabip Sen sowie Pflegekräfte und andere Beschäftigte des Gesundheitswesens an dem Streik. Vermutlich werden mindestens 100.000 Ärzte die Arbeit niederlegen.

Die Arbeiter im Gesundheitswesen sind seit letztem Dezember der militanteste Teil der türkischen Arbeiterklasse und haben zahlreiche Streiks und Proteste für ihre Forderungen organisiert. Nach Streiks im Januar, Februar und März ist Hekimsen für sechs Tage in den Streik getreten.

Die Entscheidung für den Streik fiel, nachdem die Erdoğan-Regierung dem Parlament einen Gesetzentwurf vorgelegt hatte, der alle grundlegenden Forderungen der Ärzte und Beschäftigten zurückwies. Bei einem „großen Ärzte-Workshop“ am letzten Samstag beschlossen sie daraufhin einen landesweiten Streik für Mittwoch.

In einer gemeinsamen Stellungnahme erklärten sie: „Wir sind nicht einverstanden mit diesem Gesetz, das von der [parlamentarischen] Kommission verabschiedet wurde und heute dem Parlament vorgelegt wird. Es enthält keinerlei Verbesserungen für uns, unsere Forderungen und Rechte. Wir sagen: ,Zieht dieses Gesetz zurück.‘“ Sie fügten hinzu: „Morgen werden wir für unsere sozialen Rechte streiken, und morgen werden wir nur Notfälle, Intensivpflegefälle und onkologische Fälle behandeln.“

Die Erklärung verweist auf den Zusammenhang zwischen der zunehmenden Unterordnung des Gesundheitssystems unter das kapitalistische Profitstreben und der Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen im Gesundheitswesen und den öffentlichen Gesundheitsdiensten: „Das türkische Gesundheitssystem, das durch das Gesundheitstransformationsprogramm privatisiert wurde und Patienten als Kunden, Krankenhäuser als Unternehmen und uns als Sklaven betrachtet, bricht angesichts der Pandemien und Krisen zunehmend zusammen.“

Die Ärzte fordern, Covid-19 als „Berufskrankheit“ einzustufen, da Beschäftigte im Gesundheitswesen zehnmal häufiger an Covid-19 erkranken als die breite Bevölkerung, und Ärzte viermal häufiger daran gestorben sind als der Durchschnitt. Bisher sind in der Türkei mehr als 500 Beschäftigte des Gesundheitswesens an Covid-19 gestorben.

Sie erklären weiter: „Statt das Gesundheitssystem zu überprüfen und zu ändern, um seine Fehler zu beheben, wird uns Gewalt, Armut, Resignation, Migration, fehlende Anerkennung, unqualifizierte Ausbildung, leistungsabhängige Arbeit, Mobbing und Druck aufgezwungen. [Die Bevölkerung] wird zu virtuellen Warteschlangen zu Hause gezwungen, Termine können erst mit monatelanger Verspätung gebucht werden, die Eigenbeteiligung steigt immer weiter, private Krankenhäuser erhalten Anreize durch Regulierungen, die das öffentliche Gesundheitssystem zerstören und Ungleichheit im Gesundheitswesen fördern.“

In der Erklärung hieß es, alleine in diesem Jahr seien aufgrund dieser Bedingungen 938 Ärzte aus der Türkei ins Ausland gegangen, zudem hat sich die Selbstmordrate im Gesundheitswesen erhöht. Am 8. März hatte Erdoğan zu der zunehmenden Abwanderung von Ärzten erklärt: „Sollen sie gehen, wenn sie wollen. Dann werden wir unsere neu ausgebildeten Ärzte einstellen.“ Laut der Gewerkschaft Hekimsen „haben in den letzten 20 Monaten etwa 9.000 Ärzte den öffentlichen Dienst verlassen; fast 2.000 von ihnen sind ins Ausland gegangen oder stehen kurz davor“.

Doch am 14. März, dem ersten Tag des zweitägigen Streiks, änderte Erdoğan seinen Tonfall: „Dieses Land ist den Ärzten zu Dank verpflichtet und braucht sie.“ Er behauptete, seine Regierung werde gesetzliche Regelungen treffen, um einige Forderungen der Beschäftigten des Gesundheitswesens erfüllen. Der Gesetzentwurf, der schließlich dem Parlament vorgelegt wurde, ignorierte jedoch die Forderungen der Beschäftigten völlig.

Ärzte und Beschäftigte des Gesundheitswesens haben außerdem mit größeren und längeren Streiks gedroht, falls ihre Forderungen nicht erfüllt werden: „Das ist weder unsere erste, noch unsere letzte Aktion. Dies ist ein Protest gegen das geplante wirkungslose Gesetz. Niemand soll daran zweifeln, dass wir uns in einer Krise befinden und wir nicht mehr vor längeren Arbeitsniederlegungen zurückschrecken werden.“ Die Erklärung endete mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit, den Streik zu unterstützen.

Die Zentralbanken haben während der Corona-Pandemie Geld für die Superreichen gedruckt und damit eine starke Inflation ausgelöst, die infolge der Nato-Sanktionen gegen Russland wegen des Kriegs in der Ukraine noch weiter gestiegen ist. In der Türkei stieg die jährliche offizielle Inflationsrate im Mai auf 73,5 Prozent und bei den Lebensmittelpreisen auf 91,6 Prozent. Laut einem zuverlässigeren Bericht der unabhängigen Inflation Research Group (ENAG) liegt die tatsächliche jährliche Inflation sogar bereits bei über 160 Prozent.

Zudem stieg die Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie in der Türkei laut dem regierungsnahen Gewerkschaftsbund Türk-İş im Mai auf 19.600 Türkische Lira (1.135 Dollar). Die „Hungergrenze“ (die monatlichen Ausgaben einer vierköpfigen Familie für eine gesunde, ausgewogene und angemessene Ernährung) stieg auf 6.017 Türkische Lira (350 Dollar), 1.750 Lira mehr als der Mindestlohn (4.250 Türkische Lira, etwa 245 Dollar).

Die Erdoğan-Regierung sitzt auf einem sozialen Pulverfass, das kurz vor der Explosion steht. Laut einer Umfrage des türkischen Verbraucherschutzverbandes vom März leben fast 90 Prozent der türkischen Bevölkerung, d.h. 76,5 von 85 Millionen Menschen, unterhalb der Armutsgrenze. Die Umfrage zeigte auch, dass 25,5 Millionen dieser 76,5 Millionen Menschen ein Einkommen unterhalb der Hungergrenze haben.

Andererseits stieg der Anteil der Unternehmen am Volkseinkommen in den letzten zwei Jahren durch Pandemieprofite von 42,9 auf 47 Prozent, während das Gesamtvermögen der Millionäre 3,9 Billionen Türkische Lira (216 Milliarden Euro) erreichte.

Dennoch erhalten laut einem aktuellen Bericht von Hekimsen „Fachärzte ein Gehalt von 12.000 bis 13.000 Lira (665 bis 720 Euro), andere Ärzte zwischen 9.500 und 10.000 Lira (526 bis 554 Euro) mit fester Zusatzzahlung.“ Ärzte und Beschäftigte des Gesundheitswesens fordern eine deutliche Erhöhung ihrer Gehälter und Renten sowie verbesserte Zusatzleistungen.

Die Ärzte fordern, nicht mehr aufgrund von „Behandlungsfehlern“ verfolgt zu werden und lehnen es ab, mehr als 36 Stunden ununterbrochen zu arbeiten. Sie weisen darauf hin, dass die Zahl der Ärzte in der Türkei nur ein Drittel des Durchschnitts der OECD-Länder beträgt. Daneben lehnen es die Ärzte auch ab, die Zeit für die Untersuchung eines Patienten auf fünf Minuten zu verkürzen.

Sie fordern rechtliche Maßnahmen, um Übergriffe auf sie in den Gesundheitseinrichtungen zu verhindern. Es kommt in der Türkei jeden Tag zu 40 Fällen von Gewalt gegen Beschäftigte des Gesundheitswesens.

Die wachsende Streikbewegung im türkischen Gesundheitswesen ist Ausdruck der zunehmenden Wut von breiten Teilen der Arbeiterklasse über die explodierenden Lebenshaltungskosten und die soziale Ungleichheit. Dieses Jahr kam es in der Türkei zu einer massiven Zunahme von Streiks; alleine im Januar und Februar gab es 106 spontane Streiks.

Zudem ist sie Teil einer globalen Streik- und Protestbewegung im Gesundheitswesen gegen Unterbesetzung, überhöhte Arbeitsbelastung und den Niedergang des Lebensstandards. Diese Bewegung entwickelt sich von Deutschland über Großbritannien und Frankreich nach Indien und Neuseeland bis in die USA und darüber hinaus.

Die Forderungen der Beschäftigten im Gesundheitswesen in allen diesen Ländern sind in der Tat diejenigen der gesamten Arbeiterklasse: Ein Ende der Unterordnung des Gesundheitswesens unter den Profit, eine Politik auf wissenschaftlicher Grundlage und Schutz der öffentlichen Gesundheit vor der anhaltenden Corona-Pandemie, angemessene Löhne und Lebensbedingungen. Sie erfordern einen Frontalangriff auf die Vermögen und die Macht der Finanzoligarchie. Sie bereichert sich auf Kosten der Gesundheit und des Wohlergehens der überwältigenden Mehrheit der Weltbevölkerung.

Arbeiter brauchen für diesen internationalen Kampf ihre eigenen Kampforganisationen – Aktionskomitees. Die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees (IWA-RFC) bietet den Beschäftigten des Gesundheitswesens und anderen Teilen der Arbeiterklasse die Grundlage, um sich in einem solchen Kampf zusammenzuschließen.

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