Die Direktorin des Ukrainischen Buch-Instituts (UBI) erklärte Ende Mai in einem Interview mit der Kiewer Nachrichtenagentur Interfax, nach ihrer Schätzung müssten mehr als 100 Millionen Exemplare von „Propaganda-Büchern“ aus den öffentlichen Bibliotheken der Ukraine entfernt werden, darunter Klassiker der russischen Literatur.
Das UBI ist laut seiner eigenen Website eine „staatliche Einrichtung“ und „Teil des Ministeriums für Kultur- und Informationspolitik der Ukraine“. Seine Aufgabe ist es, die Regierungspolitik „im Bereich Buchveröffentlichungen“ zu formen, „das Lesen in der Ukraine zu fördern, die Buchbranche zu unterstützen, Anreize für Übersetzungen zu schaffen und die ukrainische Literatur im Ausland bekannt zu machen“.
Im Verlauf des Interviews äußerte Kowal die Hoffnung, dass die erste Phase der Säuberung, die Entfernung „ideologisch schädlicher Literatur aus Sowjetzeiten... von der es so viel gibt, sowie der russischen Literatur mit anti-ukrainischem Inhalt“ bis Ende des Jahres abgeschlossen sein wird.
Sie wies darauf hin, dass vor allen Dingen Bücher, die „imperiale Narrative verstärken und Gewalt, pro-russische und chauvinistische Politik propagieren“, aus den öffentlichen Bibliotheken entfernt würden. Sie erklärte nicht, welche Bücher dies sein werden.
In der zweiten Phase sollen Bücher von russischen Autoren, die nach 1991 veröffentlicht wurden, „konfisziert“ werden. Dies würde „unterschiedliche Genres betreffen, darunter Kinderbücher, Liebes- und Kriminalromane“.
Damit niemand den zutiefst reaktionären Charakter des Projekts verkennt, nannte Kowal ausdrücklich Klassiker der russischen Literatur als Beispiele für verbotswürdige Bücher. Schriftsteller und Dichter wie Alexander Puschkin und Fjodor Dostojewski hätten laut Kowal die Grundlagen der „russischsprachigen Welt“ und des russischen „Messianismus“ geschaffen.
Laut Interfax erklärte Kowal weiter, es handle sich um „wirklich sehr schädliche Literatur“, die „die Ansichten von Menschen beeinflussen kann. Deshalb ist es meine persönliche Meinung, dass diese Bücher auch aus den Schul- und öffentlichen Bibliotheken entfernt werden sollten.“ Sie sollten vielleicht in Universitäts- und Forschungsbibliotheken verbleiben, wo sie „von Akademikern gelesen werden, die die Wurzeln des Bösen und des Totalitarismus studieren“.
Kowal wies darauf hin, dass wissenschaftliche Bibliotheken „wissenschaftliche Spezialliteratur von Autoren mit möglicherweise anti-ukrainischen Ansichten“ vorerst behalten könnten, „aber nur wenn das fragliche wissenschaftliche Werk keine ideologischen Konnotationen hat... Es gibt keinen Grund, sie jetzt schon zurückzuziehen, solange ukrainische oder ausländische Autoren keinen Ersatz geschaffen haben.“
Die 100 Millionen Bücher, die konfisziert werden sollen, entsprechen der Hälfte der Bibliotheksbestände, und sie sollen „schrittweise ersetzt werden“.
Bezeichnenderweise ließ die englischsprachige Version des Interfax-Berichts über das Interview mit Kowal den letzten Absatz des Originaltextes weg. Offenbar war es der Nachrichtenagentur peinlich, dass der ukrainische Minister für Kultur- und Informationspolitik (und ehemalige Vorstandschef eines Medienunternehmens), Oleksandr Tkatschenko, erklärte, „russische Propagandawerke, die in ukrainischen Bibliotheken konfisziert wurden, könnten als Altpapier benutzt werden“.
Es kann nicht genug betont werden, wie abscheulich das Projekt des „Buch-Instituts“ und des „Ministeriums für Kultur“ – wenn „orwellsch“ kein so überstrapazierter Begriff wäre, würde er hier passen – ist, 100 Millionen Bücher aus dem Verkehr zu ziehen und möglicherweise einzustampfen. In den letzten Jahrzehnten haben viele rechte Regierungen einzelne Titel und sogar Genres angegriffen, oft auf Druck von religiösen Fanatikern (u.a. christliche, hinduistische, buddhistische etc.). Doch die Zerstörung der Hälfte des Bücherbestands eines Landes hat keinen bekannten Präzedenzfall.
Das deutsche Nazi-Regime hat bisher die größten Anstrengungen unternommen, das intellektuelle, kulturelle und moralische Erbe eines Landes zu zerstören. Die berüchtigten öffentlichen Bücherverbrennungen begannen in Deutschland im Mai 1933. Die lange Liste der verfolgten deutschsprachigen Autoren umfasste u.a. Albert Einstein, Friedrich Engels, Sigmund Freud, Franz Kafka, Karl Marx, Rosa Luxemburg, Erich Maria Remarque, Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Joseph Roth, die Brüder Mann und Franz Wedekind. Zehntausende Exemplare von einer Liste von etwa 4.000 Titeln wurden auf den ersten Scheiterhaufen verbrannt.
Die Liste umfasste auch Werke französischer, britischer, irischer und amerikanischer Autoren wie Henri Barbusse, André Gide, Joseph Conrad, D.H. Lawrence, James Joyce, Oscar Wilde, Theodore Dreiser, Jack London und F. Scott Fitzgerald.
Unabhängig davon, ob die ukrainischen Nationalisten direkt von den Taten der Nazis inspiriert wurden – und auf einige von ihnen mag dies sehr wohl zutreffen – zeigt das Bücherverbot ihre extrem chauvinistische, antikommunistische und autoritäre Haltung.
Die New York Times schrieb am 7. Juni, mehr oder weniger zustimmend, die ukrainischen Behörden wollten ihr Land „entkolonialisieren“, indem sie die Namen von Straßen und U-Bahnstationen ändern, die an „die Geschichte des Russischen Reiches oder die Sowjetunion erinnern“. Natürlich wurde ein Großteil dieser schmutzigen Arbeit bereits nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 erledigt, doch jetzt versucht die ukrainische Regierung, sie zu vollenden.
Die Times zitierte den Kommentar des stellvertretenden Bürgermeisters von Lwiw, Andrij Moskalenko, der auch Leiter eines Ausschusses ist, der die Namen aller Straßen der Stadt überprüft hat: „Wir verteidigen unser Land auch an der kulturellen Front... Und wir wollen nichts mit den Mördern gemeinsam haben.“ Die Times schrieb: „Der Feind trägt den Namen Pawlow. Oder Tschaikowski. Oder Katharina die Große.“ Auch der Name des großen, in allen Teilen der Welt verehrten russischen Schriftstellers Leo Tolstoi wird von einer U-Bahnstation in Kiew verschwinden.
Anfang Juni erklärte der stellvertretende ukrainische Bildungsminister Andrij Witrenko, das Ministerium habe beschlossen, Tolstois Krieg und Frieden und alle anderen Werke, in denen die russische Armee „verherrlicht“ wird, aus dem Lehrplan zu streichen.
Witrenko erklärte gegenüber TV Ukraine 24: „Was die ausländische Literatur betrifft, so wird sie vollständig eliminiert... Beispielsweise Krieg und Frieden und dergleichen wird in der Ukraine nicht mehr in der Schule durchgenommen. Das bedeutet, alles was die ,Armee der Orks‘ verherrlicht, wird aus dem Programm verschwinden.“
Ironischerweise – oder auch nicht – hatten auch die Nazis Tolstoi und Dostojewski sowie Isaak Babel, Maxim Gorki, Wladimir Lenin, Wladimir Majakowski und Leo Trotzki ins Visier genommen.
Das Vorgehen der Ukraine ist sowohl böswillig wie auch absurd. Wie Al Jazeera vor kurzem erklärte: „Die Grenze zwischen dem, was und wer ukrainisch oder russisch ist, war oft fließend. Pjotr Tschaikowski, dessen Nussknacker-Suite zu einem festen Bestandteil der Weihnachtszeit gehört, oder Igor Strawinski, dessen 60-jährige Karriere die klassische Musik des Westens neu definiert hat, hatten ukrainische Wurzeln.“
Und was wollen die Behörden mit dem Schriftsteller und Kurzgeschichtenschreiber Nikolai Gogol tun, einem der unsterblichen Pioniere der russischen Literatur, der ukrainischer Herkunft war? Oder mit Michail Bulgakow? Oder Anna Achmatowa? Den sowjetischen Dichter Majakowski haben sie natürlich bereits verboten und sich damit die Blamage erspart, sich mit einer literarischen Persönlichkeit auseinanderzusetzen, dessen Mutter Ukrainerin war.
Die Säuberungen der ukrainischen Bibliotheken und der Kultur widerlegen für sich genommen bereits den Mythos, dass die von faschistischen Elementen durchsetzte Selenskyj-Regierung auch nur im Entferntesten irgendetwas „Demokratisches“ oder „Freiheitsliebendes“ an sich hätte.
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