Omikron BA.4 und BA.5 verschärfen aktuelle Corona-Welle in Europa und der Welt

Der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, mahnte am Mittwoch bei einer Pressekonferenz inmitten des jüngsten weltweiten Anstiegs der Corona-Infektionen: „Unsere Fähigkeit zur Nachverfolgung des Virus ist in Gefahr, weil die Zahl der Meldungen und Genomsequenzierungen zurückgeht. Das bedeutet, Omikron wird schwerer zu verfolgen und künftige sich anbahnende Bedrohungen werden schwerer zu analysieren sein.“ Diese Warnung wurde in einer Lage geäußert, in der die hochgradig ansteckenden Omikron-Subvarianten BA.4 und BA.5 weltweit vorherrschend geworden sind und 55 Prozent aller weltweit genommenen Proben ausmachen.

Laut Our World in Data nähert sich der gleitende Sieben-Tages-Durchschnitt der täglichen Neuinfektionen der Marke von 750.000 und liegt damit 60 Prozent über dem Tiefpunkt in der ersten Juniwoche. In vier der sechs WHO-Regionen – in Europa, Nord- und Südamerika (in Südamerika gibt es einen Anstieg um 24,6 Prozent), Südostasien und dem östlichen Mittelmeerraum – steigen die Fallzahlen. Europa verzeichnete den schnellsten Anstieg in diesem Zeitraum.

In der Woche bis zum 20. Juni wurden offiziell 4,5 Millionen Neuinfektionen gemeldet, d.h. ein Anstieg um 23 Prozent im Vergleich zur Vorwoche. Die Zahl der Todesfälle durch Covid-19 stieg in derselben Woche um mehr als 9.000, d.h. um mehr als acht Prozent, was der erste deutliche Anstieg seit dem Höchststand Anfang Februar war.

Der neuerliche Anstieg der Fallzahlen muss im Kontext der systematischen und nahezu flächendeckenden Beendigung aller Monitoring-Maßnahmen und Meldeverfahren zu Covid-19 verstanden werden. Das bedeutet, dass die Zahlen in Wirklichkeit noch deutlich höher liegen. In allen Ländern, in denen die Zahl der Infektionen sprunghaft ansteigt, steigt auch die Zahl der positiven Tests rasant an. In Deutschland waren Mitte Juni mehr als 41 Prozent aller Corona-Tests positiv, in Frankreich waren es mehr als 22 Prozent. Ein ähnlicher sprunghafter Anstieg der Positivraten ist in ganz Europa zu beobachten.

Our World in Data / CC BY 4.0 [Photo by Our World in Data / CC BY 4.0]

Ein weiterer, aussagekräftiger Maßstab der tatsächlichen Ausbreitung des Virus, die Prüfung von Abwasserproben, zeigt, dass die Virusübertragung in Madrid ein Rekordniveau erreicht hat. Die offiziellen Fallzahlen betragen derweil nur ein Viertel des Höchstwerts von Mitte Januar 2022.

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Da die Urlaubssaison in vollem Gange ist, wird erwartet, dass sich der Anstieg in den kommenden Wochen verstärken und den ganzen Sommer über anhalten wird. Der WHO-Generaldirektor für Europa, Dr. Hans Kluge, erklärte letzte Woche in einem Interview mit Agence France-Presse (AFP): „Da die Länder der gesamten Region Europa die bisherigen Gesundheitsmaßnahmen abgeschafft haben, wird sich das Virus im Sommer auf hohem Niveau ausbreiten. Das Virus wird nicht verschwinden, nur weil die Länder nicht mehr danach suchen. Es breitet sich weiterhin aus, es verändert sich weiterhin, und es fordert weiterhin Menschenleben.“

Mit diesen Äußerungen vollzieht Kluge eine Kehrtwende. Die erste Omikron-Welle im Januar hatte er noch als angeblichen Vorboten einer dauerhaften Immunität der Bevölkerung begrüßt. So erklärte er am 24. Januar: „Es ist plausibel, dass sich die Region auf eine Art Endphase der Pandemie zubewegt. Wir rechnen damit, dass es eine ruhige Periode geben wird, bevor Covid-19 Ende des Jahres zurückkehren könnte. Allerdings wird nicht unbedingt auch die Pandemie zurückkehren.“

Die 53 Staaten der WHO-Region Europa verzeichnen mittlerweile durchschnittlich fast 500.000 offizielle Neuinfektionen pro Tag, was einen überwiegenden Anteil der aktuellen globalen Infektionen ausmacht. Ende Mai lag die Zahl noch bei 150.000 Neuinfektionen pro Tag. Österreich, Zypern, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Luxemburg und Portugal verzeichneten in letzter Zeit die höchsten Fallzahlen. Wöchentlich sterben in ganz Europa etwa 2.500 Menschen an Covid-19, was mit den Zahlen vom Sommer 2020 vergleichbar ist, als noch keine Impfstoffe zur Verfügung standen.

Die aktuellen Entwicklungen in Griechenland veranschaulichen nachdrücklich, was sich in ganz Europa abspielt und bald in allen anderen Ländern, die eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus zugelassen haben. Am Montag vor einer Woche meldete die Nationale Organisation für Öffentliche Gesundheit (EODY) täglich fast 7.700 Fälle von Covid-19, d.h. doppelt so viele wie Anfang Juni. Einen Tag später meldete die EODY einen explosionsartigen Anstieg um mehr als 20.000 Neuinfektionen, wobei der gleitende Sieben-Tages-Durchschnitt bei über 13.000 lag; 15 Prozent davon sind Reinfektionen von Genesenen.

Die EODY wies auch darauf hin, dass es weitere 16 Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 gab, außerdem befinden sich 95 Patienten auf Intensivstationen. Die meisten von ihnen sind über 70 Jahre alt, viele haben mehrere Grunderkrankungen, die schwere Krankheitsverläufe begünstigen. Der Trend bei den Todesfällen in Griechenland steigt wieder an, obwohl mehr als 71 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sind. Ältere und geschwächte Menschen werden am meisten unter diesem Anstieg der Reinfektionen leiden, da sie durch ihre sinkende Immunität gegen das Virus stärker gefährdet sind als andere Bevölkerungsgruppen.

Auch Großbritannien erlebt eine weitere Welle von Infektionen und Hospitalisierungen. Die offizielle Zahl der Neuinfektionen ist im Vergleich zur Vorwoche um 34 Prozent gestiegen. Laut dem Office for National Statistics (ONS) hat sich einer von 30 Menschen mit Covid-19 infiziert. Nach den Daten des ONS haben sich etwa 1,8 Millionen Menschen infiziert, obwohl 98 Prozent der Bevölkerung durch frühere Impfungen oder Infektionen Antikörper besitzen. Schottland wird von der derzeitigen Welle am stärksten getroffen.

Der Sieben-Tages-Durchschnitt bei den Hospitalisierungen in Großbritannien hat fast 7.400 erreicht und liegt damit 45 Prozent über dem Tiefststand Anfang Juni. Der derzeitige Trend bei den Einweisungen wird sich bald den Höchstwerten nähern, die während der Delta-Welle verzeichnet wurden.

Der Virologe Dr. Stephen Griffin, außerordentlicher Professor an der Universität Leeds, erklärte gegenüber der Financial Times: „Impfungen verringern schwere Krankheitsverläufe, und Wellen wie die jetzige führen nicht mehr zu einem so starken Anstieg bei den Hospitalisierungen wie beispielsweise bei den Alpha-Varianten. Aber die klinischen Auswirkungen der ständig neuen Wellen, die wir jetzt erleben, sollten nicht unterschätzt werden.“

Tatsächlich nehmen die klinischen Auswirkungen von Long Covid, auch bekannt als postakute Folgekrankheit von Covid-19 (PASC), mit jeder neuen Infektionswelle zu. Dies wird unabsehbare Folgen für die Gesundheit der Gesamtbevölkerung haben, da sich die komplexen Wechselwirkungen zwischen dem Virus und den verschiedenen Organsystemen, einschließlich des Gehirns und der neurologischen Systeme kumulieren werden.

Das ständig wiederholte Mantra, das Coronavirus würde nur noch milde Krankheitsverläufe verursachen, wird zunehmend von der objektiven Realität widerlegt, in der Masseninfektionen und langfristige Beeinträchtigungen die Weltwirtschaft zutiefst destabilisiert und zu weltweitem Arbeitskräftemangel geführt haben. Am deutlichsten zeigt sich dies derzeit an der großen Zahl von ausgefallenen Flügen aufgrund von Personalmangel an den Flughäfen und bei den Fluggesellschaften. Laut dem Luftfahrtberatungsunternehmen Cirium sind im Juni, dem Beginn der Sommersaison in Europa, 7.870 Abflüge allein aus dem Vereinigten Königreich, Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien ausgefallen.

In den USA gaben die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) am Mittwoch bekannt, dass die Omikron-Subvarianten BA.4 (15,7 Prozent) und BA.5 (36,6 Prozent) mittlerweile landesweit die vorherrschenden Varianten sind. Voraussichtlich wird dies in den kommenden Wochen eine weitere Welle von Infektionen auslösen, nachdem sich der Sieben-Tages-Durchschnitt in den USA zuvor gerade erst bei mehr als 100.000 Neuinfektionen pro Tag eingependelt hatte. Die Positiv-Rate in den USA hat fast 14 Prozent erreicht, während sich die Zahl der Hospitalisierungen seit Mitte April auf durchschnittlich 33.600 mehr als verdoppelt hat. In den letzten beiden Wochen ist die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 um fast 50 Prozent auf 380 pro Tag gestiegen. Die Übersterblichkeit in Folge der Pandemie liegt mittlerweile bei landesweit 660 pro Tag.

Am Dienstag riet ein Expertenausschuss der Lebensmittel- und Arzneibehörde FDA, die Auffrischimpfungen an die zirkulierenden Subvarianten anzupassen. Die New York Times erklärte dazu vorsichtig: „Die Entscheidung des Gremiums schafft die Grundlage für die FDA, um die Hersteller dazu zu drängen, neu zusammengesetzte Booster-Impfungen rechtzeitig fertigzustellen, damit die Biden-Regierung sie Ende des Jahres, noch vor der erwarteten Winterwelle, anbieten kann.“ Diese erwartete Welle fällt mit der Zwischenwahl zusammen.

Die Vorstände des Impfstoffherstellers Moderna erklärten dem FDA-Ausschuss, das Unternehmen werde erst Ende Oktober oder Anfang November Omikron-spezifische Impfstoffe liefern können. Pfizer versprach derartige Impfstoffe bis Anfang Oktober. Die Regulierungsbeauftragten der FDA teilten die Meinung der Hersteller, dass ein spezifisch auf BA.4 und BA.5 zugeschnittener Impfstoff bis dahin bereits veraltet sein könnte. Dies unterstreicht die Tatsache, dass eine Strategie, die nur auf Impfungen setzt, zum Scheitern verurteilt ist.

Dr. Mark Sawyer von der UC San Diego School of Medicine, der auf Infektionskrankheiten spezialisiert ist, erklärte gegenüber der Times: „Wir sind alle beunruhigt über den stetigen Rückgang des Immunschutzes. Wenn wir noch länger warten, werden wir das Schlusslicht sein... Momentan ist es für die Hersteller wichtig zu wissen, was sie in ihren Impfstoff reintun müssen. In den kommenden Monaten werden wir meiner Meinung nach das Gefühl dafür bekommen, und es wird viel Zeit für Debatten darüber geben, wer für einen Booster am besten geeignet ist.“

Allerdings würde die Entwicklung von spezialisierten Auffrischimpfungen gegen BA.4 und BA.5 sowie Therapien der nächsten Generation Geldmittel von der Biden-Regierung erfordern, um den Produzenten ein Angebot machen zu können. Der Koordinator des Weißen Hauses für Covid-19, Dr. Ashish Jha, erklärte am Mittwoch: „Es gibt Behandlungen der neuen Generation, die jetzt auf den Markt kommen. Die Unternehmen, die sie anbieten, legen einige sehr vielversprechende Daten vor. [Allerdings] verhandelt weder die Regierung, noch sonst jemand in den USA mit den Unternehmen über diese Behandlungen, weil wir nicht die nötigen Mittel haben.“ Andererseits gibt es genug Geld, um den Nato-Stellvertreterkrieg gegen die Atommacht Russland in der Ukraine zu finanzieren. Erst am Donnerstag bekräftigte Präsident Joe Biden, dies werde so lange dauern, wie es nötig ist.

Darüber hinaus sind Geldmittel und die Erforschung von Pan-Coronavirus- und intranasalen Impfstoffen dringend erforderlich. Diese müssen jedoch im Rahmen einer Strategie koordiniert werden, die sicherstellt, dass nicht-pharmazeutische Maßnahmen zur Beendigung der endlosen Mensch-zu-Mensch-Übertragung des Virus getroffen werden und die Entwicklung neuer Virenstämme verhindert wird. Bei diesen Behandlungen müssen Beschäftigte des Gesundheitswesens und Patienten in Langzeitpflegeeinrichtungen, ältere Menschen und systemrelevante Arbeiter den Vorzug erhalten. Außerdem muss die Infrastruktur für Luftqualität und Belüftung dringend verbessert werden.

Außer dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI) fordert keine andere politische Strömung eine koordinierte Strategie zur weltweiten Eliminierung des Coronavirus, die das sinnlose Sterben und die gesundheitliche Beeinträchtigung von Millionen Menschen beenden würde.

WSWS-Autor Evan Blake, der den Global Workers’ Inquest zur Corona-Pandemie koordiniert, veröffentlichte letzte Woche ein wichtiges Video, das den Verlauf der derzeitigen Pandemiewelle und die notwendigen Maßnahmen gegen sie klar und prägnant schildert. Wir rufen alle Leser auf, dieses Video so weit wie möglich in ihren Betrieben und den sozialen Netzwerken zu teilen und am Aufbau einer internationalen Massenbewegung zur Beendigung der Pandemie teilzunehmen.

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