Am Montagnachmittag traf sich im Kanzleramt zum ersten Mal die Konzertierte Aktion. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte acht Vertreter der Gewerkschaften, acht der Wirtschaftsverbände, den Präsidenten der Bundesbank sowie ein Mitglied der Wirtschaftsweisen eingeladen, um über Reaktionen auf die galoppierende Inflation zu beraten. Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) nahmen an dem Treffen teil.
Offiziell ging es laut Kanzleramt darum, „reale Einkommensverluste zu verhindern bzw. abzumildern und gleichzeitig das Risiko einer Preisspirale abzuwenden“. Scholz sprach von einem „gesellschaftlichen Tisch der Vernunft“: Schwierige Probleme ließen sich im Miteinander besser lösen als im Gegeneinander.
Tatsächlich ist die Konzertierte Aktion eine Verschwörung gegen die Arbeiterklasse. Ihr wirkliches Ziel besteht darin, die horrenden Kosten der militärischen Aufrüstung sowie die Folgen der Nato-Offensive und des Wirtschaftskriegs gegen Russland auf die arbeitende Bevölkerung abzuwälzen und gleichzeitig zu verhindern, dass es zu Widerstand dagegen kommt.
Die Gewerkschaften spielen dabei eine Schlüsselrolle. Sie stellen ihren umfangreichen Funktionärsapparat zur Verfügung, um in enger Abstimmung mit Regierung und Unternehmen den umfangreichsten Lohn- und Sozialabbau seit den 1930er Jahren durchzusetzen.
Die offizielle Teuerungsrate liegt schon jetzt bei knapp acht Prozent und könnte laut Expertenmeinung bis zum Jahresende über zehn Prozent steigen. Die Lebensmittelpreise haben sich in einem Jahr um 12,7 und die Energiepreise um 38 Prozent erhöht. Ein Ende des Anstiegs ist nicht in Sicht. Sollte es zu einer vollständigen Einstellung russischer Gaslieferungen in diesem Jahr kommen – was angesichts der systematischen Eskalation des Kriegs von Seiten der Nato immer wahrscheinlicher wird –, rechnen Ökonomen mit einer schweren Rezession.
Unter diesen Umständen besteht die wichtigste Aufgabe der Konzertierten Aktion darin, die Arbeiter daran zu hindern, sich die massiven Reallohnverluste über Arbeitskämpfe für höhere Löhne zurückzuholen. Das versteht das Kanzleramt unter der vielbeschworenen „Lohn-Preis-Spirale“, die es unbedingt zu verhindern gelte.
Bundeskanzler Scholz und Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger hatten vor dem Treffen die Linie vorgegeben.
Scholz bezeichnete im ARD-Sommerinterview die explodierenden Preise als „sozialen Sprengstoff“. „Wenn plötzlich die Heizrechnung um ein paar hundert Euro steigt, dann ist das eine Summe, die viele nicht wirklich bewältigen können,“ sagte er.
Dulger machte deutlich, dass man es nicht bei den Entlastungspaketen der Bundesregierung belassen werde, die ohnehin nichts weiter als ein Tropfen auf den heißen Stein sind. Er drohte offen damit, Arbeitskämpfe zu unterdrücken. Die Warnstreiks von Hafenarbeitern in einer Zeit, in der die Unternehmen dringend Materialien bräuchten, hätten ihm sehr missfallen, erklärte er am Mittwochabend vor Journalisten in Berlin. Er forderte einen „nationalen Notstand“, der auch Streikrecht breche – also eine Art Kriegsrecht gegen Streikende.
„Die fetten Jahre sind jetzt erst mal vorbei“, begründete er seine Forderung. Deutschland sei viele Jahre durch eine „Wohlstands- und Wohlfühloase“ getaumelt, damit sei nun Schluss. „Wir müssen jetzt gemeinsam immer häufiger darüber reden: Was tun wir, dass unsere Wirtschaft weiter am Laufen bleibt?“
Nach dem Treffen der Konzertierten Aktion gaben Scholz, Dulger und DGB-Chefin Yasmin Fahimi auf einer Pressekonferenz kurze Statements ab, ohne Fragen zu beantworten. Alle drei priesen die enge Zusammenarbeit und bekräftigten, dass man sich zukünftig regelmäßig in diesem Format treffen werde. Zunächst sei es darum gegangen, sich ein „gemeinsames Verständnis“ über die Lage zu verschaffen. Später wolle man dann konkrete Maßnahmen beschließen.
Scholz stimmte die Zuhörer auf eine langanhaltende Krise mit hohen Preisen ein. „Die aktuelle Krise wird nicht in wenigen Monaten vorübergehen“, sagte er. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass sich diese Lage auf absehbare Zeit nicht ändern wird.“ Als Grund nannte er den Krieg in der Ukraine und die durch die Pandemie gestörten Lieferketten. „Wir werden als Land durch diese Krise nur gut durchkommen, wenn wir uns unterhaken, wenn wir gemeinsam uns auf Lösungen einigen,“ sagte er unter dem zustimmenden Nicken von Dulger und Fahimi.
Arbeitgeberpräsident Dulger sprach von harten Zeiten. „Dieses Land steht vor der härtesten wirtschafts- und sozialpolitischen Krise seit der Wiedervereinigung,“ erklärte er. „Vor uns liegen schwierige Jahre.“ Ein stetiges Wirtschaftswachstum wie vor der Corona-Krise und dem Ukrainekrieg sei keine Selbstverständlichkeit mehr, vor den Unternehmen und ihren Belegschaften lägen große Herausforderungen. Das Treffen habe dazu beigetragen, den „gesellschaftlichen Frieden“ zu wahren. „Wir können diese Krise nur gemeinsam bewältigen,“ betonte er.
DGB-Chefin Fahimi bedankte sich bei Scholz für die Einladung und betonte, dass nun eine „gemeinsame Kraftanstrengung“ erforderlich sei. Sie lobte die Pakete der Bundesregierung, die durchschnittliche Haushalte um eine „nennenswerte Summe“ entlasteten und „auf jeden Fall hilfreich“ seien. Man müsse nun dringend darüber reden, „wie die Energiekosten tatsächlich gehändelt werden können für die privaten Haushalte ebenso wie für die Betriebe“. Es gehe darum, „jetzt alles zu unternehmen, um eine Rezession zu verhindern, Standorte zu stabilisieren, Wertschöpfungsketten zu erhalten und Beschäftigung zu sichern“.
Das ist die Sprache einer Co-Managerin, die das Wirtschaftsleben aus derselben Perspektive betrachtet wie ein Aktionär oder Konzernchef. Mit keiner Silbe deutete Fahimi auch nur die Möglichkeit an, dass die Gewerkschaften für einen Inflationsausgleich an der Tariffront kämpfen werden. Man sei sich einig, betonte sie, dass die Gefahr einer „Lohn-Preis-Spirale“ faktisch nicht gegeben sei – was auch Dulger bestätigte.
Fahimi verkörpert jenen abgehobenen Gewerkschaftsapparat, der sich völlig ins Regierungs- und Unternehmerlager integriert hat und sich als Ordnungskraft gegenüber den Arbeitern versteht. Bevor sie an die Spitze des DGB gewählt wurde, war sie Generalsekretärin der SPD und Staatssekretärin im Arbeitsministerium. Ihr Lebenspartner ist Michael Vassiliadis, der Vorsitzende der Chemiegewerkschaft IG BCE.
Die notorisch rechte IG BCE hat für die 580.000 Beschäftigten der Chemienindustrie im Februar statt einer Tariferhöhung eine Pauschalzahlung von 1400 Euro vereinbart – ein Modell, dass auch Bundeskanzler Scholz befürwortet und sogar steuerfrei stellen will. Solche Pauschalzahlungen mindern zwar den unmittelbaren finanziellen Druck, führen aber zu einer massiven Reallohnsenkung, da sich langfristig das Lohnniveau nicht erhöhen.
Die Konzertierte Aktion, die Scholz nun wieder belebt hat, geht auf ein Vorbild aus dem Jahr 1967 zurück. Damals hatte SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller auf die erste Rezession in der Bundesrepublik, in der 500.000 Arbeiter ihre Stelle verloren, mit der Einberufung einer Konzertierten Aktion reagiert, die sich auf niedrige Lohnabschlüsse verständigte. In den folgenden beiden Jahren sanken die durchschnittlichen Reallöhne um jeweils 1,6 und 1 Prozent.
Die Arbeiter ließen sich das nicht gefallen. Im September 1969 erkämpften bundesweite wilde Streiks, über die die Gewerkschaften die Kontrolle verloren, massive Lohnerhöhungen. Die Gewerkschaften sahen sich gezwungen, selbst höhere Forderungen aufzustellen, um die Kontrolle wieder zurückzugewinnen.
Heute sind sie dazu nicht mehr in der Lage. Sie sind völlig zum Büttel der Konzerne degeneriert. Während sie weiterhin über einen mächtigen Apparat verfügen, um die Arbeiter einzuschüchtern, hat ihr Einfluss stark abgenommen. Die Mitgliederzahl aller DGB-Gewerkschaften ist von 11,8 Millionen im Jahr der Wiedervereinigung auf 5,73 Millionen geschrumpft. Laut einer jüngeren Untersuchung sind nur noch 26 Prozent der Betriebe und 51 Prozent der Beschäftigten in Deutschland an einen Flächen- oder Haustarifvertrag gebunden.
Löhne, soziale Errungenschaften und Arbeitsplätze können nur in einer Rebellion gegen die Gewerkschaften und ihre Politik der „Sozialpartnerschaft“ verteidigt werden. Notwendig ist der Aufbau von Aktionskomitees, die von den Arbeitern demokratisch kontrolliert werden.
Das Internationale Komitee der Vierten Internationale hat die Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees (International Workers Alliance of Rank-and-File Committees, IWA-RFC) ins Leben gerufen, um diesen Aktionskomitees eine Orientierung zu geben und sie international zu koordinieren.