Pandemie treibt Armut auf neuen Höchststand

Die Armutsquote in Deutschland hat 2021 mit 16,6 Prozent einen neuen Höchststand erreicht. 13,8 Millionen Menschen lebten in Armut, 600.000 mehr als vor Beginn der Corona-Pandemie. Das geht aus dem Armutsbericht 2022 des Paritätischen Gesamtverbands mit dem Titel „Zwischen Pandemie und Inflation“ hervor.

Erhebungszeitraum des Berichts ist das Jahr 2021. Die Armutsschwelle lag für einen Single-Haushalt bei 1148 Euro, für Alleinerziehende mit einem Kind bei 1492 Euro und für einen Paarhaushalt mit zwei kleinen Kindern bei 2410 Euro. Die Auswirkungen des dramatischen Anstiegs der Inflation seit Beginn des Jahres sind in dem Bericht nicht berücksichtigt.

Seit 2006 weist der Trend in den jährlichen Armutsberichten nach oben. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, erklärte dazu bei der Vorstellung des Berichts: „Der aktuelle Armutsrekord ist die Spitze eines Trends, der Deutschland seit nunmehr 15 Jahren fest im Griff hat. 2006 setzte dieser Trend ein. Die Armutsquote stieg seitdem trotz aller wirtschaftlichen Erfolge dieser Republik von 14 auf 16,6 Prozent. Die Zahl der Armen nahm in diesen 15 Jahren um über 2 Millionen Menschen zu – von 11,5 auf 13,8 Millionen.“

Flaschensammler, ein häufiger Anblick in Deutschland (Bild: Sascha Kohlmann / CC BY-SA 2.0) [Photo by Sascha Kohlmann / CC BY-SA 2.0]

In den beiden Pandemie-Jahren 2020 und 2021 beschleunigte sich dieser Trend. Die Armutsquote kletterte von 15,9 auf 16,6 Prozent. „Dies ist der steilste Anstieg innerhalb von zwei Jahren, der mit dem Mikrozensus je gemessen wurde,“ wie Schneider erläuterte. „Noch nie hat sich in der jüngeren Zeit Armut in Deutschland so rasant ausgebreitet wie während der Pandemie. Die Zunahme ist beispiellos.“

Vor allem 2021 schlugen die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie voll auf die Armutsentwicklung durch. 2020 war die Armut von 15,9 auf 16,1 Prozent gestiegen.

Auffallend ist dabei der starke Zuwachs von Armut unter Erwerbstätigen und insbesondere unter Selbständigen. Bei Letzteren erhöhte sich die Armutsquote um 46 Prozent, sie stieg von 9 auf 13,1 Prozent. Auch zahlreiche andere Berichte bestätigen, dass viele Selbständige während der Pandemie finanzielle Einbußen erlitten.

Aber auch unter abhängig Beschäftigten – also Menschen, die trotz Arbeit arm sind – stieg die Armut während der Pandemie ungewöhnlich stark von 7,9 auf 8,4 Prozent. Ausschlaggebend dafür waren Einkommensverluste durch Kurzarbeit und die Tatsache, dass Beschäftigte mit geringem Erwerbseinkommen am stärksten von pandemiebedingten Einkommensverlusten betroffen waren.

Dazu kommt der rapide Anstieg von Teilzeitarbeit. „Es kann vermutet werden, dass auch hier pandemiebedingte Arbeitszeitreduzierungen mit entsprechenden Lohneinbußen eine Rolle spielten,“ heißt es in dem Bericht.

Auch die Armut unter Rentnerinnen und Rentnern sowie unter Kindern und Jugendlichen erreichte 2021 mit 17,9 und 20,8 Prozent einen neuen Höchststand. Mehr als jedes fünfte Kind und jeder fünfte Jugendliche wuchsen 2021 in Armut auf.

„Es ist ein Rekord an Altersarmut und ein neuer Rekord der Kinderarmut, der sich in der Statistik abbildet. Noch nie sind im Mikrozensus höhere Werte gemessen worden. Die Kinderarmut spiegelt sich dabei – wie schon in den Jahren zuvor – vor allem in der Armutsquote von Alleinerziehenden mit über 40 Prozent und von Kinderreichen mit über 30 Prozent wider,“ heißt es in der Erklärung zum Armutsbericht.

Nichterwerbstätige und Personen mit niedrigem Bildungsniveau sind ebenfalls überproportional von Armut betroffen. Das gleiche gilt für Menschen mit Migrationshintergrund (28,1 Prozent) und ohne deutsche Staatsangehörigkeit (35,3 Prozent). Die Armutsquote unter Studierenden beträgt 30 Prozent.

Auch regional ist die Armutsentwicklung unterschiedlich stark ausgeprägt. Bayern und Baden-Württemberg haben mit 12,6 und 13,9 Prozent die niedrigsten Armutsquoten, Nordrhein-Westfalen (18,7), Thüringen (18,9), Sachsen-Anhalt (19,5) und Berlin (19,6) liegen weit über dem Durchschnitt, Bremen ist mit 28 Prozent Spitzenreiter.

Wie bereits in einem früheren Bericht ist das Ruhrgebiet die armutspolitische Problemregion Nr. 1. In dem mit 5,8 Millionen Einwohnern größten Ballungsraum Deutschlands lebt mehr als jeder Fünfte (1,2 Millionen) in Armut. Wäre das Ruhrgebiet ein eigenes Land, läge es mit einer Armutsquote von 21,1 Prozent vor Bremen auf dem vorletzten Platz.

Die hohe Armutsquote im Ruhrgebiet geht mit einer exorbitanten Zahl von Hartz IV-Beziehern einher. Lag die Hartz IV-Quote 2021 bundesweit bei 8,1 Prozent, waren es im Ruhrgebiet 14,4 Prozent, in Städten wie Duisburg, Essen, Herne über 18 Prozent und in Gelsenkirchen sogar 24,4 Prozent.

Noch dramatischer stellen sich die Zahlen für Kinder und Jugendliche dar: 22,9 Prozent der Minderjährigen im Ruhrgebiet bezogen 2021 Hartz IV. In Essen waren es sogar 30 und in Gelsenkirchen 39 Prozent.

Ähnlich dramatisch ist die Lage in einigen anderen Großstädten. So ist Berlin seit vielen Jahren als Hauptstadt der Armut bekannt.

Die Erklärung zum Armutsbericht gelangt zum Schluss: „Die Armut hat in den Pandemie-Jahren sprunghaft zugenommen. Nie hatten wir seit der Vereinigung mehr Armut, nie war Deutschland gespaltener.“

Dabei sind die seit Herbst 2021 steigenden Lebenshaltungskosten noch kaum berücksichtigt. Bei einer Inflationsrate von 7,9 Prozent im Mai habe ein Hartz IV- oder Altersgrundsicherungs-Regelsatz von 449 Euro im Vergleich zum Vorjahr gerade noch eine Kaufkraft von 414 Euro. „Menschen, die von Grundsicherung leben müssen – und das sind rund sieben Millionen Menschen – wissen nicht mehr ein noch aus.“

Von Grundsicherung leben müssen rund sieben Millionen Menschen. Dazu kommen mindestens noch einmal so viele, die wegen niedriger Löhne und Einkommen nur knapp darüber liegen. Auch sie wissen nicht, wovon sie am Ende des Monats leben sollen. Und das war schon so, bevor die Kosten für Strom, Heizung und Lebensmittel explodierten. 1,6 Millionen Menschen sind gezwungen, sich regelmäßig Lebensmittel bei den Tafeln zu holen, die den Ansturm von Hilfesuchenden kaum noch bewältigen können.

Wie Schneider erklärte, schützen „unsere Transferleistungen die Menschen ganz objektiv nicht mehr vor Armut“. Der extreme Anstieg der Lebenshaltungskosten berge „die ganz große Gefahr, dass Deutschland am unteren Ende der Einkommensskala schlicht zerbricht“.

Der Paritätische Gesamtverband kritisiert das Entlastungspaket der Ampelkoalition, weil es die wachsende Armut nicht zielgerichtet bekämpft. Ausschließlich an einkommensschwache Haushalte fließen lediglich 2 der 29 Milliarden Euro. Diese sind völlig unzureichend und werden in kürzester Zeit von der Inflation aufgefressen. So erhalten Grundsicherungsbezieher eine Einmalzahlung von 200 Euro und Kinder, die von Hartz IV leben müssen, lächerliche 20 Euro im Monat. Auch die Heizkostenzuschüsse für Wohngeld- und BAföG-Bezieher reichen nicht aus.

Der Bericht weist darauf hin, dass fast die Hälfte der Bevölkerung über keine nennenswerten Ressourcen in Form von Vermögen verfügt und dass jeder Fünfte im Niedriglohnsektor arbeitet.

Die Einmalzahlungen aus dem Entlastungspaket sind daher weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein. Die explodierenden Strom- und Energiekosten sind für den größten Teil der Arbeiterklasse und selbst für Teile der Mittelschichten nicht mehr zu bezahlen. Gegenwärtige Berechnungen gehen davon aus, dass sich die Abrechnungen für Heizkosten, Strom und Gas zum Jahresende verdoppeln und verdreifachen werden.

Bei einem völligen Ausfall der Gaslieferungen aus Russland, den die EU und die Bundesregierung mit ihren Sanktionen gegen Russland heraufbeschwören, rechnet Mona Neubaur (Grüne), die neue Wirtschafts- und Energieministerin von Nordrhein-Westfalen, mit einer Versechsfachung der Preise für Gas, wie sie am 30. Juni im Landtag erklärte. Gas und Energie würden dann für die meisten Menschen unbezahlbar.

Die Armut hat in den letzten zwei Jahren weltweit stark zugenommen. Schuld daran ist nicht allein die Pandemie als solche, sondern ihre Ausnutzung durch die kapitalistischen Regierungen, um eine beispiellose Umverteilung des Reichtums von unten nach oben durchzuführen. Mit Ausnahme Chinas war keine Regierung bereit, den Virus mit umfangreichen Lockdowns und weiteren Schutzmaßnahmen zu stoppen und zu eliminieren und angemessene Ausgleichszahlungen für die betroffenen Arbeiter zu leisten. 20 Millionen Menschen mussten bisher die kriminelle Profite-vor-Leben-Politik der herrschenden Klasse mit dem Leben bezahlen.

Gleichzeitig warfen die Notenbanken die Geldpresse an. Hunderte von Milliarden Euros und Dollars wurden den Konzernen und Banken in den Rachen geworfen, was zu einem beispiellosen Zuwachs des Reichtums an der Spitze der Gesellschaft und zum Anstieg der Inflation geführt hat.

Laut dem aktuellen Oxfam-Bericht haben die zehn reichsten Personen in Deutschland ihr „kumuliertes Vermögen seit Beginn der Pandemie von etwa 144 Milliarden auf etwa 256 Milliarden US-Dollar gesteigert“. Laut der französischen Unternehmungsberatung Capgemini ist während der Pandemie die Zahl der Millionäre in Deutschland um rund 100.000 auf 1,63 Millionen gewachsen. Viele Konzerne verzeichneten trotz Pandemie Rekordprofite.

Die Arbeiterklasse soll durch brutale Kürzungen, Arbeitslosigkeit und Lohnsenkungen dafür sowie für die 100 Milliarden Euro zur Aufrüstung der Bundeswehr bezahlen. Die Milliarden für Pandemie, Rüstung und Krieg werden mittels Inflation und Lohnsenkung aus der Arbeiterklasse herausgepresst.

Immer breitere Schichten der Arbeiterklasse gelangen zur Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen kann. Soziale Proteste und Aufstände haben in vielen Ländern begonnen. Eine gemeinsame internationale sozialistische Perspektive ist notwendig, um sie zum Erfolg zu führen.

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