Griechenland zwingt Flüchtlinge zur Teilnahme an brutalen Pushbacks in die Türkei

Die griechischen Grenzbehörden versklaven Asylsuchende und zwingen sie, an illegalen „Pushback“-Einsätzen der Polizei teilzunehmen, die verzweifelte Flüchtlinge zurück über die Grenze in die Türkei drängen. Dabei wird den beteiligten Flüchtlingen die Durchreise nach Europa versprochen.

Sechs Asylbewerber, die an Pushback-Aktionen entlang des Grenzflusses Evros im Nordosten Griechenlands teilgenommen haben, machten Aussagen für eine Investigativrecherche von Guardian, Lighthouse Reports, Le Monde, Der Spiegel und ARD Report München. Die Journalisten befragten auch griechische Polizeibeamte und Bewohner der umliegenden Städte und Dörfer.

Die Medien veröffentlichten ihre einmonatige Untersuchung gleichzeitig am 28. Juni, unter anderem in diesem Video der ARD sowie in griechischer Sprache auf der Website Reporters United. Die Enthüllungen bestätigen zahlreiche Berichte über den Einsatz von „Stellvertretern“ bei Pushback-Operationen, zuletzt in einem im April veröffentlichten Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.

Die Zahl der Pushbacks hat seit 2020 zugenommen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat seither fast 540 Vorfälle an den griechischen Land- und Seegrenzen registriert. Dies ist aber nur ein Bruchteil der Zurückweisungen, die stattgefunden haben. Die Nichtregierungsorganisation Aegean Boat Report, die die Pushback-Aktionen der griechischen Regierung an der griechisch-türkischen Seegrenze dokumentiert, verzeichnete allein im letzten Monat 81 Fälle.

Griechische Polizisten und Soldaten attackieren Flüchtlinge an der griechisch-türkischen Grenze in Kastanies, Region Evros, 7. März 2020 (AP Photo/Giannis Papanikos) [AP Photo/Giannis Papanikos]

Unter den von der Polizei eingesetzten Flüchtlingen war Bassel M. aus Syrien, Ende 20. Er wurde mit einer Gruppe von Syrern Ende 2020 festgenommen, nachdem sie den Fluss Evros in einem Schlauchboot überquert hatten. Der Spiegel berichtet: „Die Beamten, so schildert es der Syrer, hätten auf die Geflüchteten eingeschlagen, dann hätten sie sie in einem Auto ohne Nummernschild auf eine Polizeistation in der Grenzstadt Tychero gekarrt. Die Geflüchteten mussten sich laut Bassel M. ausziehen, die Polizisten hätten ihnen ihre Telefone abgenommen, ehe sie sie in eine Zelle gesperrt hätten, gemeinsam mit 150 weiteren Gefangenen.“   

Auf der Polizeiwache wurde Bassel laut Lighthouse Reports vor eine „entsetzliche Wahl“ gestellt. Ihm wurde mit einer Anklage wegen Schmuggels gedroht, weil er Englisch sprach: „Sie sagten ihm, sein einziger Ausweg sei, die Drecksarbeit der Griechen für sie zu erledigen. Er würde tagsüber eingesperrt und nachts freigelassen werden, um seine eigenen Landsleute und andere verzweifelte Asylbewerber zurückzudrängen. Im Gegenzug würde er eine Reiseerlaubnis erhalten, die es ihm ermöglichen würde, aus Griechenland nach Westeuropa zu fliehen.“

Bassel wurde gesagt, die „Arbeit“ sei unbezahlt, aber „er könne sich von den Habseligkeiten der Migranten etwas aussuchen“, so der Guardian. Ähnlich äußerten sich andere befragte Flüchtlinge. Sie seien von der Polizei geschlagen worden, wenn etwas schief ging.

„Sie haben mich zum Sklaven gemacht, damit ich ihre Arbeit mache und damit sie ihr Leben nicht riskieren“, so Bassel in der ARD-Reportage. „Ich nenne die damalige Zeit die Zeit der Sklaverei.“

Auf der Grundlage der eingegangenen Zeugenaussagen beschrieb Reporters United mit erschreckenden Details, was während einer Pushback-Operation vor sich geht:

Nachts transportierte die Polizei die „Sklaven“ und die Migranten, die zurückgeschoben werden sollten. Die „Sklaven“ bereiteten die Boote unter der Aufsicht der bewaffneten Polizisten vor. Während der Pushbacks zwangen die Grenzschutzmitarbeiter die Migranten oft, sich vollständig auszuziehen, und wenn sie feststellten, dass sie noch Geld bei sich hatten, nahmen sie es an sich und schlugen sie. Diese Praxis wurde von einer Polizeiquelle bestätigt. Danach kam der schwierige Teil, den Fluss zu überqueren. Bassel erzählte, dass er das Seil an einem Baum auf der türkischen Seite des Flusses festbinden musste, um das Boot zu ziehen. Die „Sklaven“ führten die Migranten dann auf die Boote. In der Regel waren es 20 pro Fahrt (18 Asylsuchende und zwei „Sklaven“, einer vorne und einer hinten im Boot), bis alle Migranten wieder übergesetzt waren. Bassel sagte, er habe Menschen im Fluss ertrinken sehen. 

Einige der aufgegriffenen und zur Teilnahme an Pushbacks gezwungenen Asylbewerber wurden zu diesem Zweck von Menschenschmugglern angelockt, die sie den griechischen Grenzbeamten übergaben. Das war das Schicksal von drei der befragten Asylbewerber, die in der Polizeistation von Neo Cheimonio festgehalten wurden. Nach Angaben von Reporters United „zahlten sie jeweils 5.000 Euro an einen Mittelsmann in Istanbul, der sie mit einem Schleuser in Kontakt brachte, der sie über die Grenze von der türkischen auf die griechische Seite brachte. Dort wartete ein anderer Syrer, der sich ‚Mike‘ nannte, um sie in Begleitung der Polizei abzuholen. Ihre Zusammenarbeit mit der griechischen Polizei hatte gerade erst begonnen. Zwei der drei sagten, dass sie nicht wussten, was von ihnen verlangt werden würde, bevor sie nach Griechenland kamen. Der dritte sagte, er wisse es.“

„Mike“ arbeitet Berichten zufolge direkt für die griechische Polizei als Anwerber und Koordinator von Migranten, die bei Pushbacks eingesetzt werden. Er lebt in einem Container auf dem Gelände der Polizeistation im Grenzdorf Neo Cheimonio. Laut Reporters United sind „Mike und sein Bruder, der ebenfalls in den Menschenhandel verwickelt ist, in Syrien mehrfach wegen Treibstoff- und Menschenschmuggels angeklagt“.

Das Ausmaß der Operation ist so groß, dass sie in den umliegenden Städten und Dörfern weithin bekannt ist. Nach Angaben von Reporters United sprechen Anwohner offen von „Migranten, die mit der Polizei zusammenarbeiten“. Sie sagten, man könne sie „bei der Arbeit in der Nähe des Flusses“ oder „in der näheren Umgebung sehen, oft maskiert und in Begleitung von Polizeibeamten, wenn sie Vorräte wie Zigaretten, Kartoffelchips und Croissants kaufen, bevor sie zu den Pushback-Aktionen gehen – nachts, damit sie von den Türken nicht entdeckt werden.“

Diese Praxis, Migranten zur Teilnahme an Pushbacks zu zwingen, wird von der Regierung gebilligt. Laut Reporters United hat ein Polizist der Untersuchung berichtet, dass diese „Idee den Politikern vorgeschlagen wurde, um die Beamten vor einer direkten Beteiligung an Pushbacks zu schützen, da sie befürchten, durch Scharmützel mit den türkischen Streitkräften oder mit Schmugglern in Gefahr zu geraten“.

Auf diese Enthüllungen, die belegen, dass ein EU-Mitgliedsland massiv in staatlich geförderte Kriminalität verwickelt ist, reagierte die EU nur mit einer oberflächlichen Erklärung der Sprecherin der EU-Kommission für Migrationsfragen, Anitta Hipper. Sie forderte Griechenland auf, die Vorfälle zu untersuchen. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock setzte einen heuchlerischen Tweet ab, in dem sie erklärte, die Ereignisse in Evros und Melilla seien „nicht zu ertragen“.

Tatsächlich werden die Pushback-Operationen aber nicht gegen den Willen der EU durchgeführt, sondern mit ihrer direkten Zustimmung und Beteiligung. Besonders die deutsche Regierung spielt eine führende Rolle bei der kriminellen Abschottungspolitik in der Ägäis.

Eine kürzlich von Lighthouse Reports durchgeführte Untersuchung ergab, dass die Europäische Grenzschutzagentur Frontex zwischen März 2020 und September 2021 an mindestens 22 bestätigten Pushback-Operationen in der Ägäis beteiligt war, wobei die tatsächliche Zahl zehnmal höher sein könnte.

Die Medien richteten schriftliche Anfragen an die griechische Regierung und die Behörden, die unbeantwortet blieben. Der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis verteidigte nach den Enthüllungen erneut die Flüchtlingspolitik seiner Regierung und sprach in Bezug auf die Pushbacks von „türkischer Propaganda“.

Insgesamt haben die griechischen Mainstream-Medien kaum über die Recherchen berichtet. Auch die pseudolinke Syriza, die größte Oppositionspartei, hüllte sich weitgehend in Schweigen. Die Recherchen wurden nur von Kostas Arvanitis, einem Syriza-Mitglied des Europäischen Parlaments, kommentiert, der sagte, „diese erschreckenden Enthüllungen verlangen hier und jetzt konkrete, verantwortungsvolle und überzeugende Antworten“. Er behauptete, dass „die EU wiederholt ihre Besorgnis zum Ausdruck gebracht hat“.

Dabei ist Syriza selbst für den Tod Tausender Flüchtlinge verantwortlich. Als sie zwischen 2015 und 2019 an der Regierung war, errichtete sie auf Geheiß der EU Internierungslager für Flüchtlinge, die vor Not und Verfolgung fliehen. Das berüchtigtste Lager befand sich in Moria auf der Insel Lesbos, das von der BBC als das schlimmste Flüchtlingslager der Welt bezeichnet wurde, bevor es im September 2020 niederbrannte.

Gestern entschied der Europäische Menschenrechtsgerichtshof, dass Griechenland wegen unterlassener Hilfeleistung Entschädigungsgelder von 330.000 Euro an Flüchtlinge zahlen muss. Das Urteil bezieht sich auf ein Bootsunglück vor acht Jahren, bei dem elf Menschen gestorben waren. Am 20. Januar 2014 war in Anwesenheit der griechischen Küstenwache nahe der Insel Farmakonisi vor der türkischen Küste ein Holzkahn mit mehr als 20 Flüchtlingen gekentert, ohne dass die griechischen Beamten angemessene Hilfe leisteten oder Verstärkung holten.

Zwar ist das Gerichtsurteil nur ein kleiner Trost für die Überlebenden und Angehörigen, die geklagt hatten. Aber es legt offen, wie seit Jahren hilflose Menschen, die aus Kriegsgebieten und Armutsgebieten fliehen, der tödlichen Flüchtlingspolitik der EU zum Opfer fallen. Laut Statista sind seit 2014 bis Mitte Juni dieses Jahres schon mehr als 24.000 Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken. Die Dunkelziffer liegt mit Sicherheit weitaus höher.

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